Mineke Schippers kulturgeschichtliche Studie »Mythos Geschlecht«

Scharfe Zähne, krumme Knochen

In ihrer Studie »Mythos Geschlecht« untersucht die niederländische Literaturwissenschaftlerin Mineke Schipper, wie Mythen und Religion helfen, patriarchale Ordnungen zu legitimieren.

In ihrer Studie »Mythos Geschlecht« untersucht die niederländische ­Literaturwissenschaftlerin Mineke Schipper Weiblichkeitskonstruktionen in Religionen und Mythologien und zeigt, wie die Frau zu jenem Mängelwesen wurde, das Männer zugleich unterwerfen und begehren. Diese Vorstellungen von der Ordnung der Geschlechter begrenzen nicht nur die Macht der Frauen, sondern zwingen auch die Männer unter das Joch von Verhaltensnormen.

Schippers Darstellung verzichtet auf die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht. Es geht ihr um die Genese der Geschlechtervorstellung, die sie als kulturell vermittelt begreift. ­Daher ist ihre Analyse von Erzähltraditionen auch eine Studie darüber, wie die Ordnung der Geschlechter entstanden ist. »Abgesehen von ­großen kulturellen Unterschieden«, schreibt sie im Vorwort, »gibt es auffallende natürliche Gemeinsamkeiten zwischen uns Menschen: Wir teilen den gleichen Leib und die gleichen Körperfunktionen – abgesehen von den wenigen Körper­teilen, die Frauen physisch von Männern unterscheiden.« Der Fokus ­ihrer Arbeit liegt auf den »Geschichten und Vorstel­lungen über Körperteile, über die von Natur aus allein Frauen verfügen«.

Lediglich sechs Zentimeter misst die Skulptur einer Fruchtbarkeitsgöttin, die als Venus vom Hohlefels bekannt wurde. Die mehr als 30 000 Jahre alte Elfenbeinfigur hat üppige Brüste, die Vulva hebt sich deutlich hervor, die Gesichtszüge fehlen. Über 100 solcher Frauenfigurinen aus der Steinzeit sind erhalten, die ausgeprägten Körperformen verweisen auf die Motive des Gebärens und Nährens. Anders als die Muttergottheiten, die in ganz frühen Mythen und mythologischen Fragmenten überliefert sind – wie die Göttin Tia­mat sumerisch-babylonischer Pro­venienz –, wurden diese Göttinnen als selbständige Instanzen ohne männliche Begleiter dargestellt. Sie agierten autonom, spendeten Leben und gaben Nahrung.

Ein Beleg für die Existenz eines vorzeitlichen Matriarchats sei das aber noch nicht; Schipper zeigt jedoch, dass die Figur der Göttin mit der Zeit immer unbedeutender wurde, bis letztlich der Mann allein zum Schöpfer wurde – und das mitunter durch einen mörderischen Akt. So wird die Göttin Tiamat späteren Überlieferungen zufolge vom Gott Marduk in der Schlacht entzwei gespalten. Aus ihren Körperhälften formt Marduk Himmel und Erde. Marduk besiegt das Weibliche, um eine männliche Ordnung herzustellen. In den aufkommenden patriarchalen Gesellschaften wurden durch Hierarchi­sierung Gebärfähigkeit beherrschbar und Begierde reglementiert.

In zahlreichen Mythen gibt es männliche Schöpferfiguren, die die Macht übernehmen oder in einem symbolischen Akt gebären. So masturbiert der ägyptische Urgott Atum, nimmt anschließend seinen Samen in den Mund, um ihn auf den Boden auszuspucken und so seine Kinder zu zeugen. In der Bibel ­erzählen zwei Geschichten von der Entstehung der Menschheit.
»Dann formte Gott, der Herr, eine Frau aus der Rippe, die er Adam entnommen hatte« (1. Mose 2, 22), heißt es in der bekannten Version der Schöpfungsgeschichte. Der anderen, älteren Schöpfungsgeschichte zu­folge(1. Mose 1, 27) wurden Adam und Eva nach Gottes Ebenbild geschaffen. Sie sind unterschiedlich, aber weibliches und männliches Prinzip sind gleichrangig.

Auch in einem Hadith des Koran wird von der Vorstellung berichtet, dass die Frau aus der Rippe des Mannes geschaffen wurde. »Behandelt die Frauen gut, denn die Frau ist aus einer gekrümmten Rippe geschaffen worden. Wenn du sie gerade biegen willst, wirst du sie brechen, und wenn du sie lässt, wie sie ist, wird sie verbogen bleiben. Behandle also die Frauen gut.« Diese Erzählung bekräftigt, dass Frauen nicht der Norm entsprechen, nicht »gerade« sind und daher keine Macht haben dürfen. Alles, was man ihnen zugesteht, ist gute Behandlung.

Die meisten von Schipper untersuchten Schöpfungsmythen schenken dem sexuellen Genuss keine Beachtung, sondern betonen den Wert der Fortpflanzung. Aus Furcht vor der Macht weiblicher Sexualität und Gebärfähigkeit wird die Bedeutung männlicher Kontrolle über den Körper der Frau, insbesondere über ihre Genitalien und Gebärmutter, in immer neuen Variationen angemahnt: Ohne eine ordnende männliche Vernunft würde die Welt im Chaos untergehen. In allen Kulturen findet sich die Angst vor der ange­blichen Unersättlichkeit der Frauen beschrieben, etwa in Sprichwörtern aus verschiedenen Nationen. »Die Ratte wird sterben, ohne dass das Loch gesättigt ist« (Tunesien), »Wasser, Feuer und Frauen werden nie ›genug‹ sagen« (Polen), »Der Mann, so lange er kann, die Frau, so lange sie will« (Bolivien). Natürlich ist Monogamie für Frauen bestimmt: »Es passt nur ein Tiger in jede Höhle« (El Salvador), »Man kocht nicht zwei Knochen in einem Kessel« (Namibia), »Eine Nadel kann nicht zwei Fäden fassen« (Arabisch).

Schipper entdeckt in den Mythen und Religionen viele Beispiele für die Verdrängung und Verleugnung weiblicher Sexualität. Dahinter vermutet sie Kastrationsangst. So ist die Vorstellung der vagina dentata, der gezahnten Scheide, in vielen ­Kulturen verbreitet. Einer südamerikanisch-indianischen Vorstellung zufolge mussten Frauen vor dem Geschlechtsakt erst die Zähne gezogen werden.

Wie zahlreiche Darstellungen von Verstümmelungen und Vergewaltigungen belegen, richtet sich männliche Aggression oft gezielt gegen Körperteile, die Männer selbst nicht hatten. »Misshandlungen von Brüsten, Gebärmüttern und Genitalien«, schreibt Schipper, »gibt es auch heute noch, und das nicht nur in Pornophantasien. In einigen Regionen in Syrien und im Irak, in denen der IS herrschte, wurden bis vor Kurzem christliche und jesidische Mädchen von ihren sogenannten Besitzern, die sie als Sexsklavinnen ansahen, vergewaltigt und gefoltert. Nach ihrem Verständnis des Korans war die Vergewaltigung einer Sklavin keine Sünde. Manchmal wurden ihnen zur Strafe Brüste und andere empfindliche Körperteile abgeschnitten.«

Das Buch offenbart die Jahrtausende alte deprimierende Geschichte ­einander ähnlicher Sitten und Gebote, die dazu dienen, Frauen Minderwertigkeit nachzuweisen und die Macht des Mannes zu legitimieren. Leider gelingt es nicht wirklich, die Fülle des oft bizarren Materials sinnvoll zu ordnen und historische Entwicklungen aufzuzeigen. Am Ende äußert sich Schipper optimistisch und betont mit Verweis auf die »Me too«-Kampagne, dass immer mehr Frauen es wagten, gegen Unterdrückung und Diskriminierung aufzubegehren, und immer seltener als per se unglaubwürdig abgetan werden. Die Geschichte der Emanzipation ist damit allerdings nur unzureichend beschrieben.

Mineke Schipper: Mythos Geschlecht. Eine Weltgeschichte weiblicher Macht und Ohnmacht. Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 351 Seiten, 24 Euro