Anleitung zum kritischen Denken

Dogmatisch sind immer nur die anderen

Dem Selbstverständnis nach ist kritisches Denken das Gegenteil von Dogmatismus. Aber was genau zeichnet ein solches Denken aus und wozu ist es gut? Eine philosophische Reflexion über Wahrheit und Irrtum.
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Mit manchen Leuten kann man einfach nicht diskutieren. Genauer ­gesagt: Mit einigen wenigen Leuten kann man so gut wie gar nicht diskutieren, doch bei den meisten Menschen stößt man in bestimmten Bereichen an Grenzen dessen, was sich mit ihnen einigermaßen offen und vernünftig diskutieren lässt. Egal, ob in Debatten über politische, wissenschaftliche oder religiöse Fragen oder in einem Beziehungsstreit – man kennt die unerquicklichen Auseinandersetzungen, die entstehen, wenn jemand sich unwillig oder unfähig zeigt (man weiß oft nicht recht, ob mehr das eine oder das andere), der Gegenseite noch zuzuhören und ihre Argumente ernsthaft in Betracht zu ziehen. In einfacheren Fällen mag die fragliche Person in einer anderen Situation – mit kühlerem Kopf oder auch mit anderen Gesprächspartnern – bereit sein, ihre Position zu hinterfragen. Oft aber liegt es an der zur Debatte stehenden Position selbst; diese wird dann unter so gut wie allen Umständen verteidigt, und selbst wenn jemand sich nach langer, mühsamer Diskussion Zugeständnisse abringen lässt, scheint die fragliche Person beim nächsten Mal, wenn dasselbe Thema aufkommt, davon nichts mehr zu wissen und vertritt ihre ursprüngliche Position wieder so hartnäckig wie zuvor.

Sollten revolutionäre neue Argumente auftauchen, die schlüssig für eine flache Erde sprechen und die These der kugelförmigen Erde widerlegen, dann – so der Anspruch kritischen Denkens – müsste man in der Tat die Meinung über die Form der Erde revidieren und nicht etwa die Regeln korrekten Argumentierens so anpassen, dass es beim gewünschten Ergebnis bleibt.

Ein solches Verhalten kann man als Dogmatismus bezeichnen. Als Gegenbegriff hierzu dient traditionell die Kritik: Kritisch denken heißt (zumindest im Idealfall), kein Dogma zu akzeptieren, und wo man sich dogmatisch verhält, verschließt man sich kritischem Denken. Das Problem ist nur: Dogmatisch sind immer nur die anderen. Es liegt in der Natur der Sache, dass man sein eigenes dogmatisches Verhalten nicht als solches erkennt. So manche Diskussion endet damit, dass jede Seite der anderen Dogmatismus vorwirft. Sehr überspitzt gesagt, besteht die Schwierigkeit also darin, dass man nur die eigenen Fehler korrigieren, aber nur die der anderen erkennen kann. Kritisches Denken ist, so ge­sehen, die Kunst, sich gegen die Versuchungen des Dogmatismus zu wappnen. Wie aber geht das? Wie funktioniert kritisches Denken, und wodurch unterscheidet es sich von Dogmatismus?

I
Man stelle sich einen Dogmatiker vor, jemanden, der unerschütterlich eine Meinung vertritt, ohne noch für Gegenargumente empfänglich zu sein. Worin muss mein Denken sich von seinem unterscheiden, damit ich dem Vorwurf des Dogmatismus entgehe, dem er verfällt? Wenn ich mit einem solchen Dogmatiker streite, mag ich es für offensichtlich halten, dass ich recht habe, dass ich die Argumente auf meiner Seite habe – aber das denkt der Dogmatiker von sich ja auch. Man kann eine Meinung nicht vertreten, weil sie richtig ist. Trivialerweise hält jeder die ei­gene Meinung für richtig; das bedeutet es eben, eine Meinung zu haben. Die Richtigkeit einer Meinung ist vielmehr, was zu begründen bleibt – die Frage ist, warum man glaubt, dass die Meinung richtig sei, während sich doch stets Leute finden lassen, die eben diese Meinung für falsch halten. Meinungsbildung ist ein fehlbarer, irrtumsanfälliger Prozess: Noch so überzeugt von etwas zu sein, schließt nicht aus, unrecht zu haben; das gilt offensichtlich für ­andere, also muss ich davon ausgehen, dass es wohl auch für mich gilt (selbst wenn ich mich auf Anhieb nicht erinnern könnte, mich jemals geirrt zu haben, was allerdings ein sehr schlechtes Zeichen wäre). Es braucht also Gründe, Argumente. Das heißt im Umkehrschluss: Es kann kein Kriterium für die Qualität eines Arguments sein, dass es die (vermeintlich) richtige oder falsche Meinung stützt.

Natürlich gibt es Fälle, in denen man sich hinreichend sicher sein kann, dass eine Meinung falsch ist. Behauptet jemand, die Erde sei eine Scheibe, kann man äußerst zuversichtlich sein, dass die Argumente, auf die die fragliche Person ihre Meinung stützt, nicht triftig sind. Diese Zuversicht rechtfertigt sich aber einzig durch die extreme Stärke der Argumente für die Gegenposition, was beinhaltet, dass sich Argumente für eine flache Erde widerlegen lassen und (was auf dasselbe hinausläuft) dass es umgekehrt Argumente für eine kugelförmige Erde gibt, die sich nicht widerlegen lassen. Sollten revolutionäre neue Argumente auftauchen, die schlüssig für eine flache Erde sprechen und die These der ­kugelförmigen Erde widerlegen, dann – so der Anspruch kritischen Denkens – müsste man in der Tat die Meinung über die Form der Erde revidieren und nicht etwa die Re­geln korrekten Argumentierens so anpassen, dass es beim gewünschten Ergebnis bleibt. Nur ist damit, dass ein solcher Fall eintritt, ebenso wenig zu rechnen wie damit, dass die Sonne plötzlich im Norden aufgeht. Gleichwohl liegt es im Wesen einer Begründung, der Möglichkeit Rechnung zu tragen, dass die zu begründende Meinung auch falsch sein könnte.

Es liegt auf der Hand, dass die eigentlichen Probleme damit erst anfangen – erst recht, wenn man etwa an politische, religiöse, moralische Fragen denkt, die sich weniger leicht klären lassen. Da hier vergleichsweise solide empirische Befunde meist nicht weit tragen, verlagert sich das Problem schnell auf die Metaebene: Was zeichnet überhaupt ein korrektes, triftiges Argument aus, was macht einen Grund besser oder stärker als einen anderen, und wie lässt sich die relative Bedeutung von gegeneinander abzuwägenden Gesichtspunkten bemessen? All das lässt sich offenbar selbst wieder nicht anders als anhand von Argumenten beurteilen – deren Bewertungsgrundlage aber doch gerade zur Debatte steht. Dieses strukturelle Problem war stets ein wichtiger Ansatzpunkt der Gegenaufklärung, die der Partei der Vernunft gern vorwarf, ihre Sache in Wirklichkeit nur auf eine raffiniertere Form von Dogmatismus zu gründen: eben Dogmatismus in der Frage, was vernünftig, was kritisch, was das bessere Argument sei. Kann es also überhaupt so etwas geben wie objektive Kriterien für die Qualität von Argumenten, oder äußert sich in diesen stets nur der Versuch, einem ideologischen Standpunkt Vorrang vor anderen zu verschaffen?

Letzteres behaupten in der heutigen Debatte zum einen gewisse ­offen irrationalistische, etwa religiöse oder esoterische Positionen sowie, im politischen Bereich, typischerweise bestimmte Formen des Konservatismus und Autoritarismus; es gibt aber auch eine linke Variante dieses gegenaufklärerischen Ansatzes, die insbesondere gewisse Strömungen des poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Denkens prägt. Die Attraktivität solcher Ansätze ist durchaus verständlich. Schließlich soll es doch das Kennzeichen kritischen Denkens sein, jeg­liche Wahrheitsansprüche in Frage zu stellen. Ist es nicht die letzte Konsequenz, die radikalste Ausprägung solcher Kritik, Wahrheitsansprüche per se als unhaltbar, als verschleierte Machtansprüche zu demaskieren?

Doch das hieße, den Gipfel der Kritik just darin zu erblicken, die Möglichkeit von Kritik selbst zum Mythos zu erklären. Denn wenn es keine Wahrheit, sondern nur Macht gibt, dann gibt es eben keine besseren und schlechteren Positionen, sondern nur mächtigere und weniger mächtige. Der vermeintlich kritische Anspruch, irgendwie »gegen die Macht« zu sein, kann dann nur noch darauf hinauslaufen, den jeweils unterlegenen, verfemten Positionen im Machtkampf gegen die hegemonialen ­beizuspringen. Wenn es kein Anderes, kein Jenseits der Macht gibt, bleibt das aber ein absurdes Unterfangen. Ist beispielsweise der gesellschaftliche Kampf gegen den ­Nazismus erfolgreich, sind Nazipositionen irgendwann (relativ) machtlos. Man wird es unter diesen Umständen hoffentlich nicht für kritisch halten, nazistisches Denken gegen die hegemoniale antifaschistische Macht zu verteidigen. Positionen werden nicht dadurch gut oder verteidigenswert, dass sie machtlos, und nicht dadurch falsch oder bekämpfenswert, dass sie hegemonial sind. Sondern der Nazismus ist aus bestimmten, benennbaren Gründen eine schlechte, falsche Position, unabhängig davon, ob er gerade Macht hat oder nicht: auf der faktischen Seite, weil er auf falschen Ansichten beispielsweise über erbliche Unterschiede zwischen verschiedenen Menschengruppen sowie über den historischen und politischen Einfluss insbesondere des Judentums beruht; und auf der moralischen oder normativen Seite beispielsweise, weil er Gewalt und Unterdrückung nicht bekämpft, sondern befürwortet. Welche Gründe die entscheidenden sind und wie genau sie begrifflich zu fassen sind, darüber kann und muss man kontrovers diskutieren; den Anspruch, eine bessere, besser begründete Position als die nazistische zu vertreten, kann und darf man ­jedoch nicht aufgeben.

Der Begriff der Wahrheit ermöglicht es gerade, zu unterscheiden zwischen dem, was man für wahr hält, und dem, was wahr ist; zu den Begriffen, die er ermöglicht und vorbereitet, gehört der des Wissens, aber mehr noch der des Irrtums, der der Unfehlbarkeit, aber mehr noch der der Fehlbarkeit.

Auch philosophische Ansätze, die leugnen, dass es so etwas wie Wahrheit oder Objektivität gibt, stützen sich – natürlich – auf Argumente. Doch Begriffe wie Wahrheit und Objektivität sollen ja gerade bezeichnen, was gute von schlechten Argumenten unterscheidet. Wenn es nicht objektiv wahr ist, dass die Argumente für eine Position besser sind als die für eine andere, dann gibt es eben gar keine besseren Argumente, sondern nur konkurrierende ideologische Machtansprüche, die die ihnen jeweils dienlichen (Schein-)Argumente nur durch definitorische Gewaltakte zu den besseren erklären. Das ist eine Form des Relativismus: Welches Argument das bessere ist, lasse sich nur relativ zu bestimmten ideologischen Vorannahmen bestimmen; der Versuch, diese Vorannahmen zu begründen, müsse sich daher als zirkulär erweisen. Doch indem man diese Relativität erkennt und formuliert, begibt man sich auf eine Beschreibungsebene jenseits eben dieser Relati­vität. Die These besagt, die Wahrheit von Meinungen sei relativ, doch die Wahrheit, die diese Relativitätsthese selbst beansprucht, kann nicht wiederum als ­relativ verstanden werden. In derselben Weise beansprucht die Behauptung, es gebe keine Objektivität, für sich selbst eben die Objektivität, ­deren Möglichkeit sie leugnet.

Den Schlüssel zur Auflösung des Paradoxons liefert die Einsicht, dass der Begriff des besseren Arguments und mit ihm zusammenhängende Begriffe wie Wahrheit, Objektivität, Vernunft als Werkzeuge des kritischen, antidogmatischen Denkens zur Debatte stehen und daher ge­rade nicht in ihrer dogmatischen, sondern in ihrer kritischen Verwendung zu nehmen sind. Will heißen: Der Begriff der Wahrheit dient, recht verstanden, nicht dazu, irgendetwas dogmatisch »zur Wahrheit zu er­klären«. Zur Partei der Wahrheit (im kritischen Sinne) gehören nicht jene, die meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben, nicht jene, die »Wahrheit« rufen, um Einwände abzuschmettern und Zweifel für illegitim zu erklären. Sondern umgekehrt ist Wahrheit das Banner derjenigen, die das unhintergehbare Recht einfordern, jede Behauptung zu hinterfragen und in Zweifel zu ziehen. Der Begriff der Wahrheit ermöglicht es gerade, zu unterscheiden zwischen dem, was man für wahr hält, und dem, was wahr ist; zu den Begriffen, die er ermöglicht und vorbereitet, gehört der des Wissens, aber mehr noch der des Irrtums, der der Unfehlbarkeit, aber mehr noch der der Fehlbarkeit. Denn wer behauptet, etwas sei wahr, setzt sich der Frage aus, ob das denn stimme. Wahrheit lässt sich nicht behaupten, ohne sich bestreiten zu lassen. Eliminiert man den Begriff der Wahrheit, verschwindet mit ihm der der Unwahrheit. Dogmatisch kann man sein, ohne von Wahrheit zu reden; wie aber lässt sich ohne ­einen Begriff von Wahrheit noch der Gedanke fassen, dass man sich irren könnte?

Unter anderem im Feminismus und im Postkolonialismus spielt die Kritik an Objektivitätsansprüchen eine große Rolle. Doch zu kritisieren, dass eine bestimmte Sichtweise, eine Interpretation, eine Bewertung zwar Objektivität beansprucht, damit aber beispielsweise Euro- oder Androzentrismus verschleiert, setzt den Begriff der Objektivität gerade voraus: Dieser liefert den Maßstab, an dem die Kritik ihren Gegenstand misst und für ungenügend befindet. Man braucht den Begriff der Objek­tivität nicht, um einen Standpunkt zu verabsolutieren, sondern um ­argumentieren zu können, dass eine solche Verabsolutierung falsch ist, weil sie für den fraglichen Standpunkt ein Maß an Objektivität beansprucht, das ihm nicht zukommt. Allgemein dienen dem kritischen Denken Begriffe wie Wahrheit, ­Objektivität und Vernunft nicht dazu, bestimmte Argumente als unanfechtbar auszuweisen – das wäre ja gerade dogmatisch –, sondern um­gekehrt dazu, Lehren aus dem Scheitern all der Argumente zu ziehen, die im Lauf der Geschichte widerlegt worden sind. Vernunft ist kein Patentrezept für Unfehlbarkeit, sondern umgekehrt die Fähigkeit, aus Irrtümern zu lernen, die Reflexion der eigenen Fehlbarkeit. Die vernünftige Position ist nicht eine, deren Wahrheit in Stein gemeißelt ist, sondern jene, die Kritik am besten übersteht; in der Praxis sind das Positionen, die überhaupt erst in Reaktion auf und in Auseinandersetzung mit Kritik entwickelt werden – und die angemessen nur vertritt, wer sie prinzipiell als weiterhin kritisierbare, potentiell revisionsbedürftige und widerlegbare behandelt.

Gerade in politischen Debatten ist es auch deshalb schwierig, dem Geist der Kritik die Treue zu halten, weil vieles, was als Kritik daherkommt, in Wirklichkeit keine ist. Bekanntlich verhalten sich Menschen auch in den gepflegtesten Diskussionen nicht so vernünftig, wie sie es sich selbst gerne weismachen und wie der humanistische Optimismus, die Hoffnung auf den Erfolg von Aufklärung, es gerne hätte. In öffentlichen wie auch privaten Debatten stößt man auf echte, tiefe Widersprüche zwischen den Erfordernissen des kritischen Denkens und denen des Lebens in einer Gesellschaft, die sich nicht zuletzt in diesen Widersprüchen als irrational erweist. Aus der jüngeren Geschichte und der ­Gegenwart lässt sich ohne große Mühe lernen, dass Fanatiker jeder Art, dass notorisch Irrlichternde, ­Antisemiten, Rassisten, Nationalisten, Sexisten und andere, ja dass vermutlich schlicht die meisten Menschen in wichtigen Bereichen nicht deshalb ihrer verworrenen Meinung sind, weil sie bedauerlicherweise nicht gut genug informiert oder noch keinen besseren Argumenten begegnet sind. Vielmehr haben die Einzelnen starke Anreize und oft sogar handfeste Gründe, unvernünftigen Positionen anzuhängen. Wenn solche Positionen regelmäßig gegen bessere Gegenargumente bestehen, so zeigt dies in erster Näherung, dass die Meinungsbildung realer Menschen weniger von rationalen als von sozialpsychologischen Faktoren bestimmt ist. Platt gesagt: Die Leute glauben, was sie glauben wollen.

Das meiste, was als Kritik, als ­Argument vorgebracht wird, ist selbst Ideologie, Ressentiment, Rationalisierung, und muss entsprechend behandelt werden. Es ist also notwendig, zu unterscheiden zwischen Kritik, mit der man sich ernsthaft aus­einandersetzen muss, und dem ganz normalen Wahnsinn, den man sich vom Leib oder vielmehr vom Geist halten muss, wenn man daran nicht selbst irre werden will. Das ist ein Dilemma, das sich nicht auflösen, sondern nur in einem Balanceakt aushalten lässt: Einerseits erfordert kri­tisches Denken eine grundsätzliche Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Einwänden, eine Bereitschaft, die eigene Position immer wieder herausfordern zu lassen, die eigene Fehlbarkeit und Irrtumsanfälligkeit zu berücksichtigen und die Argumente Andersdenkender ernst zu nehmen; wer auf dieser Seite versagt, verfällt dem Dogmatismus, der Kri­tikabwehr, der Borniertheit. Andererseits aber stellen Dogmatismus, Kritikabwehr und Borniertheit den Normalfall in einer irrationalen ­Gesellschaft dar, deren Charaktermasken man eben nicht als rationale Kritiker missverstehen darf, mit ­denen ein gedeihlicher herrschaftsfreier Diskurs möglich wäre. Um unter diesen Umständen der Kritik die Treue zu halten, muss man es fertigbringen, sich im Zweifelsfall stärker von der ersten Gefahr bedroht zu fühlen, ohne dabei der zweiten zu verfallen.

II
Jegliche Bemühungen der Kritik müssen zwangsläufig prekär und angreifbar bleiben, doch lässt sich insbesondere ex negativo, aus dem Studium der Fehler des Dogmatismus und des vielmaligen Scheiterns von Kritik, so etwas wie ein Leitfaden des kritischen Denkens formulieren, an dem man sich orientieren kann – nicht um sich zu versichern, dass man alles richtig macht und nun aber wirklich und garantiert recht hat, sondern gerade umgekehrt, um das Wissen um die eigene Fehlbarkeit wachzuhalten und aus deren Reflexion methodische Konsequenzen zu ziehen. Zu den allgemein formulierbaren Bestandteilen eines solchen Leitfadens lassen sich etwa Gedanken wie die folgenden zählen.

Niemand ist unfehlbar, niemand ist objektiv, wir sind alle voreingenommen für unsere jeweiligen Positionen. Das heißt auch: Jemandem zu widersprechen, jemandem einen Irrtum vorzuwerfen, ist für sich genommen nicht ehrenrührig. Kritik ist kein Angriff, kein feindseliger Akt und erst recht keine Waffe, mit der man einen Gegner bekämpft. Das ist selbstredend weniger jenen, die man kri­tisiert, an den Kopf zu werfen denn als Grundsatz der Selbstkritik zu verinnerlichen: Mich angegriffen zu fühlen, ist, selbst wenn es berechtigt ist, immer auch ein Akt der ­Kritikabwehr – und der in diesem Gefühl enthaltene Vorwurf ist selbst ein impliziter (Gegen-)Angriff, der nicht weniger der Rechtfertigung bedarf als der ursprüngliche (vermeintliche) Angriff, gegen den das Gefühl sich richtet. Man kann diesen Grundsatz noch weiter zuspitzen:

Kritisch denken heißt, Kritik wertzuschätzen – auch und gerade Kritik an sich selbst und den eigenen Posi­tionen. Jede Position ist nur so stark wie die Argumente, die sie stützen, und das heißt letztlich: Sie ist so stark wie die Kritik an anderen, inzwischen verworfenen oder modi­fizierten Positionen, als deren Resultat sie formuliert wurde. Eine Posi­tion kritisch denkend zu vertreten, heißt, den Anspruch zu erheben, dass diese Position gegen Kritik bestehen kann. Deshalb ist Kritik nicht nur zuzulassen, sondern als unerlässliches Korrektiv, als Gelegenheit dazuzulernen und als einzige Versicherung gegen den eigenen Rückfall in Dogmatismus einzuladen und zu begrüßen. Natürlich ist es eine Herausforderung, die damit gelegentlich einhergehenden narzisstischen Kränkungen zu verwinden, und niemand sollte sich vormachen, über derlei Eitelkeiten erhaben zu sein.

Es ist schön und gut, gegen den Kapitalismus, das Patriarchat, den Rassismus et cetera zu sein, die Frage ist jedoch: Warum, im Namen welcher Werte oder Prinzipien lehnt man all dies ab? Nur wer das Gewicht auf das Warum anstelle des Was legt, kann die Bereitschaft zur Fehlerkorrektur kultivieren.

Es gibt kein Patentrezept, dem folgend man sicher sein könnte, keine Fehler und Irrtümer zu begehen. Kritisches Denken ist in erster und letzter Instanz Denken im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit. Das ­beinhaltet insbesondere auch eine ständige Auseinandersetzung mit den Grenzen des eigenen Wissens und Verstehens. Man könnte das sokratische »Ich weiß, dass ich nichts weiß« als Klischee belächeln angesichts der unglaublichen Vermehrung des Menschheitswissens in den vergangenen Jahrtausenden, doch die Entwicklung der menschlichen Ignoranz hat ganz offenkundig ­problemlos Schritt gehalten.

Jede Weltanschauung, jede politische Position, jede moralische Grundhaltung ist für Dogmatismus anfällig. Da wir zwangsläufig für unsere ­eigene Position voreingenommen sind, ist unsere Wahrnehmung von Mängeln selektiv: Wir neigen dazu, Fehler und Schwächen bei Andersdenkenden öfter festzustellen, als es berechtigt ist, und seltener als nötig bei denen, mit denen wir uns identifizieren und die wir zum eigenen Lager zählen. Daher sollte man Vorwürfe wie den des Dogmatismus, der Unaufrichtigkeit, der Borniertheit, der Arroganz et cetera nicht zu leichtfertig gegen andere richten und, wenn sie gegen einen selbst oder Vertreter der eigenen Meinung gerichtet werden, nicht zu bereitwillig beiseitewischen. Argumente der Gegenseite als dogmatisch zu disqualifizieren, ist der erste Schritt in den Dogmatismus. Fortgeschrittene Stadien dieser Entwicklung verraten sich oft in haltlosen Vorwürfen an die Gegenseite, deren man sich im selben Atemzug selbst schuldig macht. Böswillig zu interpretieren, eine ­Karikatur der Gegenseite zu zeichnen, auf persönliche Angriffe zurückzugreifen, undifferenziert und dogmatisch zu argumentieren, Kritik abzuwehren – derlei Vorwürfe, so berechtigt und notwendig sie sind, eignen sich in fataler Weise zur partei­lichen Anwendung. Auf sie ist nicht zu verzichten, aber man muss sich stets vor Augen führen, wie leicht man sich selbst dieser Fehler schuldig macht, auch und gerade indem man sie anderen ankreidet. Die methodische Schlussfolgerung daraus lautet, sich stets zu fragen: Kann die Gegenseite mir dasselbe mit demselben Recht vorwerfen? Würde ich ein analoges Verhalten anders bewerten, wenn die Seiten vertauscht wären? Dabei kommt es keineswegs darauf an, ob die eigenen Vorwürfe berechtigt sind oder nicht. Dass die Gegenseite mir oder meiner Position unrecht tut, berechtigt mich nicht, ihr meinerseits unrecht zu tun, sondern umgekehrt: Der ­Gegenseite etwas vorzuwerfen, setzt den Anspruch an mich selbst voraus, mich solchen Unrechts zu enthalten.

Wichtiger, als die richtige Position zu vertreten, ist es, Positionen aus den richtigen Gründen zu vertreten. Wer aus den richtigen Gründen die falsche Position vertritt, kann den Irrtum korrigieren. Und weil schlechte Gründe nur zufällig für richtige Positionen sprechen, werden sie einen nicht dauerhaft an diese binden. Wer beispielsweise links ist, weil es in der Bezugsgruppe gerade cool ist und ­Distinktionsgewinn verspricht, wird nicht links bleiben, wenn sich das ­ändert. Man kann sich zwar, einmal in guter Gesellschaft, von besseren Gründen überzeugen lassen, doch dann kommt es eben auf dieses Dazulernen an und darauf, aus den neuen, besseren Gründen Konsequenzen zu ziehen und diese nicht nur im Mund zu führen. Gerade in der politischen Debatte geraten die Grundlagen der Kritik leicht aus dem Blick. Es ist schön und gut, gegen den Kapitalismus, das Patriarchat, den Rassismus et cetera zu sein, die Frage ist jedoch: Warum, im Namen welcher Werte oder Prinzipien lehnt man all dies ab? Nur wer das Gewicht auf das Warum anstelle des Was legt, kann die Bereitschaft zur Fehlerkorrektur kultivieren. Der Dogmatismus dagegen kapriziert sich auf das Was; als guter Grund erscheint ihm, was das gewünschte Ergebnis zeitigt. Daher können dogmatisch denkende Menschen mitunter erstaunlich widersprüchliche Positionen vertreten. Manche von ihnen werfen in einem Satz der Gegenseite einen Fehler vor, nur um im nächsten Satz in der offensichtlichsten Weise den gleichen Fehler zu begehen – weil sie als falsch eben nur betrachten, was der Gegenseite nützt, und allzu bereitwillig jedes Argument als untadelig akzeptieren, wenn nur die Tendenz stimmt.

Gute Gründe gibt es nur für gute Positionen, doch jede Position lässt sich aus schlechten Gründen vertreten. Dass es schlechte Argumente für eine Position gibt, heißt nicht, dass die Position falsch ist. Ganz gleich, welche Position man vertritt: Man wird niemals lange suchen müssen, um andere zu finden, die dieselbe Position aus schlechten Gründen vertreten. Mit einer Meinung ist man immer in schlechter Gesellschaft. Wer schlechte Argumente für eine Posi­tion widerlegt, hat noch längst nicht die Position selbst widerlegt (und, siehe oben, sie vielleicht nicht einmal angegriffen). Deshalb muss man stets nach den stärksten Argumenten der Gegenseite Ausschau halten – und nach den schwächsten Argumenten, den möglichen blinden Flecken und Voreingenommenheiten der eigenen Position. Jede Äußerung lässt sich böswillig interpretieren, jede Position lässt sich zur Karikatur entstellen. Dogmatisches Denken versucht, den eigenen Standpunkt zu verteidigen und die der Gegenseite zu widerlegen. So lässt sich auch eine schlechte Position vertreten. Kritisches Denken versucht, die Argumente der Gegenseite zu verteidigen und die eigenen zu widerlegen; die Positionen, die dann übrig bleiben, taugen etwas.

Um eine Position kritisieren zu können, muss man zunächst in der Lage sein, sie korrekt wiederzugeben. Als Kriterium der Korrektheit kann hier sinnvollerweise nur die (mindestens potentielle) Zustimmung derer dienen, die die fragliche Position vertreten. Gerade hieran scheitern viele schlechtere Kritikversuche: Da die meisten Menschen kontroverse Themen vorwiegend mit zumindest annähernd Gleichgesinnten diskutieren, verselbständigt sich das Bild der Gegenseite leicht zu einer Kari­katur, in der die Gemeinten sich kaum noch wiedererkennen. Zahllose kritisch daherkommende Äußerungen und Texte dienen gar nicht der Kritik der Gegenposition, sondern der Abgrenzung von ihr; ihr (bewusstes oder unbewusstes) Ziel ist es nicht, irgendwen zu überzeugen, es geht vielmehr darum, die Zugehörigkeit zum eigenen Lager zu demonstrieren und Beifall von Gleichgesinnten zu ernten. Oft verbindet sich hiermit eine irregeleitete Vorstellung, der zufolge sich radikale Kritik dadurch auszeichne, die Gegenseite möglichst krass zu schmähen. Derlei jedoch ist weder kritisch noch radikal, im Gegenteil, es ist nur Selbsterhöhung auf Kosten anderer, Selbstgerechtigkeit, othering.

Auch wer in wichtigen Fragen unrecht hat, kann in anderen recht haben. Man hüte sich vor der Neigung, zu einem vermeintlichen Punkt eigener Stärke zurückzukehren, wenn man in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden ins Hintertreffen gerät. Auch wenn mein Gegenüber in bestimmten Bereichen Unsägliches vertritt, kann ich in anderen von ihm zu lernen haben. Und selbst in jenem Bereich, in dem die Gegenseite fundamental im Unrecht ist, kann sie in einigen Teilfragen recht haben oder doch zumindest triftige Einwände gegen meine – eigentlich überlegene – Position formulieren, beispielsweise auf Aspekte hinweisen, die ich vernachlässige. Dass Argumente in den Dienst einer schlechten Sache gestellt werden, zeigt nicht, dass diese Argumente falsch sind. Dass die ­Gegenseite unrecht hat, heißt nicht, dass ich recht habe.

Kritik anderer ist Hilfe zur Selbstkritik; Kritik an anderen ist der Übungsfall für Selbstkritik. Auch meine Position wird ihre Schwächen und blinden Flecken haben. Besonders gut darin, die Schwächen einer jeden Position zu erkennen, sind jeweils die Klügsten ihrer Gegnerinnen und Gegner. Es wäre offenkundig Ausdruck unangemessener Parteilichkeit, sich selbst und die Seinen über Parteilichkeit erhaben und nur »die anderen« ihr verfallen zu wähnen. Je mehr man solche Parteilichkeit bei anderen wahrnimmt, desto mehr muss man die Auseinandersetzung mit ihnen gleichsam nur als Training zur Selbstkritik betrachten. Hinter jeder Polemik lauert die Gefahr, auf andere zu projizieren, was man an sich selbst verdrängt, die Neigung, an anderen die Dämonen auszutreiben, die in der eigenen Brust wüten. Hier erweist sich die gerade im Politischen so verführerische, weil oft so leicht zu rechtfertigende Hyperparteilichkeit als fatal. Manifestes Unrecht verlangt in der Tat nach Empörung und Anklage, aber die schlimmsten Verbrechen der Menschheit an der Menschheit wurden mit pathologisch reinem Gewissen begangen, welches sich stets auch in besonders lauter Empörung über das Unrecht anderer äußert. Es geht nicht darum, den Menschenschindern mit Verständnis zu begegnen, sondern darum, sich in der Anklage fremden Unrechts stets mitgemeint zu fühlen, weil man derselben Fehler fähig ist wie jeder andere Mensch. Das methodische Gegenmittel besteht in der gezielten Kultivierung der Fähigkeit, die eigene Position wie eine fremde zu kritisieren. Denn auch jene, die ich anklage, fühlen sich im Recht, und die Tricks, mit denen sie das zuwege bringen, müssen mich interessieren, nicht, um die anderen als noch verworfener zu entblößen, sondern, weil sie mir zeigen können, was ich an mir selbst nicht wahrnehmen kann, aber dennoch aufspüren muss: wie man Kritik abwehrt, sich selbst betrügt, sich etwas vormacht.

Und schließlich: Es gibt keine besseren Menschen. Jeder hat das Bedürfnis nach moralischer Selbstrechtfertigung, nach Bestätigung des ­eigenen Selbstwertgefühls, danach, auf der richtigen Seite zu stehen. Deshalb ist man versucht, illegitime Abkürzungen zur Befriedigung ­dieser Bedürfnisse zu wählen, indem man sich als Mitglied einer Gruppe besserer Menschen imaginiert oder sich mit einer solchen Gruppe identifiziert. Rechte tun dies typischerweise, indem sie eine Gruppe, der sie sich selbst zurechnen, als überlegen darstellen. Linke appellieren statt an die Herrlichkeit überlegener Macht meist lieber an den Gerechtigkeitssinn, die Rechtschaffenheit der gegen das Imperium kämpfenden Rebellen und der um Emanzipation ringenden Unterdrückten. Aber die Unterdrückten, die Unterprivilegierten, die Opfer, die Erniedrigten und Elenden, die Minderheiten und Ausgestoßenen sind keine besseren Menschen. Sie können ebenso unrecht haben wie andere, und wenn sie weniger unrecht tun als die Mächtigen und Privilegierten, dann meist weniger aus moralischer Überlegenheit denn aus Mangel an Gelegenheit. So sehr man also um die Emanzipation und Erhebung dieser Gruppen kämpfen muss, so wenig darf man sie als über der Kritik stehend behandeln. Umgekehrt sollte klar sein, dass eine Gesellschaft, die Herren und Knechte, Unterdrückte und Unterdrücker, Ausbeuterinnen und Ausgebeutete kennt, Angehörige beider Gruppen als beschädigte, deformierte, korrumpierte Wesen zurücklässt. Wer nach einer besseren Welt streben will, muss für die Abschaffung von Unrecht kämpfen und nicht nur dafür, die Unterdrücker zu stürzen, um die Unterdrückten an ihre Stelle zu setzen.