150 Jahre Paragraph 218 sind genug

Mehr als nur Pro-Choice

Den Abtreibungsparagraphen 218 gibt es bereits seit 150 Jahren. Nicht alle Strategien der Pro-Choice-Bewegung dagegen sind tatsächlich hilfreich.

Der Paragraph 218, der Abtreibungen verbietet, wird dieses Jahr 150 Jahre alt. Er stand von Anfang an im Strafgesetzbuch, das 1871 im gerade neu gegründeten Deutschen Reich erlassen wurde. Ein Schwangerschaftsabbruch galt demnach als Tötungsdelikt und wurde mit mindestens sechs Monaten Gefängnis bestraft. Bereits in der Weimarer Republik gab es Massenproteste gegen den »Klassenparagraphen«, eine Liberalisierung konnte aber nicht erreicht werden. Im Nationalsozialismus wurde die Todesstrafe für gewerbliche Abbrüche eingeführt, sie galten als »Angriffe auf Rasse und Erbgut«. Abtreibungen aus eugenischen Gründen wurden hingegen erlaubt.

Die DDR führte ab 1968 ein eigenes Strafgesetzbuch ein, die Paragraphen 153 bis 155 legalisierten ab 1972 die »Schwangerschaftsunterbrechung« in den ersten zwölf Wochen und führten das Recht der ungewollt Schwangeren auf diesen Eingriff ein. In der Bundesrepublik erkämpfte eine breite feministische Bewegung Anfang der siebziger Jahre eine Fristenregelung, die das Bundesverfassungsgericht jedoch 1974 als nicht mit dem Lebensschutz vereinbar zurückwies; eine Indikationslösung für medizinische, embryopathische und kriminologische Ausnahmesituationen war die Folge. Der Beitritt der DDR zur BRD machte eine Neuregelung nötig. Nach einem zweiten Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993, das eine »grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes« festgestellt hatte, schien die Zwangsberatungsregelung zwar nicht ideal, aber die beste erreichbare Lösung zu sein.

Pro-Choice-Gruppen sollten das Recht auf Abtreibung nicht damit rechtfertigen, dass sich schon alle verantwortungsvoll verhalten würden, wenn Abtreibungen legal möglich wären.

Seit 1995 sind Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche per Gesetz »rechtswidrig, aber straffrei«, wenn die schwangere Person sich von einer Beratungsstelle beraten lässt und danach drei Tage Bedenkzeit bis zum Abbruch einhält. Nach einer Vergewaltigung und wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren gefährdet sind, ist ein Abbruch nicht nur straffrei, sondern legal. Dann übernehmen auch die Krankenkassen die Kosten. Bei »rechtswidrigen« Schwangerschaftsabbrüchen kann eine ungewollt Schwangere, wenn ihr Einkommen unter einer gewissen Grenze liegt, eine Kostenübernahme bei einer Krankenkasse beantragen, die Kosten werden von den Ländern übernommen.

Die deutsche Pro-Choice-Bewegung konzentrierte sich in den folgenden Jahren darauf, die Hürde der Zwangsberatung möglichst niedrig zu halten, und es wurde zunächst wieder ruhig um den Paragraphen. Inzwischen finden über 95 Prozent der jährlich etwa 100 000 Abbrüche in Deutschland nach der Beratungsregelung statt und sind somit formal rechtswidrig.

Abtreibungswilligen werden noch weitere Steine in den Weg gelegt. Das sogenannte Werbeverbot nach Paragraph 219a schränkt den Zugang zu Informationen über Schwangerschaftsabbrüche ein. »Lebensschutz«-Organisationen verbreiten im Internet Lügen über die Gefährlichkeit von Abtreibungen. In manchen Regionen wie Niederbayern und Städten wie in Trier und Fulda ist es schwierig, eine Ärztin zu finden, die bereit ist, den medizinisch harmlosen Eingriff vorzunehmen. Schätzungen gehen davon aus, dass jede vierte bis fünfte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben abtreibt.

Seit etwa zehn Jahren ist die feministische Forderung, den Abtreibungsparagraphen zu streichen, wieder lauter geworden. Den seit 2008 jährlich stattfindenden Berliner »Märschen für das Leben« christlicher Fundamentalistinnen stellten sich immer mehr Feministinnen entgegen. Die seit 2017 ergangenen Gerichtsurteile gegen die Gießener Ärztin Kristina Hänel wegen Verstoßes gegen das »Werbeverbot« haben die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt und viele junge Frauen empört.

Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland findet mittlerweile, dass ein Abbruch erlaubt sein sollte, wenn die Schwangere sich dafür entscheidet. Trotzdem haftet einer Abtreibung in vielen Kreisen immer noch etwas Unmoralisches an. Neben den rechtlichen Barrieren beim Zugang erleben ungewollt Schwangere diese gesellschaftliche Stigmatisierung oftmals als sehr belastend. Aus Angst, moralisch verurteilt zu werden, verschweigen sie häufig ihre Erfahrungen, erzählen es nur oder nicht einmal der besten Freundin. Die Stigmatisierung kann Schuld- und Schamgefühle auslösen und zu verzögerter Inanspruchnahme von Hilfe führen und so den ohnehin schon vorhandenen Zeitdruck weiter verschärfen.

Das Abtreibungsstigma basiert auf traditionellen Bildern von Weiblichkeit: Frauen haben demnach Sex zur Fortpflanzung und nicht aus Lust, sie stellen ihre Bedürfnisse gern zugunsten anderer zurück und sind von Natur aus zur Mutterschaft bestimmt. Dem widerspricht der Abbruch einer Schwangerschaft. Schwangere, die abtreiben, entscheiden sich gegen Mutterschaft und stellen ihre eigenen Bedürfnisse an erste Stelle – der konservativen Auffassung zufolge handeln sie damit gegen ihre Natur. Der Wunsch abzutreiben kollidiert zudem mit vorherrschenden neoliberalen Ideen, alles im Leben planen, kontrollieren und optimieren zu können und zu sollen: Das autonome, selbstbestimmte Subjekt weiß, was gut ist und verhält sich entsprechend diszipliniert – eine ungewollte Schwangerschaft wird so zum Planungsversagen.

Um Abtreibungen zu entstigmatisieren, haben Pro-Choice-Gruppen in den vergangenen Jahren vermehrt dazu aufgerufen, Erfahrungen mit Schwangerschaftsabbrüchen öffentlich zu machen, wie die feministische Gruppe e*vibes aus Dresden unter dem Motto: »Lasst uns das Schweigen brechen!« Auf Twitter und Instagram berichten Frauen unter den Hashtags #HonestAbortion und #YouKnowMe von ihren Abbrucherfahrungen. Viele Beiträge lesen sich allerdings wie Rechtfertigungen: Ihre schwierigen Lebensumstände erlaubten kein Kind; sie hätten bereits viele Kinder; sie seien schwanger geworden, obwohl sie verantwortungsbewusst verhütet hätten; außerdem sei ihnen die Entscheidung nicht leichtgefallen. Die Geschichten zeigen, dass das Abtreibungsstigma auch dort wirkt, wo man es eigentlich bekämpfen will.

Die Strategie, Abbrucherfahrungen öffentlich zu machen, kann der Tabuisierung des Themas entgegenwirken. Wenn sie aber vor allem Geschichten von der schwierigen, aber verantwortungsvoll getroffenen Entscheidung kolportieren, kann das auch dazu beitragen, moralische Ansprüche an Schwangere zu verfestigen, statt sie abzubauen. Das Recht auf Abtreibung wird so vor allem dadurch legitimiert, dass die Schwangeren eine »vernünftige« und »schwere« Entscheidung treffen, nachdem die verantwortungsvoll geplante Verhütung leider versagt hat.

Aber Personen, die keine Kinder haben wollen, fällt die Entscheidung, einen Abbruch vornehmen zu lassen, vielleicht gar nicht schwer. Zudem kann Verhütung auch lästig, ungesund, teuer oder gerade nicht zur Hand sein. Einer großen Studie zur Frauengesundheit von 2012 zufolge kommen über 57 Prozent aller ungewollten Schwangerschaften durch Geschlechtsverkehr ohne Verhütung zustande, etwa die Hälfte von ihnen wird letztlich abgebrochen. Eine solche Pro-Choice-Rhetorik läuft Gefahr, die Idealfigur der schwer mit sich ringenden Schwangeren zu konstruieren. Die damit einhergehende Unterteilung in verantwortungsvolle und leichtfertige Schwangere kann mit ihren Anklängen an stereotype Frauenbilder von Heiliger und Hure keine gute Strategie für die Durchsetzung des Rechts auf Abtreibung sein. Das Bild einer gleichsam heiligen ungewollt Schwangeren als Ideal darzustellen, ist eine Konzession an frauenfeindliche Positionen, die auf die Kontrolle von Frauen und ihrer re­produktiven Entscheidungen zielen. Die Botschaft lautet: Ihr braucht kein Strafgesetz wie den Paragrafen 218, wir machen das von alleine richtig. Der Entstigmatisierung und Erleichterung von Abtreibungen dient das nicht ­unbedingt. Pro-Choice-Gruppen sollten das Recht auf Abtreibung nicht damit rechtfertigen, dass sich schon alle verantwortungsvoll verhalten würden, wenn Abtreibungen legal, kostenlos und ohne Zwangsberatung möglich wären. Wenn die stellvertretende Vorsitzende des Familienplanungsverbands Pro Familia, Stephanie Schlitt in einem aktuellen Interview in der Frankfurter Rundschau vorschlägt, jede Entscheidung der Schwangeren als »zutiefst moralische« aufzuwerten, geht das leider in falsche Richtung.

Entstigmatisierung bedeutet Entmora­lisierung. Hierfür wäre eine klare feministische Position wichtig, dass Schwangerschaftsabbrüche denselben mora­lischen Status haben wie die ­Extraktion eines Weisheitszahns – nämlich gar keinen.

Ein weiteres Problem ist der weitgehend positive Bezug der Pro-Choice-Bewegung auf die vermeintlich selbstbestimmten Entscheidungen eines autonomen Subjekts. Die Bedingungen, unter denen diese Entscheidungen stattfinden, nämlich die Plan- und Machbarkeitslogik einer behindertenfeindlichen Gesellschaft, werden selten in den Blick genommen. Dabei ist es für eine erfolgreiche Frau heutzutage normal, ihre Reproduktionsfähigkeit verantwortungsbewusst zu kontrollieren: Wann sie mit wem wie viele Kinder bekommt, kann sie weitgehend frei entscheiden. Dass diese Kinder einen erhöhten Betreuungsaufwand benötigen, muss in so einer Lebensplanung aber möglichst ausgeschlossen werden. So erscheint die Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik und Abtreibungen von Föten mit diagnostizierten Behinderungen als selbstbestimmte und verantwortungsbewusste, wenn auch schwere Entscheidung. Feministinnen mit Behinderung weisen hingegen seit Jahrzehnten darauf hin, dass Schwangere nur wirklich selbstbestimmt und unbeeinflusst entscheiden können, wenn es keinen gesellschaftlichen Druck mehr gibt, nichtbehinderte, vermeintlich unkomplizierte Kinder zu bekommen.

Wenn Feministinnen den Paragraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch streichen und auf den Müllhaufen der Geschichte befördern wollen, sollten sie ihre Argumentation radikalisieren: Abtreibung ist nicht nur ein schlechtes, aber notwendiges Mittel zur rationalen Planung und Optimierung des eigenen Lebens. Abzutreiben kann auch bedeuten, nicht planen zu wollen, sondern Entscheidungen auf sich zukommen zu lassen, sich Fehler und Unklarheiten zu erlauben und sich den gesellschaftlichen Anforderungen zu Mutterrolle und Karrierefrau zu widersetzen. Das Recht auf Abtreibung sollte damit immer auch als radikale Zurückweisung weiblicher Reproduktions- und Planungsverantwortung verstanden und erkämpft werden.