10.09.2020
Ein Gespräch mit dem Soziologen Michael Schüßler über die kritische Theorie des Körpers und seine Kritik an Judith Butler

»Sprache und Leib stehen in einem inneren Zusammenhang«

Werden Körper diskursiv erzeugt? Dieses poststrukturalistische Postulat kritisiert der Soziologe Michael Schüßler in seiner Dissertation mit Hilfe der Kritischen Theorie und der Psychoanalyse.

In ihrer Dissertation haben sie mit Rückgriff auf Theodor W. Adorno eine Theorie der Leiblichkeit erarbeitet, die sich explizit gegen die prominent von Judith Butler vertretene Theorie der Performanz wendet. Warum halten Sie eine materialistische, kritische Theorie des Körpers für wichtig?

Die Kritische Theorie erfasst den Körper als etwas zwischen Gesellschaft und Natur Vermitteltes. Da geht es auch um die Naturbeherrschung am Menschen. Die Gesellschaft formiert und richtet Leib und Körper zu, und so werden sie zum Beispiel zum Ausdruck gesellschaftlicher Körper- und Geschlechterverhältnisse. Vermittlungspraxis ist aber stets konkrete Praxis, in der das Produkt der Vermittlung immer auch nicht­identisch mit Gesellschaft ist.

Was meinen Sie genau, wenn Sie von Theorie sprechen?

Kritik an gesellschaftlicher Herrschaft, genauer: Kritik zu äußern an gesellschaftlichen Körperverhältnissen, indem ich versuche, Zurichtungen des Leib-Körpers und daran die Herrschaft über die Natur am Menschen darzustellen. Dazu gehört ein im Leiblich-Somatischen fundierter Begriff des Leidens, der zum Beispiel bei Adorno zentral ist. Kritische Theorie thematisiert Herrschaft nicht bloß als diskursive Formati­onen, wie es Butler tut, sondern als konkrete Praxis an leidenden Menschen. Zudem hat die Kritische Theorie einen Begriff von Glück, der solchen Theorien wie der Butlers abgeht.

Sie haben sich die Widersprüche bei Judith Butler genau angeschaut. Was fiel Ihnen auf?

Was Butler behauptet, und vor allem, was Leute davon mitnahmen, finde ich kritikwürdig. Meiner Meinung nach ist es eine falsche Betrachtung des Körpers. Sie sagt, dass sich der Körper beziehungsweise die körper­liche Materialität erst durch sprachliche, nämlich performative Akte formiert. Die subjektivierenden ­Bedingungen sollen dabei ausnahmslos aus dem stammen, was Butler den linguistischen Kontext nennt: die Ordnung der Signifikanten. Wird der Körper wirklich erst durch sprachvermittelte Intelligibilität Realität? Der Beziehungsaufbau des Kindes zu seinem Körper verläuft in den ersten Entwicklungsphasen über das innere Erregungsgeschehen und die sinn­lichen Wahrnehmungen, er ist nicht sprachvermittelt. Was sich da im Kind zum Beispiel als Triebstruktur formiert, setzt später auch Bedingungen für den Erwerb der Sprache. Man lernt nicht einfach Sprechen und damit nur die in den Worten enthaltenen objektiven Bedeutungen. Kindliche Sprache entsteht durch die innere Beziehung zwischen dem leiblich-sinnlichen Erlebnis und den angetragenen Worten. Und Sprache ist eben nicht nur Kommunikation. Davon leben sowohl die Kunst als auch die Psychoanalyse.

Was ist mit der Eigengesetzlichkeit der Natur? Und was ist mit Aspekten am Körper, die nicht in Sprache aufgehen?

Butler geht darüber hinweg, dass Menschen sinnlich-leibliche Wesen sind, in denen durch gesellschaftliche Praxis immer auch Bedingungen innerer Natur beherrscht und unterworfen werden. Das hat erst mal weniger mit Sprache zu tun.

Sie beziehen sich auch auf den philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner, den Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty und zentral auf den Psychoanalytiker Alfred Lorenzer. Können sie Lorenzers Begriff der Interaktionsform erläutern?

Interaktionsformen sind das Resultat aus der Konfrontation zwischen kindlichem Bedarf und gesellschaftlicher Praxis. Als bestimmte Einigungs- und Befriedigungsformeln schlagen sie sich im Kind psychophysiologisch und im Verhalten nieder. So entsteht zum Beispiel aus dem Hunger und dem Stillen die gesellschaftliche, aber zugleich biographisch individuelle Gestalt des Hungers als primärem Selbsterhaltungstrieb. Die gesellschaftlichen Bedingungen und Anforderungen werden dabei dem Kind konkret durch die Mutter dargeboten. Ob das Kind sanft oder gewaltsam gestillt wird, wie dabei das Köpfchen gehalten wird oder welche Qualität das Lustempfinden bei genitaler oder analer Hygiene hat, all das ist wiederum im frühkindlichen Leib als Mischung von somatischen Reizen, Regungen, Gefühlen, Sinneseindrücken und psychologischen Grundmustern abgelegt und vermittelt auch immer schon ein implizites vorbewusstes Verhältnis zum eigenen Leib, bevor das Kind überhaupt zur Sprache kommt.

Weil es so naheliegend scheint, fielen mir zu Ihren Gedanken erst auch eher triviale Worte wie »Körpersprache« oder »Muskelgedächtnis« ein. Was halten Sie von diesen Begriffen?

Im Begriff »Körpersprache« liegt die Ahnung, dass Sprache und Leib auch in einem inneren Zusammenhang stehen. Diese Ahnung ist interessant, denn da steht Menschen vor Augen, was Theorien wie die Butlers ignorieren oder sogar wegreden wollen.

Und bei »Muskelgedächtnis« verhält es sich ähnlich?

Das kommt vom Begriff des Reflexbogens, der neuronale Verschaltungen beschreibt. Da gibt es aber viele Unterschiede vom Zwinkern oder Niesen bis zum antrainierten Reflex. Die Hand vor den Mund zu nehmen, das wäre ein Beispiel für eingeschriebene Konventionen und dafür, wie Kulturleistungen in Psychophysiologie übergehen und sich in Gesten niederschlagen. Auf einer sinnlich-leiblichen Ebene passt hier auch Merleau-Pontys Begriff der Einfühlung, weil er dem nachgeht, was körperlich passiert beim Rad­fahren, Musizieren, beim Tanzen und eben nonverbaler Zwischenmenschlichkeit. Mit der Einfühlung kann man schön beschreiben, wie Erlerntes in körperlicher Beschäftigung mit einem Gegenüber nicht mehr kognitiv nachvollzogen werden muss, sondern gewissermaßen nach Gefühl passiert.

Über Eltern-Kind-Beziehungen sagen Sie, dass diese auch davon geprägt sind, wie Eltern ihre eigene Prägung als geschlechtliche Wesen weitergeben. Aber bei all dem spürt und erlebt doch ein Kind seinen Leib auch selbst, wie fließt das ein?

Selbstverständlich spielen die Bedingungen der (inneren) Natur für das Geschlecht und das Begehren eine Rolle. Auch in der kulturellen Interpretation der Anatomie und der körperlichen Vorgänge setzen sich ­deren Eigengesetzlichkeiten durch. Es gibt nun mal Körper, die gebären können, und andere, die es nicht können. Ebenso gibt es somatische Bedingungen in den Sexualtrieben. Das heißt nicht, dass sich daraus eine heterosexuelle Norm biologisch ­bestimmen lässt. Um aber dieses gesellschaftliche Geschlechterverhältnis zu verstehen, muss auch die Zurichtung ihrer leiblich-körperlichen Naturbasis verstanden werden.

Der akademische Diskurs hat sich in den vergangenen Jahren weiter in Richtung eines auf Diversität begründeten Queerfeminismus verschoben. Können Sie erläutern, warum es gerade für den Feminismus wichtig ist, auch in der Geschlechterforschung am Materialismus fest­gehalten wird?

Materialistische Kritik nimmt in den Blick, dass Geschlechtlichkeit in ­einer umfänglichen gesellschaftlichen, sinnlich-körperlichen, eben nicht allein diskursiven Praxis zugerichtet wird. Mir geht es dabei auch um triebstrukturelle und psychodynamische Tiefe von Begehren und Geschlecht, die eine rein performative Wählbarkeit der Geschlechtsidentität nicht so ohne weiteres zulässt. Das ist bedeutsam für die ­Geschlechterforschung, denn daran lässt sich auch zeigen, wie zum Beispiel Weiblichkeitsabwehr und Misogynie in meist männliche Sexualität eingelassen ist.

In queerfeministischen, aber auch in linken identitätspolitischen Kreisen ist trotz allen Redens über Sexualität eine latente Lustfeindlichkeit zu erkennen. Woran könnte das liegen?

Das hat wohl vor allem damit zu tun, dass in dieser Linken das immer schon falsche Postulat, dass das Private politisch sei, so maßgebend ist. Jedes Verhalten stellen solche Linke so selbst unter Beobachtung, machen es zum Ziel pseudopolitischen Handelns und stellen viele – auch sich selbst und die Ihren – schon in Verdacht, Diskriminierungen zu reproduzieren. Sexuelles Lusterleben und repressives Geschlechterverhältnis sind ja auch nicht so ohne weiteres identisch. Nur weil Sex auf eine Naturbasis, auf Triebe zurückgeht, heißt das ja nicht, dass er umstandslos die heteronormative Ordnung oder gar aus ihr folgende Diskriminierung begründet. Da setzen Menschen ihre Sexualität und Lust mit gesellschaftlichen Verhältnissen gleich und geraten darüber ins Straucheln. Statt sich mit Widersprüchen zwischen Lust und Herrschaft auseinandersetzen, politisieren sie eigenes sexuelles Begehren und unterdrücken es dann. Da das aber über privates Verhalten und Handeln Einzelner verläuft, mutieren Umgang und Ansprüche zu starren Kontroll- und Regelwerken, unter denen jeder jeden beobachtet und diszipliniert. Diese Kreise wiederholen im Grunde, was in der Allgemeingesellschaft eh schon passiert. Sie folgen aber nicht einfach einer Verzichtslogik. Die Pseudopolitisierung des Privaten als Disziplinargesellschaft im Kleinen geht ja oft mit infantilisierender guter Laune, wie Bildern von Einhörnern und Glitzer, also einem esoterischen Verständnis von Glück einher.

Ihre Beobachtungen zu Tanztheater und Performance sind sehr aufschlussreich. In einem Aufsatz haben sie mal Marina Abramo­vićs Schmerzperformances als »Verklärung der Wurzeln der Vernunft« und als »Regression auf ­einen idealisierten Zustand vor der Genese der Rationalität« ­kritisiert, weil Abramović mit falscher Unmittelbarkeit am Körper den Naturzwang des Menschen wieder beschwört.

Nicht nur deshalb. Die esoterische Selbstfindung und Selbstreinigung in ihren Performanceworkshops ist ideologisch aufgeladen. So wie ich es sehe, neigt sie zur Konventionalisierung des Extremen. Da sind oft Tabubrüche Triebfeder des Neuen. Der Performancekunst stehe ich allgemein kritisch gegenüber. Nicht nur Abra­mović verwechselt Nacktheit, Obszönität und Selbstverletzungen als Schocks mit Formbildung in der Kunst. Als ob das ein Publikum automatisch zu mehr sinnlicher Erfahrungsfähigkeit führte, wenn man am Körper ihre Sehgewohnheiten und moralischen Leitlinien bricht. Performance ist da näher an der Kulturindustrie und deren Formen der Erzeugung von Effekten als an ­situativer Reflexion von Erfahrung.

Welche Kunst interessiert Sie?

Vor allem das Tanztheater von Pina Bausch. Sie hat in ihren choreographischen Verfahren ähnliche Fragen gestellt wie ich in meiner Arbeit. Auch ihr ging es um den Grenzbereich der Sprache und Aspekte an Leib und Körper, die in Sprache nicht aufgehen. Das, woran die Sprache nicht heranreicht, hat sie mit tänzerischen Assoziationen näher gebracht. In Bauschs Stücken wird beinah physisch fassbar, dass Körper und das geteilte Vermögen, Leib zu sein, sich im und durch den Leib nah sein zu können und so andere als sinnliche und leidende Wesen wahrzunehmen, etwas Hoffnungsvolles ist.

 

Michael Schüßler, geboren 1982, studierte Soziologie und promovierte 2020 an der Universität in Freiburg. Der Titel seiner Disser­tation, die in Kürze als Buch erscheinen wird, lautet »Die Sprachen des Leibes und die Leiblichkeit der Sprache. Aspekte der Kritischen Theorie des Körpers«.