In der Pandemie boomen ­Online-Sexseiten wie Onlyfans

Onlinesex mit brummenden Stühlen

Der langjährige Autor des US-Magazins »The New Yorker«, Jeffrey Toobin, masturbierte während eines Zoom-Meetings vor laufender Kamera und wurde deshalb suspendiert. Dabei gibt es genug andere Möglichkeiten, die eigenen Genitalien in die Kamera zu halten: da, wo andere sie sehen wollen und vielleicht sogar Geld dafür zahlen.

Die durch die notwendige Eindämmung der Covid-19-Pandemie forcierte Digitalisierung macht vor kaum einen Lebensbereich halt: Arbeitsmeetings und Therapiesitzungen finden als Videokonferenzen statt. Universitäten und Volkshochschulen, aber auch freie Bildungsträger und Politgruppen haben schnell entdeckt, dass man sich und den eigenen Output auch online organisieren kann. Von Streams, bei denen auf der einen Seite eine Kamera filmt und auf der anderen Seite die Zuschauenden mehr oder weniger passiv bleiben, bis hin zu Videochats mit zahlreichen Teilnehmenden, die im schlimmsten Fall alle gleichzeitig vor ihrer Webcam fuchteln und sprechen, werden verschiedene Arten sozialer Interaktionen nach und nach in neue digitale Formen gebracht.

Seit Anfang des Jahres boomen Internetseiten, auf denen man erotische Amateurvideos kaufen oder die ganze Bandbreite sexueller Handlungen im Livestream mitverfolgen und beeinflussen kann.

Dass sich mit Hilfe des Internets aber auch Liebe und Sexualität organisieren lassen, ist seit dem Boom von Dating-Apps und Porno-Portalen deutlich geworden. Die Pandemie erschwert es, zu zweit, zu dritt oder als Gruppe zum Austausch von Körperflüssigkeiten zusammenzukommen. Große ­Teile der herkömmlichen Pornographie werden auf Dauer recht öde – abgesehen von anderen Bedenken, vor allem hinsichtlich der fragwürdigen Arbeitsbedingungen der Sexarbeitenden bei großen Studios. Das hier gebote­ne Bild von Sexualität ist sowieso unrealistisch und kontrastiert schärfer denn je mit der eigenen Lebensrealität, wenn auf dem Bildschirm die Orgie tobt und man selbst seit Wochen die eigene Wohnung nur noch für die nötigsten Erledigungen verlassen hat.

Kein Wunder also, dass seit Anfang des Jahres Internetseiten boomen, auf denen man erotische Amateurvideos kaufen oder die ganze Bandbreite sexueller Handlungen im Livestream mitverfolgen und beeinflussen kann. Auch der nichtkommerzielle »Camsex« hat zugenommen, also sexuelle Handlungen vor der Kamera für ein bekanntes oder unbekanntes Publikum auszuführen – der eine oder andere Videocall mit der Beziehungsperson mündete wohl schon in ein plötzliches erotisches Abenteuer.

Im Bereich der Online-Sexarbeit dürfte die Plattform Onlyfans zu den bekanntesten Anbietern gehören. Ihr Aufbau ähnelt dem klassischer Social-Media-Seiten: Nachdem ein Profil ­angelegt wurde, können verschiedene Beiträge, Fotos und Videos hochgeladen werden. Onlyfans ist nicht werbefinanziert, sondern die Nutzerinnen und Nutzer können entscheiden, was für welchen Betrag zu sehen ist: Bestimmte Inhalte werden erst einsehbar, wenn ein Abo von mindestens fünf US-Dollar im Monat abgeschlossen oder ein spezifischer Betrag für ein einzelnes Bild bezahlt wurde. Die Seite erschwert ein Herunterladen der Inhalte und behält dafür 20 Prozent aller Zahlungen ein.

In Pandemiezeiten stellt das ein Erfolgsmodell dar. So meldete die Londoner Betreiberfirma Fenix International Limited einen weltweiten Zuwachs der registrierten Profile von 75 Prozent allein für März und April im Vergleich zum Februar, also in der Zeit, als global die meisten Staaten das öffentliche Leben einschränkten. Andere Portale aus dem Bereich berichten Ähnliches. Es sind sowohl Sexarbeitende aus anderen Bereichen, die in der Pandemie auf den digitale Arbeitsplatz ausweichen, als auch anderweitig Prekarisierte, die in der Krise ihre üblichen Einnahmen verloren haben.

Die Pandemie beschleunigt eine Tendenz, die der spanische Queer-­Theoretiker Paul B. Preciado bereits 2008 in seinem Buch »Testo Junkie« beschrieb: Mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Webcams und Internet wird das Bild des eigenen Körpers zur potentiellen Ware auf dem sexindustriellen Cybermarkt. Er weist auch darauf hin, dass die meisten Social-Media-Seiten einer masturbatorischen Logik folgen: Echtzeit-Verkauf des Produkts und unmittelbare Befriedigung auf der anderen Seite des Bildschirms. Dabei muss die Währung nicht in erster Linie monetär sein.

Es verwundert nicht, dass Menschen, die mit sozialen Medien als normalem Teil ihres Alltags aufgewachsen sind und große Teile ihres Lebens auf diesen Plattformen zugänglich machen, weniger Probleme damit haben, auch erotisches Material online zu stellen. Mit Pseudonymen, Masken und Ähnlichem wird im Bereich der digitalen Sexarbeit mal mehr, mal weniger darauf geachtet, die eigene Identität zu schützen. Gleichzeitig sind viele, die ihre Videos und Bilder auf pay to watch-Seiten verkaufen, auf Community-Building außerhalb der einschlägigen Portale angewiesen. Oder wie es der Sexworker Little Sun Boy auf seinem ­Instagram-Account beschreibt: »There’s so much free porn, you gotta make people want porn of you

Die Objekte der Lust verändern sich in diesem Digitalisierungsprozess. Die Sexarbeiterin Antoinette Blume berichtet im Gespräch mit der Jungle World von einem Stammkunden, der mehrere Hundert Euro zahle, um sich online von zwei Frauen beim Masturbieren beobachten zu lassen: »Dabei macht er die Augen zu. Ich versteh es nicht wirklich.« Wie so oft gibt es vielleicht nicht so viel zu verstehen, aber schon zu vermuten. So geht es beim Camsex eben nicht nur um das Sehen, sondern auch um das Gesehenwerden. Weil der Blick der anderen durch die Kamera abstrakter wird, kann er auch das durchaus als lustvoll erlebbare Gefühl der Gefahr steigern, aufgezeichnet und vor aller Welt bloßgestellt zu werden. Aus dieser lustvollen Phantasie kann aber schnell bitterer Ernst werden. Die internationale Kampagne Not Your Porn setzt sich deswegen für die Bildrechte von Betroffenen ein, deren Aufnahmen gegen ihren Willen auf Pornoseiten online gestellt wurden.

Camsex findet nicht nur im Rahmen von Sexarbeit statt. Der Partygänger Aiden erzählt im Gespräch mit der Jungle World von einer Online-Party des Londoner Labels Crossbreed mit über 100 Leuten. Crossbreed ist bereits bekannt für sexpositive Partys offline, inklusive Playarea. »Auch bei der Webcamvariante«, berichtet Aiden, »waren die meisten nackt oder in Fetisch­kleidung dabei und tanzten alleine oder als Paar, strippten, masturbierten oder vögelten. Als eine Person eine Melone mit einem Loch fickte, sind alle komplett ausgerastet und haben sie angefeuert.« So kommt der popkulturell eigentlich schon längst ausgelutschte Topos vom Sex mit Obst zu neuen Ehren.

Die sexuelle Interaktion mit anderen wird durch die Pandemie vor neue Schwierigkeiten gestellt, findet aber auch neue Gelegenheiten und Ausdrücke. Jorge benutzt die Website Dirtyroulette, die, nachdem Chatroulette konsequent nackte Nutzer gesperrt hatte, die Lücke mit expliziten Angeboten schloss. Ähnlich wie beim braven Vorbild werden per Zufall zwei Nutzer zusammengebracht. Ob man dann beieinanderbleibt oder weiterklickt, ist den beiden selbst überlassen. Doch auch wenn der Rahmen sehr explizit ist, werden nicht nur masturbierende Körper zusammengeführt. Jorge ist schon »Mhmmmm«-schreibenden Stühlen begegnet oder einem Typen, der vor laufender Kamera telefonierte.

Über die verschiedenen Varianten des Camsex wird die Sexualität nicht nur in einen Alltag integriert, der ohnehin schon zu großen Teilen digital zugebracht wird, sondern umgekehrt kann auch Alltägliches plötzlich Teil der eigenen Erotik werden – sei es ein Stuhl oder ein nackter Mann beim Telefonieren. Dabei verändert sich auch die Kommunikation über sexu­elle Handlungen. Bei Dirtyroulette kann bereits das Einloggen auf der Plattform als Zustimmung zum Betrachten nackter Körper verstanden werden. Wo die Einschränkungen von social distancing und Quarantäne in bereits bestehenden körperlichen Beziehungen zum Einsatz der Webcam motiviert haben, empfinden die Beteiligten es häufig als neue Qualität der gemeinsamen Kommunikation. Auch in der zweiten Welle kann es sich also lohnen, ein bisschen Zeit vor oder hinter der Webcam totzuschlagen.