Anatole Dolgoffs Buch »Links der Linken«

Nachricht von Sam

Anatole Dolgoff porträtiert seinen Vater Sam Dolgoff, der Malerarbeiter, Anarchist und Wobbly war, und erzählt eine subjektive Geschichte der radikalen Arbeiterbewegung in den USA im 20. Jahrhundert.

Das Cover des gerade auf Deutsch erschienenen Buchs »Links der Linken« von Anatole Dolgoff zeigt dessen Vater Sam Dolgoff, einen Mann mit Brille und einem verschmitzten Lachen. Geboren 1902 in einem weißrussischen Schtetl, wanderte er als Kind mit seinen Eltern in die USA aus und gehörte zu den Mitgründern der Industrial Workers of the World (IWW), deren Mitglieder oft als Wobblies bezeichnet werden. Zusammen mit seiner Ehefrau Esther stand er lange Zeit im Zentrum des US-amerikanischen Anarchismus und Anarchosyndikalismus. Bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1990 veröffentlichte er Texte und hielt Reden. Noch zu Lebzeiten verfasste er eine Bilanz seines Lebens, die 1986 unter dem Titel »Fragments: A Memoir« erschien. Als 2011 die deutsche Übersetzung des Buchs unter dem Titel »Anarchistische Fragmente. Memoiren eines amerika­nischen Anarchosyndikalisten« herauskam, wurde es in anarchistischen Kreisen mit Kritik überhäuft. »Der alte Herr hat nochmal fleißig aus dem Nähkästchen geplaudert – was man durchaus ambivalent ­betrachten kann«, schrieb Sebastian Kalicha in einer auf dem Blog kritisch-lesen.de veröffentlichten Rezension. Er warf Dolgoff vor, sich in Anek­doten zu verlieren und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter ­wegen kleiner Differenzen zu verurteilen.

Auch Dolgoffs Sohn Anatole war unzufrieden mit der Veröffentlichung. Sein Vater habe eigentlich gar keine Biographie schreiben wollen, er sei von ehemaligen Aktivisten, die längst in akademischen Berufen arbeiteten, dazu gedrängt worden. Allerdings habe er viel zu wenig Zeit zum Schreiben gehabt. Anatole Dolgoff war der Meinung, sein Vater habe ein besseres Erinnerungsbuch verdient. Ein solches hat er kurzerhand selbst verfasst und 2016 unter dem Titel »Left of the Left« in den USA veröffentlicht. Jetzt ist das Buch im Verlag Graswurzelrevolution unter dem Titel »Links der Linken – Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbewegung« auf Deutsch erschienen.

Das Buch porträtiert nicht nur einen Arbeiterintellektuellen, sondern erinnert auch an die fast vergessene Geschichte der Arbeitermilitanz im 20. Jahrhundert. Der Autor betont, dass er weder eine chronologische Biographie noch eine objektive Chronik der Bewegung verfassen wollte. Über weite Strecke handelt es sich um die Auseinandersetzung des Sohnes mit seinen Eltern, die sich leidenschaftlich für die Gewerkschaft und die anarchosyndikalistische Bewegung engagierten. Was das für die beiden Söhne bedeutete, schildert er mit einer großen Portion Humor. Es war keineswegs so, dass die Familie nur ab und zu mal zu Demonstrationen und Veranstaltungen ging und ansonsten ein bürgerliches Leben führte. Ein Privatleben gab es nicht. Die enge Wohnung der Dolgoffs war Herberge für Menschen, die aus der Sowjetunion, Kuba oder Spanien fliehen mussten. Hier wurde diskutiert und gefeiert, durchaus nicht immer zur Freude der beiden Söhne.

Anatole Dolgoff, ein mittlerweile emeritierter Physikprofessor, beschreibt auch die Geschichte seiner Entfremdung vom Herkunftsmileu seiner Eltern, die stets Wert auf ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft legten. Sam Dolgoff war Anstreicher und eignete sich seine Kenntnisse in Geschichte und Philosophie autodidaktisch an. Die Dolgoffs verheimlichten ihre Gegnerschaft zum Kapitalismus und zum Staat nie. Auch Sams Frau Esther war eine Anarchistin; sie weigerte sich beispielsweise, vor der US-Flagge zu salutieren, und brachte damit ihren Sohn bei einer Schulfeier in eine peinliche Situation. Anatole musste sich rechtfertigen, weil seine Mutter nicht aufgestanden war, als die Fahne ­gehisst wurde. Erst Jahrzehnte später verstand er seine Eltern besser und nahm wieder engeren Kontakt mit ihnen auf.

In dem Buch setzt sich Anatole Dolgoff auch mit seinen jüdischen Wurzeln auseinander, die seinem Vater stets wichtig waren. So schildert der Autor, dass sein Vater mit dem anarchistischen Theoretiker Michail Bakunin, dessen Staatskritik er schätzte, wegen dessen Antisemitismus Probleme gehabt habe. Er erinnert auch an die wenig bekannte Geschichte, dass ehemalige IWW-Aktivisten in der Zeit des Nationalsozialismus Juden bei der Flucht nach Paläs­tina unterstützten, was die damalige britische Kolonialmacht verhindern wollte. Über seinen Vater und dessen langjährigen Genossen Murray Bookchin schreibt er: »Im Herzen waren sie zwei russische, jüdische Jungs aus der Lower East Side – arm auf die Welt gekommen, zur Arbeiterklasse gehörend, aber hochintelligent –, die ihren Weg zum Anarchismus gefunden hatten.« Allerdings zerbrach diese langjährige Freundschaft, nachdem Sam Dolgoff ein Vorwort von Bookchin um eine Passage ­gekürzt hatte, die ihm politisch nicht genehm war.

Das Buch gibt viele Beispiele langjähriger politischer Freundschaften, die aufgrund politischer Differenzen zerbrachen. Auch Sam Dolgoff konnte sehr nachtragend und fast dogmatisch sein. Das zeigte sich an dem Streit in der anarchistischen Bewegung über die Position zu Kuba unter Fidel Castro, der in den frühen siebziger Jahren außenpolitisch nicht mit der Linie der Sowjetunion kon­form ging. Manche Wobblies unterstützten daher die kuba­nische Revolution. Sam Dolgoff aber sah in Castro und Che Guevara letztlich nur die karibische Variante des Stalinismus und erinnerte an die Verfolgung von Anarchisten auf Kuba. An dieser Auseinandersetzung sind einige Freundschaften zerbrochen.

Andererseits erinnert sich Anatole Dolgoff, dass sein Vater, der sich klar als Antikommunist und auch Antimarxist verstand, zu IWW-Mitgründerinnen und Mitgründern freundschaftliche Beziehungen unterhielt, auch nachdem sich diese dem Kommunismus zugewandt hatten. Es waren nicht wenige. Daher ist es etwas missverständlich, wenn Sam Dolgoff von einer Feindschaft zwischen Anarchismus und Bolschewismus spricht. Korrekter wäre es, von feindlichen Geschwistern zu reden, die sich gerade deshalb oft so befehdeten, weil die gemeinsame Basis doch recht groß ist.

Eine Eloge auf seinen Vater liefert Anatole Dolgoff nicht, er bewahrt sich eine kritische Perspektive auf sein Elternhaus. So bekennt er, wie sehr er und sein Bruder ­unter dem Alkoholismus des Vaters gelitten haben. Es sei vorgekommen, dass der Vater sein gesamtes Gehalt für Alkohol ausgab und völlig betrunken auf Versammlungen ­erschien. Nicht selten habe er sich dem Gespött seiner Mitstreiter ausgesetzt. Später entschloss er sich, keinen Tropfen mehr zu trinken. Auf Anraten seiner Ärzte gab der Ketten­raucher im hohen Alter auch seine geliebten Zigaretten auf.

Besonders gelungen ist die Episode am Schluss, in der Dolgoff schildert, wie sein Vater eine Würdigung erfuhr, die ganz nach seinem Geschmack war. Bei einem Treffen mit britischen Bergarbeitern unmittelbar nach dem von der Regierung Thatcher niedergeschlagenen Streik 1985 saßen alle niedergeschlagen in dem Versammlungsort der IWW in New York. Dann hob Sam Dolgoff die Faust und stimmte bekannte Solidaritätslieder der Wobblies an. Damit war das Eis gebrochen, der Saal tobte und selbst unbeteiligte Gäste aus dem Restaurant ap­plaudierten begeistert. Dolgoff macht nicht nur das Leben seines Vaters anschaulich, sondern lässt auch ein Stück Arbeitergeschichte lebendig werden, an das zu erinnern sich lohnt.

Anatole Dolgoff: Links der Linken. Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbe­wegung. Verlag Graswurzelrevolution, Münster 2020, 426 Seiten, 24,90 Euro