Ein Gespräch mit dem Historiker Mike Davis über die gesellschaftliche Produktion von Seuchen

»Alle Pandemien haben ihre eigene Sozialgeschichte«

Dass Seuchen entstehen, hat auch geopolitische und ökonomische Ursachen. Unter kapitalistischen Bedingungen gibt es spezifische Probleme bei der Eindämmung des Infektionsgeschehens.
Interview Von

Kalifornien, der US-amerikanische Bundesstaat, in dem Sie leben und dessen Sozial- und Umweltgeschichte Sie erforschen, ist katastrophengeplagt. Derzeit steigt die Zahl der Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 stetig. Es wurden Lazarette eingerichtet, um Krankenhäuser zu entlasten. Wie erleben Sie die Situation?

Ich lebe derzeit in San Diego. Kalifornien ist das neue Epizentrum der Pandemie in den Vereinigten Staaten. Die Krankenhäuser sind voll, die Intensivpflegestationen sind komplett ausgelastet. Wegen der Feiertage werden die Infektionszahlen in den kommenden Wochen rapide ansteigen. So reich dieser Bundesstaat auch ist, die Kapazitäten an Intensivbetten sind nicht ausreichend. Das könnte anders sein, weil diese Situation absehbar war. Aber Gavin Newsom, der demokratische Gouverneur Kaliforniens und eine Art limousine liberal (etwa: Champagnersozialist, Anm. d. Red.), stolperte in die Situation hinein. Die Todeszahlen in Pflegeheimen sind auch wegen mangelhafter Inspektionen außer Kontrolle geraten. Darüber hinaus wurde versäumt, prekär beschäftigte Arbeiter und Arbeiterinnen zu schützen. 47,4 Prozent der Menschen, die in Kalifornien an Covid-­19 gestorben sind, waren Latinos und Latinas.

Welche Gründe hatte das?

Ich spreche hier von Zustellern, die für Lieferdienste arbeiten, Lagerarbeiterinnen, Reinigungskräften in Krankenhäusern. Dass besonders viele von ihnen an Covid-19 sterben, ist auffällig und eine Konsequenz sozialer Ungleichheit. Latino-Arbeiter haben, was die Infektionsgefahr angeht, die gefährlichsten Berufe. Sie leben zudem oft beengt in Mehrgenerationenhaushalten. Der Staat hat nichts dafür getan, die Beschäftigten im Dienstleistungssektor zu schützen. Die Profite der Hightech-Industrie und des Liefergiganten Amazon haben im vergangenen Jahr alle Erwartungen übertroffen. Zugleich sind landesweit elf Millionen Menschen ohne Arbeit. Diese Zahl könnte sich noch verdoppeln, da wir in eine neue Phase der Rezession eintreten. Viele Arbeitsplätze werden dauerhaft ­verlorengehen. Unternehmen können diese krisenhafte Situation ausnutzen, die Belegschaften verkleinern und Automatisierung einführen. Schlecht kapitalisierte Serviceunternehmen sind bankrottgegangen oder wurden von Dienstleistungsriesen wie Amazon geschluckt. Wir sehen grundlegende strukturelle Veränderungen der US-amerikanischen Wirtschaft, die wahrscheinlich von Dauer sein werden.

Im Magazin Jacobin haben Sie geschrieben, der globale Kapitalismus sei unfähig, die »biologische Krise« zu bewältigen. Für Beschäftigte, die die kapitalistische Logistik am Laufen halten, stelle sich die Frage nach Lebenserhaltung oder Lebensunterhalt. Haben sie es trotz der widrigen Bedingungen geschafft, sich zu organisieren?

Es gab Widerstand auf zwei Ebenen. In den Firmenzentralen von Amazon und Google gab es bereits vor der Pandemie walkouts, es kam zu spontanen Betriebsversammlungen oder Streiks von Angestellten in der Software-Entwicklung. Es ging dabei um fehlende Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern, aber es waren auch Proteste gegen die Zusammenarbeit Amazons mit dem Verteidigungsministerium und der CIA.

In den Lagerhäusern gab es seit März eine Reihe von Streiks gegen Verstöße im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Die daraufhin auf Druck von Gewerkschaften per Gesetz eingeführte Gefahrenzulage und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gilt jedoch nicht für Dienstleistende, die Waren bearbeiten und liefern, denn sie sind meistens von Subunternehmen angestellt.

»Es ist nicht möglich, großflächige Waldbrände und das Grassieren neuartiger Viruserkrankungen getrennt voneinander zu betrachten.«

Im Falle von Amazon ist es äußerst erstaunlich, dass die Demokraten nicht auf die Idee gekommen sind, das Erheben von Überschussgewinnsteuern zu diskutieren. Mit diesem kriegsrechtlichen Steuerungsinstrument wurden während beider Weltkriege und während des Korea-Krieges Profite erfasst, die über dem Vorkriegsgewinn lagen. Durch hohe Steuersätze sollte verhindert werden, dass die Industrieunternehmen von der Kriegsführung profitieren. Heute wird diese Forderung mit Blick auf die ökonomischen Gewinner der Coronakrise nur äußerst selten artikuliert. Wir müssen dafür kämpfen, diese neue logistische Infrastruktur in Gemeineigentum zu überführen, weil sie so essentiell geworden ist wie etwa die Energieversorgung oder die Telekommunikation. Wir brauchen Lösungen, die – wie Marx sagen würde – die Ökonomie der Arbeiterklasse in der Hülle der kapitalistischen Produktionsverhältnisse vorwegnehmen.

Vergangenes Jahr haben Sie Ihr Buch über die Vogelgrippe von 2005 anlässlich der Covid-19-Pandemie unter dem Titel »The Monster Enters: Covid-19, Avian Flu and the Plagues of Capitalism« neu aufgelegt. Was verstehen Sie unter den »Seuchen des Kapitalismus«?

Alle Pandemien oder katastrophischen Krankheitsentwicklungen in der menschlichen Geschichte haben ihre eigene Sozialgeschichte. Die heutigen Bedrohungen durch Viruserkrankungen sind aufs engste verbunden mit der massiven Abholzung von Baumbeständen durch kapitalistische Unternehmen sowie mit der Massentierhaltung von Geflügel und Schweinen. Beide Entwicklungen sind ausschlaggebend für die Epidemien der vergangenen Jahre.

In meinem Buch über die Vogelgrippe zitiere ich Forschungen zu Westafrika, der Region mit der weltweit schnellsten Urbanisierung. Gegenstand der Untersuchung war der Golf von Guinea und die Invasion durch Fischereiflotten aus Europa, Russland, China und Japan. Die Stadtbevölkerung hatte ihren Bedarf an Proteinen durch Fisch abgedeckt, der zumeist von lokalen Fischern gefangen und vertrieben wurde. Die ausländischen Unternehmen haben 50 Prozent der Fischbestände geradezu aufgesaugt und exportiert. In England beispielsweise wurde damit Geflügel gefüttert.

Die Knappheit und die steigenden Preise für Fisch zwangen die westafrikanische Bevölkerung, sich alternative Proteinquellen zu suchen. Während also die Überfischung ihren Lauf nahm, fingen große internationale Holzfällereiunternehmen im Kongo, in Gabun und in Kamerun an, Hartholzwälder abzuholzen. Um ihre Arbeiter zu ernähren und die Ausgaben für die Reproduktion der Arbeitskraft niedrig zu halten, wurden Jäger angestellt, die alles schossen, was dort zu finden war. Die Studie spricht von 60 verschiedenen Arten, von Reptilien bis zu Säugetieren. Dieser ­sogenannte Buschfleischhandel florierte schließlich auch, um die urbane ­Bevölkerung Westafrikas zu versorgen. Das sind die Bedingungen, unter denen sich beispielsweise Ebola verbreiten konnte, die eine Übertragung von Infektionskrankheiten von Tieren auf Menschen befördern und so kommende Pandemien wahrscheinlicher machen.

Was könnte denn neben Sars-CoV-2 und seinen Mutationen noch auf die Menschheit zukommen?

Derzeit grassiert weltweit H5N5, ein Grippevirus, unter Geflügelpopulationen. Dieses Virus ist bekannt dafür, dass es verschiedene Mutationen ausbilden kann, die auch auf den Menschen überspringen können. Vermutlich werden diese noch bedrohlicher sein als das Sars-CoV-2.

In Kalifornien wie in anderen Teilen der Welt ist die Pandemie nicht die einzige Katastrophe. Hinzu kommen ökologische Katastrophen, extreme Trockenheit und unkontrollierbare Waldbrände. Einige US-amerikanische Ökomarxisten betonen den Zusammenhang dieser Entwicklungen. Teilen Sie diese Analysen?

Mit dem Klimawandel verbreiten sich Krankheitsüberträger, vor allem Moskitos, in Gegenden, in denen sie bislang nicht vorkamen. Alle tropischen Krankheiten, wie etwa Malaria, werden nach Norden migrieren und in Gegenden Schaden anrichten, die bisher nicht betroffen waren.

Hier in Kalifornien haben wir mit einer anderen Art von Pandemie zu kämpfen. Als Resultat der Erderwärmung verbreiten sich hier Baumkrankheiten und Pilze, die Eichen befallen und absterben lassen. Diese abgestorbenen Bäume beschleunigten die Waldbrände in den vergangenen paar Jahren. Das Problem existiert auch in anderen Gegenden, den großen Pinienwäldern im Südosten und den großen Wäldern in British Columbia.

Es ist einfach nicht möglich, großflächige Waldbrände, biologische Faktoren und das Grassieren neuartiger Viruserkrankungen, die von ihren ursprünglichen Reservoirs auf menschliche Gesellschaften übertragen werden, getrennt voneinander zu betrachten. Es gibt rund 1 500 Fledermausarten, die verschiedene Formen des Coronavirus in sich tragen, deren Verbreitung ­möglicherweise dieselbe Route nehmen könnten wie das derzeitige Virus. Es ist extrem wichtig, die verbliebenen Wildgebiete und Regenwälder zu schützen.

Noch einmal zurück zu den Auswirkungen der Pandemie: Fast überall kommen die Gesundheitssysteme an ihre Grenzen. Eingangs sagten Sie, das müsse nicht zwangsläufig so sein.

Wir sehen in der Bewältigung der Pandemie, wie unterschiedlich kapitalistische Gesellschaften verfasst sind. Doch selbst in Ländern mit dem besten und fortschrittlichsten Gesundheitssystemen kam es in den vergangenen 25 Jahren zu einer Erosion der Versorgung unter neoliberalen Vorzeichen. Schauen Sie sich den National Health Service in Großbritannien an. Ich habe in den achtziger Jahren für fast ein Jahrzehnt in Belfast und London gelebt. Es war phantastisch für einen US-amerikanischen Staatsbürger wie mich, einfach in eine Klinik zu gehen und kostenlose medizinische Behandlung in Anspruch nehmen zu können. Ich hatte großes Heimweh, aber das war ein Grund, dort zu bleiben. Nach Jahren des Thatcherismus, dem Abbau unter den Torys und jetzt während der Pandemie wird einem bewusst, wie heruntergekommen das System eigentlich ist.

Was sollte Ihrer Meinung nach politisch aus dieser Erkenntnis folgen?

Die Pandemie sollte unser Augenmerk auf die älteste und wichtigste Debatte im Bereich der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (public health) lenken. Historisch gesehen gab es hier zwei Modelle. Zum einen dasjenige, welches aus dem Erfolg der US-amerikanischen Militärmedizin in der Bekämpfung des Gelbfiebers resultierte. Der Bau des Panamakanals in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam aufgrund der Erkrankung der Arbeiter zeitweilig zum Erliegen. Mit der Fertigstellung des Kanals drohte eine Verbreitung der Krankheit durch Reisetätigkeit und Schifffahrt. Die medizinischen Forschungen wurden schließlich von der Rockefeller Foundation weitergeführt und finanziert, die immer noch einer der größten Investoren in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge ist. Der Militärmedizin ging es immer um Kampagnen, ähnlich militärischen Einsätzen, gegen eine spezifische Erkrankung oder einen spezifischen Überträger wie den Moskito, zielgerichtet und abhängig von der Entwicklung eines Impfstoffs. Dieser wurde im Falle des Gelbfiebers 1925 erstmals getestet.

Doch dieses Modell kam nach 1945 in der UN-Weltgesundheitsorganisation (WHO) immer wieder in Konflikt mit einem anderen, dem der Sozialmedizin. Dieses war erstmals von jungen deutschen Ärzten wie Rudolf Virchow propagiert worden, der auch an der Märzrevolution von 1848/1849 teilnahm. Die Verbreitung von Infektionskrankheiten sollte mit der Verbesserung der Lebensumstände und der Einrichtung einer staatlichen medizinischen Grundversorgung bekämpft werden. Ihre vehementesten Fürsprecher hatte die Sozialmedizin in Lateinamerika. Ich denke an Salvador Allende, den jungen Arzt, der von 1938 bis 1940 für ­kurze Zeit Gesundheitsminister in der Regierung des Frente Popular in Chile war und später die Grundsteine für das chilenische Gesundheitssystem legte.

Die Wiederaufnahme sozialmedizinischer Debatten könnte ein langfristiges Ergebnis der Pandemie sein. Der Konkurrenzkampf in der Impfstoffentwicklung und -verteilung hat ja noch weitere Probleme der Pandemiebekämpfung unter kapitalistischen Bedingungen offengelegt.

Selbst in Ländern, in denen eine annehmbare Versorgung stattfindet, ist diese abhängig von pharmazeutischen Giganten, die antivirale und antibiotische Medikamente produzieren. Was selbst während der Pandemie nicht ausreichend betont wird, ist, dass weiterhin auch Menschen an Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien sterben, in den USA 30 000 bis 40 000 pro Jahr. Antibiotikaforschung ist nicht profitabel für Großkonzerne.

Das wichtigste Geschäftsmodell in diesem Bereich ist das intellektuelle Eigentum, der Besitz von Patentrechten. Die eigentliche Forschung wird aber nicht von den Pharmakonzernen gemacht. In den Vereinigten Staaten wird diese vor allem an öffentlichen Universitäten vorangebracht. Sie wird dann von denjenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kapitalisiert, die zusätzlich pharmazeutische oder biomedizinische Unternehmen leiten. Diese werden oftmals von großen Pharmakonzernen aufgekauft. Es gab große Erfolge und revolutionäre Fortschritte im molekularen Design, bei der genetischen Sequenzierung und in der Biotechnologie. Pharmamonopole stehen zwischen den Potentialen dieser neuen Wissenschaften, deren Macht wir in der jüngsten Entwicklung von Vakzinen gesehen haben, und ihrer Umwandlung in ein öffentliches Gut.

»Pharmamonopole stehen zwischen den Potentialen der neuen Wissenschaften und ihrer Umwandlung in ein öffentliches Gut.«

In den Vereinigten Staaten wurde die Forschung von Moderna am Covid-19-Vakzin mit fast einer Billion US-Dollar subventioniert. Die Profite jedoch behält das Unternehmen. In den USA weiß kaum jemand, dass der Impfstoff von Biontech und Pfizer auch aus deutschen Steuergeldern bezahlt wurde. Wir müssen in Erwägung ziehen, die Entwicklung lebenswichtiger Medikamente komplett aus öffentlicher Hand zu finanzieren. Die Regierung sollte mit kleinen, innovativen Unternehmen zusammenarbeiten.

Mittlerweile sind die ersten Impfkampagnen angelaufen, auch in den Vereinigten Staaten. Wie wurde über die Verteilung des Impfstoffs diskutiert?

In den USA gab es eine zutiefst nationalistische Herangehensweise unter der Regierung Trump. Die Verteilung des Impfstoffs an Entwicklungsländer, wie sie etwa das Projekt Covax zum Ziel hat, wurde boykottiert. Wir können uns glücklich schätzen, dass die Zahl der Toten in megacities mit dicht besiedelten Slums nicht noch höher ist. Aber ein bedeutender Anstieg ist immer noch zu befürchten, vor allem deswegen, weil der Impfstoff dort nicht in absehbarer Zeit verfügbar sein wird. Die WHO spricht von der Verfügbarkeit ab 2024.
Leider gibt es in dieser Hinsicht bei den Demokraten und auch in der US-amerikanischen Linken ein Defizit internationalistischen Denkens. In den ­demokratischen Debatten während der Vorwahlen wurden Fragen globaler Armut, globaler Arbeit und globaler Krankheiten vollkommen ausgespart.

Mit gesundheitspolitischem Denken jenseits nationaler Begrenzungen ist es nicht besonders weit her während der Covid-19-Pandemie?

Die Rolle internationaler und transnationaler Institutionen im globalen Kapitalismus hat sich fundamental verändert. Während auf der einen Seite die Weltbank und der Internationale Währungsfonds entscheidend für die Reproduktion des Kapitalismus auf globaler Ebene bleiben, scheitern andere transnationale Institutionen, wie man an der Marginalisierung der WHO sieht. Wenn Sie mich vor ein paar Jahren gefragt hätten, wer die ökonomische und politische Hegemonie der USA ablöst, hätte ich geantwortet: die Europäische Union. Sie ist der größte ökonomische Zusammenschluss, sie zeichnet sich durch größeren politischen Realismus aus. Aber was wir in Europa seit März beobachten konnten, ist unglaublich. Bereits nach kürzester Zeit in dieser Ausnahmesituation kontrollierte jeder Nationalstaat für sich sein ­eigenes Gesundheitssystem, agierte nach nationalen Notfallplänen für ­Katastrophenfälle wie eine Pandemie.

 

Mike Davis ist Historiker und Soziologe. Bereits 2005 veröffentlichte er das Buch »Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien« Darin untersucht er die geopolitischen und ökonomischen Bedingungen der Entstehung und Verbreitung von Seuchen.