Minimalismus als eskapistische Reaktion auf die Krise des Kapitalismus

Die Lösung ist nicht minimal

Linke Kritik an Minimalismus, Achtsamkeit, Selbstoptimierung und weiteren Formen neoliberaler Selbstzurichtung ist wichtig. Sie macht es sich aber oft zu leicht.

Mit berechtigter Verachtung blicken Linke auf moderne Büros, die mit Tischtennisplatten, Meditationsräumen, Gymnastikbällen und Mandelmilch aufwarten, in denen aber von Betriebsräten und Tarifverträgen geschwiegen werden soll. Minimalismus als Lebensweise, üblicherweise als Beschränkung auf das sogenannte Wesentliche definiert, liegt gerade im Trend, die Kritik am Konsumismus wirkt da schon betagter. Minimalismus ist dabei oft eine stilbewusste und nur vermeintlich konsumvermeidende Art, sich einzurichten. Wie die Forderung nach einem Grundeinkommen oder das alternative Leben in den Wäldern bietet diese Lifestyle-Entscheidung nur scheinbar einen Ausweg aus der totalitären Vergesellschaftung des Kapitals. Es ist völlig unangebracht, denjenigen, die am »Black Friday« dem Konsum frönen, Vorwürfe zu machen, vielmehr geht es darum, die systematische Überproduktion bei gleichzeitiger Unterversorgung zu kritisieren, die einen »Black Friday« überhaupt erst attraktiv macht. So oder so: Minimalismus muss man sich leisten können.

Der Lifestyle-Minimalismus ist ein hilfloser Versuch, in einer entgrenzten Welt individuelle Grenzen zu setzen.

Der bewusste Verzicht funktioniert klarerweise nur, wenn man genug hat, worauf man verzichten kann. Wer nichts hat, lebt nicht minimalistisch, sondern ist arm. Dann aber geht es eher darum, wenigstens das durchschnitt­liche Lebensniveau zu erreichen. Wer nichts hat, will lieber mehr als weniger. Die Leier »Weniger ist mehr!« der Trendminimalistinnen klingt höhnisch, wenn das »Weniger« durch materielle Armut erzwungen ist. Der Minimalismus der nichtbesitzenden Klasse heißt Prekarität, der leere Kühlschrank ist das Pendant zur leeren Wohnung, die der Minimalismus als Ideal vorstellt. In den Kommentarspalten heißt es dann selbstironisch: »Ich bin nicht mehr arm, ich bin ­Minimalist!«

Der Minimalismus als Lifestyle hat wie seine große Schwester, die Konsumkritik, keine Antwort auf die systemischen Probleme. Er ist vielmehr ein hilfloser Versuch, in einer entgrenzten Welt individuelle Grenzen zu setzen. Das ist zwar zum Scheitern verurteilt, kann aber die Ahnung ausdrücken, dass etwas falsch läuft. Minimalismus stellt genauso wenig wie Meditation, Yoga oder Achtsamkeitsgedöns die Grundwidersprüche in Frage, deckt sie nicht einmal auf. Aber solche Tech­niken können freie Zeit schaffen, Reflexion begünstigen und und damit eine gewisse individuelle Befreiung ermöglichen.

Moderner Minimalismus kann als Abwehrreflex gegen die Überforderung durch die Moderne und insbesondere die Überproduktion verstanden werden. Er drückt ein Verlangen nach Sinnstiftung, Gesundheit, Bewusstheit und Freiheit aus. Dabei geht es interessanterweise nicht nur um eine Reduktion materieller Dinge wie der Anzahl der Socken, sondern oft um den Versuch, sich den Forderungen einer spätkapitalistischen Gesellschaft möglichst zu entziehen. Ein Beispiel dafür ist das Herumexperimentieren mit einem digitalen Minimalismus, der sich nicht ­eigentlich gegen Konsum oder den angeblich zu vollen Kleiderschrank richtet, sondern versucht, weniger Zeit als die durchschnittlich vier bis sieben Stunden pro Tag vor dem Bildschirm zu verbringen.

Konsumkritik ist falsch und verkürzt, weil sie meint, man könne dem kapitalistischen System aktiv entgegentreten, indem man die »richtigen« Sachen kauft. Minimalismus stellt hingegen eine eskapistische Re­aktion dar auf die Krise des Kapitalismus und die Überforderung des Einzelnen. Weil Minimalisten meinen, dass sie das Angebot im Supermarktregal erschlägt, versuchen sie diesen Leidensdruck zu mindern, indem sie lieber gar nichts brauchen. Man spürt vielleicht, dass da etwas falsch ist, kann es aber nicht anders artikulieren als beschränkt auf sich selbst.

Diese Fixierung darauf, bei sich selbst anzufangen, ist ein Resultat neolibe­raler (Selbst-)Zurichtung. Du sollst nicht nur deines eigenen Glückes Schmied sein, sondern auch allen anderen Hufeisen und Kleeblätter schmieden. In einer Gesellschaft der Vereinzelten mag dies sinnvoll erscheinen, tatsächlich ist es (wie jede Verlagerung des Kampfs ins Private) eine Teilkapitulation vor den herrschenden Verhältnissen. Minimalismus ist somit auch Ausdruck dessen, dass wir in einem Wirtschaftssystem leben, das nicht auf unsere ­Bedürfnisse ausgerichtet ist, sondern auf die Verwertung des Werts.

Es gibt dank der vielen Arbeitskämpfe der vergangenen 150 Jahre mehr freie Zeit. Diese ermöglicht Selbstentfaltung und politische Aktion, aber das Kapital versteht sie zu verwerten. Das Reich der Notwendigkeit spielt das Klagelied der Lohnarbeit, und das sagenumwobene Reich der Freiheit macht … was? Dieses Reich der Freiheit ist nicht als bloße Negation des Reichs der Notwendigkeit zu verstehen. ­Unsere Freizeit ist nicht gleich Freizeit, sondern kann selbstbestimmte, bewusst verbrachte freie Zeit sein, unabhängig davon, ob man diese mit ­Fischerei, Jagd oder Kritik füllt – wie es Marx an einer berühmten Stelle anregte – oder sich bewusst für Muße und durchzechte Nächte entscheidet.

Ob American Dream oder werbe­induzierter Konsumismus: Das Kapital will sich auch die Freizeit aneignen und diese für die Realisierung von Mehrwert nutzen. Die Überforderung von der Konsumgesellschaft, die an die Instandhaltung von Dingen gebundene Zeit – das sind also Phänomene, die das Reich der Freiheit verkleinern und die Entfremdung vergrößern.

Minimalismus umfasst auch, nach unentfremdeter Arbeit statt nach ­Statussymbolen zu streben. Das pathetische Motto »Sei mehr mit weniger« verdient zwar Klassenhass, wenn es im Brustton der Überzeugung aus den Designerwohnungen der Schickeria erschallt. Es erinnert aber zugleich an Erich Fromms »Haben oder Sein« von 1976 und daran, dass die Linke in der Diskussion dieser Frage kaum weiter ist als Mitte der siebziger Jahre; hier lohnt es sich, weiter zu denken und solche Anregungen nicht in Bausch und Bogen zu verwerfen. Die Botschaft des Films »Fight Club«, dass die Dinge, die du besitzt, am Ende dich besitzen, sollte nicht nur als selbstgerechte Konsumkritik aufgefasst werden; sie kann vielmehr weiterentwickelt werden bis zur Einsicht in Entfremdung, Warenfetisch und Überproduktionskrisen. In einer klassenlosen Gesellschaft, in der es eben nicht um Konsum geht, sondern alle nur das haben, was sie glücklich macht und was sie zur vollen Entfaltung ihrer selbst brauchen, wäre Minimalismus vielleicht die Regel. Für alles andere lohnt entfremdende Arbeit ja nicht und das leidige Reich der Notwendigkeit muss ja nicht noch größer gemacht werden, als es unbedingt nötig ist.

Die minimalistische Weltenbummlerin, der alternative Aussteiger im Wald, die Fans eines bedingungslosen Grundeinkommens – all ihre Bemühungen, der Verwertung zu entkommen, sind zum Scheitern verurteilt. Den einfachen Ausweg kann man lange suchen, er ist nicht zu finden. Minimalismus hat mit Klassenkampf nichts zu tun und kann das für sich genommen auch niemals. Der herrschenden Verhältnisse auf diese Weise gewahr zu werden, ist aber vielleicht ein erster Schritt. Oder könnte es sein.