Im Gespräch mit dem Ökonomen Gábor Scheiring über die soziale Basis der autoritären Rechten Ungarns und die Politik der EU

»Fidesz vertrat immer das ungarische Kapital«

Die Regierung Viktor Orbáns begünstigt ihr nahestehende Unternehmer, von ihrer Politik profitieren aber auch ausländische Investoren. Nicht zuletzt deshalb zögert die EU, Sanktionen zu verhängen.
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Im November einigte sich die EU auf einen neuen Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit. ­Vorausgegangen war ein Konflikt mit Ungarn und Polen. Wer hat sich durchgesetzt?

Bei dem Konflikt ging es um die EU-­Finanzmittel. Dieses Geld spielt in Ungarn eine wichtige Rolle. Es fließt an loyale Kapitalisten und Oligarchen aus dem Kreis um Ministerpräsident Viktor Orbán, und an die ökonomischen Eliten, die seine nationalistische Politik unterstützen. Für Orbán stand also viel auf dem Spiel. Der Druck auf die EU, etwas gegen den Illiberalismus in Osteuropa zu unternehmen, steigt seit Jahren, aber außer Erklärungen und Resolutionen hat sie nichts zustande ­gebracht. Der Rechtsstaatsmechanismus ist der erste Schritt zu echten Sanktionen. Allerdings geht es bei diesem Mechanismus nicht wie erhofft um Demokratie, Rechtsstaat und die Freiheit der Medien, sondern allein um korrupte Verwendung des EU-Geldern. Außerdem hat Orbán einen Aufschub bis 2022 erreicht. Dann wird es in Ungarn Wahlen geben, und bis dahin kann er weiter EU-Gelder verteilen, wie er will. Für mich zeigt dieser traurige Kompromiss, was in der EU wirklich zählt: nicht die Demokratie, sondern das Geld.

Warum ist die EU eingeknickt?

Von den EU-Zahlungen profitieren nicht nur Orbáns Freunde, sondern letztlich alle Kapitalisten in Ungarn, auch die ausländischen Investoren. Ungarn hat mit neun Prozent eine der niedrigsten Unternehmenssteuerraten in der EU, was es sich nur wegen der EU-Gelder leisten kann. Die großen internationalen Konzerne, insbesondere die deutschen Industriefirmen, zahlen wegen Steuernachlässen meist nur um die drei Prozent, dazu kommen oft Subventionen. Überhaupt fließt ein großer Teil des EU-Geldes über internationale Unternehmen und ihre Wertschöpfungsketten zurück nach Westeuropa.

Noch im vergangenen Jahr, als Korruption und Zerstörung der Demokratie schon lange kein Geheimnis mehr waren, lobte Bundeskanzlerin Angela Merkel die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns, zu der die EU beigetragen habe. Das hat noch einmal deutlich gemacht, wie nah die deutschen Konservativen Orbán stehen. Vor allem für deutsche Autokonzerne ist Ungarn wichtig, und Ungarn war 2019 der größte Importeur deutscher Waffen. Im Herbst gab Ungarn den Bau einer riesigen Rheinmetall-Panzerfabrik bekannt. Zu einer neuen Mercedes-Fabrik schießt der ungarische Staat 52 Millionen Euro zu. Orbán weiß: Solange er die ausländischen Firmen glücklich macht und Westeuropa Geld bringt, kommt er auch mit der Zerstörung der Demokratie davon.

Was für eine Rolle spielt ausländisches Kapital in der ungarischen Wirtschaft?

Die Abhängigkeit von ausländischen Investitionen prägt Osteuropa seit dem Ende des Sozialismus. Es siedelte sich viel ausländische Industrie an, die oft für den Export produziert. Ungarn ist bis heutzutage eine desintegrierte Wirtschaft, mit einer großen Lücke zwischen den hochentwickelten, effizienten transnationalen Unternehmen und den ungarischen Firmen. Diese lieferten den ausländischen Konzernen oft nur Material oder Dienstleistungen wie Werkschutz und Reinigung. Die meisten Profite blieben bei transnationalen Konzernen konzentriert und wurden großteils in deren Herkunftsländer transferiert. Es ist ein von Abhängigkeit geprägtes Wirtschaftsmodell, bei dem die Löhne nicht stark steigen und der Rest der Wirtschaft vom hochproduktiven transnationalen Sektor abgehängt bleibt.

Hat Orbáns Partei Fidesz versprochen, das zu ändern?

Ja, Fidesz wurde zunächst von einer Gegenbewegung des ungarischen Kapitals getragen. Die sozialdemokratische Regierung verfolgte ein auf ausländischen Investitionen basierendes Entwicklungsmodell. In den frühen nuller Jahren entwarf Fidesz als Oppositionspartei ein nationalistisches Wirtschaftsprogramm, es entstand ein Netzwerk aus nationalistischen Politikern, Technokraten und ungarischen Kapitalisten, eine neue Machtkoalition. Natürlich hat Fidesz die Dominanz des ausländischen Kapitals nicht beendet. Man sagte, ihr könnt die wichtigsten Investitionsfelder behalten, wir werden euch sogar noch mehr unterstützen, aber wir werden die heimischen Kapitalisten fördern, vor allem in ­Sektoren, die nur den heimischen Markt betreffen: Einzelhandel, Banken, Me­dien, Landwirtschaft, Bauwirtschaft, Tabakhandel.

Dort sind Firmen tätig, die kein ­Interesse an hochtechnisierter Produktion, an gut ausgebildeten Arbeitskräften und Forschung haben. Sie brauchen billige Arbeiter, deshalb hat die Fidesz-Regierung das Bildungs­system und die Arbeitsgesetze umstrukturiert. Viele der Maßnahmen kamen auch ausländischen Investoren zugute, etwa die Schwächung der Gewerkschaften – aber die Kürzungen im Bildungsbereich zum Beispiel sind nicht unbedingt in deren Interesse. Das ausländische Kapital profitiert zwar auch, aber die Fidesz-Wirtschaftspolitik geht auf die enge Allianz der Regierung mit dem heimischen Kapital zurück.

Aber wurde Fidesz nicht auch von Arbeitern gewählt?

Fidesz vertrat immer das ungarische Kapital, das im Tandem mit dem transnationalen Kapital herrschen wollte, statt marginalisiert zu sein. Aber um eine Mehrheit zu gewinnen, sah Fidesz eine Chance vor allem in den deindus­trialisierten Regionen. Die wählten traditionell sozialdemokratisch, doch die Sozialistische Partei (MSZP) hatte sie lange vernachlässigt. Sie war eine sehr neoliberale Partei, die das Gesundheitssystem privatisieren wollte und Budgets kürzte. Der Übergang zum Kapitalismus traf viele Ungarn sehr hart, 1,5 Millionen Arbeitsplätze verschwanden. Die Menschen verloren auch ­Zugang zu staatlichen Leistungen. Bald waren zwei Drittel der Ungarn enttäuscht vom Kapitalismus, in dieser Zeit wuchs der Nationalismus, in ­welchem sich die Wut der Menschen über die wirtschaftlichen Verhältnisse ausdrückte. Eine linke Alternative gab es nicht mehr, also sahen sich die Menschen als Mitglied einer Nation, die allein sie vor diesen neuen ökonomischen Unsicherheiten schützen könne. Fidesz hat diese nationalistische Stimmung geschürt. Bei den Wahlen 2010 liefen die Arbeiter dann massenhaft von den Sozialdemokraten zu Fidesz oder zur damals rechtsextremen Jobbik über.

Weil die Fidesz-Politik vor allem dem heimischen Kapital dient, sind Arbeiter natürlich nicht die Gewinner gewesen. Der Nationalismus hilft seitdem, die Loyalität zumindest eines Teils der Arbeiterschaft zur Regierung zu erhalten. Unter Fidesz überlagern kulturelle Spannungen die wirtschaftlichen: Es geht nicht darum, dass du keinen guten Arbeitsplatz findest, sondern die Migranten kommen und nehmen dir alles weg; dabei hilft ihnen George Soros, der böse globale Investor, der das Land zerstört.

Was für sozioökonomische Veränderungen hat Fidesz eingeleitet?

Die Regierung will eine nationale Bourgeoisie schaffen. Dazu päppelt sie nicht nur heimisches Kapital, sondern auch die obere Mittelschicht. Das Steuersystem wurde zugunsten von Wohl­habenden umstrukturiert und auch Sozialausgaben sind von unteren zu höheren Einkommensgruppen umgeleitet worden. Die Einkommensungleichheit, die auch nach dem Übergang zum Kapitalismus lange gering war, ist unter Orbán dramatisch gewachsen. Auch das Wachstum der vergangenen Jahre kam vor allem der Oberschicht zugute, die nun materiell mit der westeuropäischen Oberschicht mithalten kann, während die untere Mittelschicht kaum mehr als das niedrigste Einkommenszehntel in Deutschland verdient.

Warum ist Fidesz trotzdem so ­populär?

Zunächst ist da der autoritäre Populismus, die Kampagnen gegen Einwanderer zum Beispiel, oder Propaganda, die darauf zielt, neue moralische ­Hierarchien zu etablieren. Die Regierung greift Obdachlose und die Ärmsten an, damit die »arbeitende Bevölkerung« sich aufgewertet fühlt. Das ist die Software des Illiberalismus, wenn man so will. Die Hardware wären dann die Institutionen, die Fidesz umgebaut hat: Verfassung, Wahlrecht, Gerichte und die Medien. Nach Fernsehen und Zeitungen wendet sich Fidesz jetzt dem Internet zu, bisher ein Refugium der unabhängigen Presse. So bleibt ­Fidesz an der Macht, auch wenn ihre Wirtschaftspolitik nur wenigen zugute kommt.

Wo gibt es Widerstand gegen die ­Regierung?

2019 gelang es der Opposition, die Kommunalwahlen in einigen großen Städten zu gewinnen. Liberale, eher wohlhabende Menschen, die materiell von der Regierungspolitik profitieren, aber denen Werte wie liberale Institutionen und Medienpluralismus wichtig sind, sind die wichtigste Stütze der Opposition, gemeinsam mit vielen weniger gut gestellten Menschen in den Städten. Aber die Menschen in Budapest gehören, im Vergleich zu den Einwohnern der deindustrialisierten kleinen und mittelgroßen Städte, zur oberen Mittelschicht. Die große Herausforderung ist es, Menschen in den kleineren Städten und ehemaligen ­Industrieregionen zurückzugewinnen, wo nun mal die Mehrheit der Ungarn lebt, aber das scheint derzeit kaum möglich.

Diese Konstellation erinnert an die USA.

Ja, ich sage meinen US-amerikanischen Kollegen immer, dass viele post­industrielle und ländliche Gegenden in den USA mehr Ähnlichkeit mit Ost- als mit Westeuropa haben, wo der Staat Wirtschaftsräume nicht im gleichen Maße vernachlässigt. Es gibt ein globales Phänomen, das man eine »nationalpopulistische Imitation des Neoliberalismus« nennen könnte: Die alte, optimistische Politik des Neo­liberalismus aus den neunziger Jahren mit dem Fokus auf Globalisierung funktioniert nicht mehr, also konzentriert sich die neoliberale Rechte auf Nation und Populismus. Rechte Wirtschaftseliten nutzen den Populismus, weil er ihnen erlaubt, die Umverteilung nach oben fortzusetzen, ob in Ungarn, in den USA unter Trump oder in Großbritannien durch den »Brexit«.

ine solche Politik kann nur funktionieren, wenn es keine starke ­Linke mehr gibt.

Die Linke ist ja auch besiegt worden. Sie ist in Großbritannien besiegt worden, und in Polen hat man die Wahl zwischen einer nationalpopulistischen Rechten und einer konservativen Rechten. In Ungarn gibt es die autoritäre Rechte der Fidesz und die ehemals Rechtsextremen um Jobbik sowie moderate Liberale in der Opposition. Die Linke als Kraft mit sozialer Basis in der Arbeiterschicht ist verschwunden. Will man aber die Rechte entmachten, muss man es irgendwie schaffen, auch die desillusionierte Arbeiterklasse wieder anzusprechen.