Wolfgang Englers Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen«

Die Karre steckt im Dreck

Wolfgang Engler macht sich Gedanken über den Ansehensverlust der offenen Gesellschaft.

Autoritäre Strömungen gewinnen an Stärke, insbesondere im Osten. Das ist bekannt und war bereits vor der Covid-19-Pandemie und den Protesten der Bewegung »Querdenken« so. Der Berliner Soziologe Wolfgang Engler, der in der DDR aufgewachsen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Proteste im Osten in der »liberalen, demokratischen, marktbasierten Gesellschaft« zu ergründen. Und das schon seit Längerem. Die Frankfurter Rundschau bezeichnete ihn deshalb einst als »Propagandisten der ostdeutschen Selbstethnisierung«.

Engler ätzt ähnlich wie Sahra Wagenknecht in ihrem neuen Buch gegen die »Kulturlinke« und bezichtigt sie, Komplizen der herrschenden Ordnung zu sein.

In seinem jüngsten, im Verlag Matthes & Seitz erschienenen Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen« geht es um den Ansehensverlust, den die einst euphorisch ­begrüßte Demokratie in den neuen Bundesländern erfahren hat. Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Begriff der »offenen Gesellschaft«, wie ihn der Philosoph Karl Popper unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs entwickelt hat. Diesen Terminus richtet Engler gewissermaßen gegen seinen Urheber: Er zeigt, dass die neoliberale Deregulierung die (vorgeblich) »offene« inzwischen in eine – nach Poppers Begrifflichkeit – »sogenannte abstrakte« Gesellschaft verwandelt hat, in der die Menschen ihre sozialen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können und immer mehr anonymisiert und isoliert werden.

Im Vorwort erinnert Engler an die berühmte Rede des Dramatikers Heiner Müller auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989. Von offenen Fenstern, Reisefreiheit, Durchzug wurde schwadroniert, bis Müller mit seiner Ansprache die Feierlaune störte: »Der Staat fordert Leistung, bald wird er mit Entlas­sung drohen. Wir sollen die Karre aus dem Dreck ziehen.«

Gerade der Umbruch im Osten, so Engler, sei in hohem Maße von der Idealvorstellung einer »offenen Gesellschaft« geleitet gewesen; umso größer sei nun der Verdruss darüber, dass es mit der versprochenen Chancengleichheit nicht weit her ist. Ein wichtiger Grund für diese ostdeutsche Enttäuschung sei, so Engler, dass die ehemalige DDR, aber auch andere osteuropäische Staaten zu einem Versuchsfeld des neoliberalen Wirtschaftens geworden seien. Den neuen Bundesländern sei nicht etwa die soziale Marktwirtschaft des Westens verpasst worden, vielmehr habe die Gesellschaft im östlichen Teil des wiedervereinigten Deutschland im Zeitraffertempo die volle Härte des Turbokapitalismus erfahren.

Dieses Argument ist durchaus schlüssig. Das Wirken der Treuhand, dazu eine Gewerkschaftstradition, die auf Zwangsmitgliedschaft beruhte und in der die Gewerkschaften ein Anhängsel des Staats und nicht etwa eine unabhängige Arbeitnehmervertretung gegenüber den Betriebsleitungen waren, bereiteten dem aggressiven Vorgehen der westlichen Konzerne den Boden. Das Ergebnis war eine ganz andere Sorte von Kapitalismus als jene der Bonner Repu­blik. Mit den Worten Englers: »Die westliche DNA mutierte im Prozess der Übertragung.« In den vergangenen 20 Jahren erfolgte dann die Ausbreitung dieser Sorte des Kapitalismus in den Westen, um dort teilweise ähnliche Verhältnisse zu schaffen.

Engler zeichnet im Detail nach, wie der Neoliberalismus entstanden ist und sich im englischen Thatcherismus, weiter verschärft von Tony Blairs »New Labour«, durchsetzen konnte. Von den sogenannten Re­formen im Mutterland des Kapitals angestachelt, trieb der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder unter dem Titel »Agenda 2010« die wirtschaftsfreundlichere Ausrichtung des Staats, eine Reform der Sozialsysteme und die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts voran. Engler fasst dies treffend in einem Satz zusammen: »Neoliberale Politik ist Antipolitik, deren vornehmster Zweck darin besteht, Politik als eigenständigen Faktor zu entmachten.« Schlauerweise würden dabei die Interessen der Bevölkerung nicht komplett missachtet, aber eben auch nur »im Rahmen der Interessen der ökonomisch Herrschenden berücksichtigt«. Die gesellschaftliche Schieflage, die dabei entstand, sei dann durch das Primat des Finanzmarktkapitalismus forciert worden, mit einem ernüchternden Ergebnis: »Die soziale Frage, die im Glauben an einen ­unbegrenzten Fortschritt aufgelöst schien, kehrt auf die Tagesordnung zurück.«

In einer Gesellschaft der Vereinzelung komme es nun auf individuelle Ressourcen kultureller, ökonomischer und sozialer Art an, die den Status der Gesellschaftssubjekte definieren. An dieser Stelle führt Engler die Zersplitterung der Arbeiterklasse als zentralen Schwachpunkt an, der das Entstehen einer Gegenmacht verhindere. Die neoliberalen Prozeduren hätten überall Spaltungen herbeigeführt – zwischen Peripherie und Zentrum, Alteingesessenen und Arbeitsmigranten, Leiharbeitern, Werkvertraglern und illegalen Beschäftigten. Solidarität sei so nicht mehr vorstellbar. Jede Gruppe verfolge eigene Interessen. Die dadurch entstandene Leerstelle besetze die Identitätspolitik. Sie betone das Trennende, das Singuläre. Eine allgemeine Reizbarkeit charakterisiere die Stimmung, Territorien würden abgesteckt und im Streit über den feinen Unterschied Ansprüche begründet.

Es sei aber ein Mythos, dass die Arbeiterklasse verschwunden sei – denn irgendwer erledige ja immer noch die niedrigen, schlecht be­zahlten Aufgaben. Während die einen privilegiert seien und ihre Singularität feierten, lebten die anderen am Existenzminimum oder bräuchten mehrere Jobs, um über die Runden zu kommen. Wahre Singularität gebe es nur in der Oberklasse. Diese verfüge über ein »kopiergeschütztes Dasein; Nachahmung ökonomisch ausgeschlossen«. Auch die sogenannte Mittelschicht habe diese Möglichkeit letztlich nicht. Sie werde ökono­misch dominiert, sei aber kulturell dominierend, zumal ihr, allen Abstiegs­ängsten zum Trotz, qua Habitus und symbolischem Kapital genug übrig bleibe, um auch finanziell zu bestehen. Zugleich grenze diese oft links­liberale Klientel sich bewusst von der Unterschicht ab, besonders durch Kleidung, Lebensstil und Habitus. Die Unterschicht werde somit doppelt beherrscht, ökonomisch und kulturell.

Engler ätzt ähnlich wie Sahra Wagenknecht in ihrem neuen Buch gegen die »Kulturlinke« und bezichtigt sie, Komplizen der herrschenden Ordnung zu sein. Dem widmet er die zweite Hälfte seines Buchs. Die Unterschicht, die Abgehängten, besonders im Osten, den die Mobileren und Flexibleren bereits verlassen haben, treibe das Bewusstsein der eigenen »Unsichtbarkeit« um, das Gefühl ­der Vernachlässigung, gepaart mit der verlorenen Hoffnung auf Aufstiegsmöglichkeiten. Englers psychosoziale Erklärung für die Erfolge der Rechten lautet so: »Der Triebverzicht wird seines irdischen Ziels beraubt, die Selbstzwänge lockern sich, das Handeln gerät stärker unter den Einfluss von Affekten. Diese sind politisierbar, warten auf Anlässe, sich für den Ausschluss zu rächen.«

Dass nicht allein ökonomische Probleme rechtsextreme Positionen begünstigen, sondern sehr stark auch Statusverlust und Abwertungsgefühle, ist sicherlich richtig. Allerdings übt Engler mitunter etwas zu viel Empathie mit den vermeintlichen Opfern rechter und rechtsex­tremer Demagogie. Völlig unterschlagen wird, dass rassistische und völkische Einstellungen schon ­lange fest etabliert sind, überall in Deutschland, im Osten allerdings deutlich mehr. Warum das so ist, ist eine wichtige Frage. Sie monokausal mit Verweis auf die Zumutungen des Neoliberalismus zu beantworten, ist offenkundig zu kurz gedacht, zumal Engler den Rechtsextremismus in der DDR bis 1989 völlig unterschlägt. Brandneue Ideen und Erkenntnisse finden sich in dem Buch nicht, von dem man eine deutlich kritischere Haltung zu den »Unmutsäußerungen« aus dem Osten erwartet hätte. Dennoch ist es insgesamt lesenswert.

Engler endet mit einem Plädoyer für eine Öffnung der Gesellschaft. Eine politische Ökologie schwebt ihm vor, die Umweltinteressen und antikapitalistische Politik glücklich vereinen soll. Unschwer zu erraten, was Heiner Müller dazu gesagt hätte.

Wolfgang Engler: Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 208 Seiten, 18 Euro