Kritik an der Forderung, die Namen von rechtsextremen Tätern nicht zu nennen

Keine Tat ohne Täter

Die Namen von rechtsextremen Tätern nicht zu nennen, wie nach dem Anschlag von Hanau von vielen gefordert, trägt nicht zur Verhinderung von Nachahmungstaten bei.

Am Jahrestag eines Anschlags heißt es häufig »Say their names«: Hinterbliebene und Überlebende appellieren an die Öffentlichkeit, die Namen der Opfer nicht zu vergessen. Die Namen der Täter sollen dagegen möglichst gar nicht genannt werden. Eine der prominentesten Fürsprecherinnen dieser Praxis ist die neuseeländische Ministerpräsidentin Jacinda Ardern. Sie hielt am 19. März 2019, vier Tage, nachdem ein rechtsextremer Terrorist im neuseeländischen Christchurch zwei Moscheen angegriffen und dabei 51 Menschen ermordet sowie 50 weitere teils schwer verletzt hatte, eine emotionale Parlamentsrede, die um die Welt ging. Darin erklärte sie, sie würde den Namen des Attentäters niemals nennen und forderte die Menschen auf, es ihr gleichzutun: »Er mag nach Berühmtheit gestrebt haben, aber wir in Neuseeland werden ihm nichts geben. Nicht einmal seinen Namen.« Dass dies auch eine Botschaft an potentielle Nachahmungstäter sei, sagte Ardern in ihrer Rede nicht, aber so verstanden sie offenbar viele, auch hierzulande.

Für die Bewertung des Tatgeschehens und seines Hinter­grunds ist es gleichgültig, ob man den Täter Tobias R. oder Tobias Rathjen nennt.

Nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) am 1. Juni 2019 sowie den rechtsextremen Terrorakten in Halle am 9. Oktober 2019 mit zwei und in Hanau am 19. Februar 2020 mit zehn Todes­opfern gingen verschiedene Medien bis hin zur »Tagesschau« der ARD dazu über, Bilder der Täter zu verpixeln und ihre Nachnamen abzukürzen. Dies war im Juli 2020 auch von Überlebenden des Attentats von Halle, die im Prozess als Nebenkläger auftraten, in einem offenen Brief angeregt worden: »Wir bitten die Medien, sich uns bei der Weigerung anzuschließen, den Namen des Angeklagten zu nennen.« Sonst steigere man lediglich seinen Bekanntheitsgrad und stelle ihn »fälsch­licherweise als Einzeltäter heraus«.

Letzteres Argument erwähnte der damalige Chefredakteur von »ARD-aktuell«, Kai Gniffke, in seiner Erläuterung der neuen Redaktionspraxis der »Tagesschau« zwar nicht. Dafür macht er im Tagesspiegel ein andere Perspektive stark: Die Nichtnennung der Namen solle »einer Heroisierung der Täter vorbeugen und keine Nachahmer ermu­tigen«. Während es also Ardern bei ihrer persönlichen Weigerung, den Namen des Attentäters auszusprechen, um symbolisches Handeln ging, will »ARD-­aktuell« seine redaktionelle Entscheidung als einen Akt aktiver Prävention verstanden wissen – allerdings: »Eine Ausnahme gibt es, wenn eine Tat beispielsweise eine besondere politische oder gesellschaftliche Tragweite oder sogar eine historische Dimension hat.«

Vielleicht sollte diese Einschränkung nur erklären, warum man aus Adolf Hitler auch künftig keinen Adolf H. macht. Sie führt aber unweigerlich zu der Frage, ob die rechtsextremen ­Terrorakte von Stephan Ernst, Stephan Balliet und Tobias Rathjen für »ARD-aktuell« tatsächlich keine »besondere politische oder gesellschaftliche Tragweite« hatten?

Die Süddeutsche Zeitung sieht das offenbar anders, wenngleich nur in zwei der drei Fälle. Sie nennt Ernst und Balliet bei vollem Namen, nicht aber Rathjen. Ein Hinweis darauf, dass die Redaktion Letzteren eher für einen geistig verwirrten Einzeltäter als für einen Rechtsextremisten hält? Warum wird er dann in den meisten Artikeln der Zeitung dennoch so bezeichnet?

Noch fragwürdiger ist das Vorgehen des Tagesspiegel: Dieser lässt an­scheinend die einzelnen Autoren entscheiden, welche Variante ihnen lieber ist. Womit klar wird, dass es hier mehr um individuelle Befindlichkeiten geht als darum, Mördern ihre Prominenz zu nehmen oder gar Nachah­mungs­­taten zu verhindern. Beides wäre ja nur mittels eines stringenten Vor­gehens zu erreichen, dem sich zudem sämtliche anderen Medien anschließen müssten. Dies allerdings würde, um wirklich keine Ausnahmen zuzulassen, eine Novellierung des Pressekodex erfordern, der Klarnamen bislang ausdrücklich erlaubt, sofern »eine außergewöhnlich schwere oder in ihrer Art und Dimension besondere Straftat vorliegt«.

Aber wäre es tatsächlich wünschenswert, das Medienrecht verböte Journalisten, die Namen solcher Attentäter auszuschreiben? In der Kriminologie ist unumstritten, dass Berichte über Terrorakte oder Amokläufe Nachahmern als Vorlage dienen können. David Sonboly etwa, der am 22. Juli 2016 in München neun Menschen erschoss, hatte vor seiner Tat sowohl den Terroranschlag des Rechtsextremisten Anders Breivik, bei dem am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen starben, als auch den nicht politisch motivierten Amoklauf des Schülers Tim Kretschmer studiert, der am 11. März 2009 in Winnenden und Wendlingen 15 Menschen das Leben kostete. Doch waren es wirklich die so unterschiedlichen Tätercharaktere, die Sonboly inspirierten, oder waren es nicht vielmehr die Taten selbst, mit denen sich Breivik und Kretschmer in die Geschichte einschrieben, unabhängig davon, ob man nun ihre Namen nennt oder nicht?

Bei Schulmassakern zielen die Täter nicht unbedingt auf einen über das eigene Umfeld hinausreichenden Ruhm. Neben Rachemotiven spielt hier oft der Wunsch eine Rolle, den eigenen psychischen und sozialen Nöten auf brachiale Weise Ausdruck zu verleihen. Adressaten sind dabei weniger die überregionalen Medien als vielmehr Familie, Lehrer und Mitschüler. Anders verhält es sich mit politischen Attentätern wie Stephen Balliet. Der ließ mit dem Streamen seines Anschlags im Internet von Beginn an keinen Zweifel daran, dass es ihm vorrangig um persönlichen Ruhm ging.

Diesen Ruhm können ihm allerdings die Süddeutsche Zeitung oder die »Tagesschau« gar nicht nehmen, weil die entscheidende Plattform dafür rechtsextreme Online-Netzwerke auf 4chan, 8chan, Reddit oder Telegram sind. Dort hat Balliet seine Inspiration gefunden und dort will er auch selbst inspi­rie­ren. Sein erklärtes Vorbild ist der Australier Brenton Tarrant (der, dessen ­Namen die neuseeländische Ministerpräsidentin nicht aussprechen will), welcher sich wiederum an Breivik orientiert hatte. Alle drei verfassten rassis­tische Manifeste, die in den Untiefen des Internets weiterhin von jedem Interessierten gefunden werden können. Die Bedeutung der »Tagesschau« als Informationsquelle für diese Szene kann man im Vergleich kaum gering genug einschätzen.

Darüber hinaus können auch fiktive Vorbilder für Mörder inspirierend wirken. James Holmes, der am 20. Juli 2012 in einem Kino in Aurora (Colorado) während der Premiere des Batman-Films »The Dark Knight Rises« zwölf Menschen erschoss, bezog sich dabei wohl auf die Figur des Joker, Batmans verbrecherischem Gegenspieler. Und die drei jungen Nazis, die am 12. Juli 2002 in Potzlow Marinus Schöberl mit einem »Bordstein-Kick« töteten, hatten die Anregung dazu in »American History X« gefunden, einem Filmdrama mit explizit antifaschistischer Intention.

Wenn es im Sinne der Prävention folglich relativ nutzlos ist, Täternamen nicht zu nennen, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass ohne diese Namen kein seriöser Journalismus möglich wäre. Für die Bewertung des Tatgeschehens und seines Hintergrunds ist es gleichgültig, ob man den Täter Tobias R. oder Tobias Rathjen nennt. Ebenso unerheblich ist dies auch für die alte Mär vom »Einzeltäter«. Was die Praxis, die Täternamen nicht zu nennen, hingegen problematisch machen könnte, ist die Gefahr einer Überhöhung der Täter durch Phantomisierung. Man kennt das aus der Fantasy-Literatur von J. R. R. Tolkiens Sauron bis zu J. K. Rowlings Lord Voldemort: der Feind, der so mächtig ist, dass man nicht einmal seinen Namen aussprechen darf.

Als letzte gängige Begründung für die Verwendung von Namenskürzeln bleibt der Schutz von überlebenden Opfern und Angehörigen – aber Schutz vor was? Ihr Leid wird mit Sicherheit nicht allein vom Täternamen, sondern von jeglicher Berichterstattung über die Tat aufgerührt. Und ob nun von Breivik oder Utøya die Rede ist, von Tarrant oder Christchurch, wird für das Leiden der Opfer und Hinterbliebenen wahrscheinlich keinen entscheidenden Unterschied machen. Auch haftet einer Selbstzensur aus Opferschutzgründen ein paternalistischer Beigeschmack an. Zumal sowohl die Nebenkläger im Halle-Prozess als auch die Initiative 19. Februar Hanau mehrfach bekundet haben, dass es ihnen um »vollständige Aufklärung« geht. Zu einem vollständigen Bild aber gehört »das Lachen der Täter« (Klaus Theweleit) auf Pressefotos ebenso wie die bittere Erkenntnis, dass die reale Möglichkeit besteht, mittels Gewalttaten mediale Berühmtheit zu erlangen und dass kein noch so gut gemeinter Pressekodex daran etwas ändern kann. Um es mit Ingeborg Bachmann zu sagen: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.«