Bodycheck - Eine neue Kolumne zu Biopolitik und Alltag

Berechtigte Angst vor dem Heim

Intensivpflegegesetz und Heimunterbringung
Kolumne Von

Die Behindertenbewegung hat in der vergangenen Woche einen bedeutenden Erfolg errungen – die Beteiligten sind jedoch ernüchtert, frustriert und wütend. Am Donnerstag vergangener Woche hat der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsparteien CDU, CSU und SPD das Intensivpflegegesetz (IPReG) beschlossen. Fast ein Jahr lang hatte die Behindertenbewegung heftig dagegen gekämpft und mit jeder Überarbeitung Verbesserungen erzielt. Sah der erste Entwurf noch vor, dass alle volljährigen Menschen, die einen intensiven Pflege- und Beatmungsbedarf haben, in vollstationären Pflegeeinrichtungen versorgt werden müssen, wurde nun beschlossen, dass die Krankenkassen die »berechtigten Wünsche« der Betroffenen beachten müssen, zu Hause zu leben und ambulant gepflegt zu werden. Weil die Kampagne gegen den Gesetzentwurf in den sozialen Medien so erfolgreich war, wurde sogar der Name des Gesetzes geändert. Man wollte die unschöne Abkürzung RISG (Reha- und Intensivpflegestärkungsgesetz) loswerden.

Immer wieder hatte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beteuert, selbstverständlich wolle man Menschen mit Behinderung nicht gegen ihren Willen ins Heim stecken. Aber wer sollte das glauben? Nur jemand, der privat versichert oder reich ist. Vielleicht jemand, der oder die den Institutionen vertraut und denkt, dass sie den Bürgern dienen. Sicherlich jemand, die oder der keine Erfahrung damit hat, den Entscheidungen anderer ausgeliefert zu sein. Vermutlich Leute, die sich in dem biopolitischen Machtgefälle zwischen denen, die entscheiden können, »sterben zu machen oder leben zu lassen« (Foucault), und denen, über die entschieden wird, auf der sicheren Seite wähnen.

Glauben kann das jedenfalls niemand, der oder die bereits Erfahrung mit Besuchen des medizinischen Dienstes oder mit der Genehmigungspraxis von Krankenkassen oder Ämtern gemacht hat – ein abendfüllendes Thema in der Zeit, als man noch bis spät in die Nacht mit Freunden und Flaschen um den Tisch saß. Es gibt unzählige Geschichten von abgelehnten Anträgen, von abwertender Behandlung, von Wartezeiten und Ignoranz, von Dienst nach Vorschrift und von weit auseinanderklaffenden Einschätzungen dazu, welche Wünsche und Bedürfnisse als berechtigt gelten können. Die Abhängigkeit vom Sachbearbeiter, die Angst vor der Ablehnung, die Sorge, lebensnotwendige oder gesundheitserhaltende Maßnahmen und Mittel erst nach Widersprüchen oder gar Gerichtsverfahren zu bekommen – das ist Alltag für Menschen, die auf Leistungen des Sozialstaats angewiesen sind.

Ohne die Kämpfe der Bewegung »Selbstbestimmt Leben« seit den achtziger Jahren würde die Heimunterbringung oder das Verbleiben in der Familie weiterhin als geradezu natürliche Lebensform von Menschen mit Behinderung gelten. Dass diese in Sondereinrichtungen am Besten aufgehoben seien, ist weiterhin eine verbreitete Meinung, nicht zuletzt bei Sonderpädagogen und Beschäftigten von Behindertenwerkstätten. Die für ein selbstbestimmtes Leben notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und damit die berechtigten Wünsche der Betroffenen ernst zu nehmen, ist jedenfalls weiterhin keine Selbstverständlichkeit.

Die Ängste der Betroffenen für unbegründet zu halten, zeugt von wenig Ahnung, wie das Gesundheitssystem in der Praxis funktioniert. Das ist für einen Gesundheitsminister eher schlecht. Spahn beschuldigte die Betroffenen, ihre Unterstützerinnen und Unterstützer sowie die Opposition immer wieder, völlig unnötig Angst vor dem neuen Gesetz zu schüren. Das ist insofern richtig, als die Aufklärung über das geplante Vorhaben und dessen Konsequenzen Menschen Angst gemacht hat, die sie sonst nicht gehabt hätten. Klar: Wer versucht, Politik nach dem Motto »Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß« zu machen, findet es störend, wenn sich die Betroffenen dieser Politik informieren und einmischen.

Die Anschuldigung ist allerdings eine groteske Verdrehung von Ursache und Wirkung, denn die Angst ist berechtigt – und der Gesundheitsminister ist dafür verantwortlich: Er hatte seit einem Jahr die Möglichkeit, seine ständige Beteuerung, es gehe gar nicht um Menschen mit Behinderung, wahr zu machen. Bei jeder Überarbeitung des Gesetzes wäre es möglich gewesen, dieses so zu formulieren, dass es tatsächlich nur auf rekonvaleszente Beatmungspatienten Anwendung finden kann und eben nicht auf Menschen mit Beeinträchtigungen, die auch Beatmung brauchen.

Wessen Angst ernst genommen und welche klein- und weggeredet wird – daran erkennt man Herrschaftsverhältnisse. Ängste vor einem Leben im Heim haben viele Menschen, die meisten reagieren darauf, indem sie diese verdrängen und sich einbilden, dass es ihnen schon gelingen werde, später ihre Töchter oder Schwiegertöchter dazu zu bewegen, sie zu Hause zu pflegen, oder genug zu verdienen, um entrechtete Pflegekräfte aus Osteuropa dafür anzuheuern. Menschen mit Behinderung können diese Bedrohung nicht so einfach verdrängen, und mit der Verabschiedung des IPReG ist sie noch einmal größer geworden.

Die Behindertenbewegung hat gegen das IPReG einen großartigen Abwehrkampf geführt. Wenn mehr Menschen ohne Behinderung ihre Ängste vor den bekannten menschenunwürdigen Zuständen in Heimen, die gerade in Coronazeiten in vielen Ländern zu Todesfallen wurden, hätten konfrontieren können, wäre auch ein tatsächlicher Sieg möglich gewesen.