Antizionistische Töne in Elsa Dorlins Studie über Selbst­verteidigung

Grundlos kompliziert

Eine »Philosophie der Gewalt« will Elsa Dorlin mit ihrer Studie »Selbstverteidigung« vorlegen, verirrt sich aber in unsystematischen Beobachtungen und antizionistischer Rhetorik.

Ob es sich bei kollektiver Selbstverteidigung um politische Selbstbehauptung handelt oder doch eher um einen politischen Selbstzweck, ist angesichts der zahlreichen linken Bewegungen, die in den vergangenen 150 Jahren zur Militanz neigten, keine unerhebliche Frage. In den vergangenen Jahren wurde aufgrund der jüngsten aktivistischen Tendenzen wieder verstärkt debattiert, wann – und vor allem: für wen – bewaffnete Gegenwehr legitim und unter welchen Umständen sie abzulehnen sei.

Dorlins Assoziationskette führt sie zurück zu Formen jüdischer Selbstverteidigung, die als Reaktion auf die Pogromwellen in Osteuropa entwickelt worden waren. Von dort springt sie rasch vor zur israelischen Staatsgründung.

An einer Klärung dieser Frage hat sich die französische Philosophieprofessorin Elsa Dorlin in ihrer 2017 erstmals erschienenen und mittlerweile auch auf Deutsch vorliegenden Abhandlung »Selbstverteidigung« versucht, die in den USA unter dem Eindruck der gesellschaftspolitischen Entwicklungen unter Präsident Donald Trump entstanden ist. Dorlin befasst sich darin schlaglichtartig mit historischen »Kampfethiken des Selbst«. Zu diesen zählt sie unter anderem Widerstand gegen die Bruta­lität der Kolonialmächte, Nahkampftaktiken gegen handfeste Feinde des Feminismus zu Zeiten der Ersten Frauenbewegung und privat organisierte Sicherheit durch Queer-Patrouillen, die gegen schwulenfeindliche Übergriffe durch nordamerikanische Städte zogen.

Dorlin versteht ihr Vorhaben nicht als Geschichtsschreibung, sondern als Versuch, »an einer Genealogie zu arbeiten«, was sie selbst ausdrücklich einschließt. Ihrer »Philosophie der Gewalt« stellt sie ein subjektivistisches Eingeständnis voran: »Meine eigene Geschichte, meine körperliche Erfahrung waren das Prisma, durch das ich dieses Archiv gehört, gesehen und gelesen habe«, heißt es eingangs über die »Körper der Beherrschten«, die sich auf unterschiedliche Weisen Repression, Folter oder Vernichtung entgegengestellt haben. Die Überlieferungen dieses Widerstands sind es, die hier so harmlos klingend als »Archiv« bezeichnet werden. Was folgt, sind politische Momentaufnahmen, unterbrochen von einem Auftritt von John Locke und Thomas Hobbes, auf deren Werke sich gesellschaftstheoretische Fragen über das Recht auf Selbstverteidigung zurückführen lassen.

Der Danksagung am Ende des Buchs ist zu entnehmen, dass dieses »den Praktiken, Reflexionen und dem Engagement in militanten Kollektiven oder Kämpfen mehr als verpflichtet« sei. Zu erläutern versucht Dorlin dies auf eher vereinnahmende denn analytische Weise an Helen Zahavis Skandalroman »Dirty Weekend«, der 1991 in Großbritannien für erhebliche Aufregung gesorgt hatte. In dem Roman gibt sich die Protagonistin Bella nämlich einem Wochenende voller Gewalt gegen Männer hin, die in bis dato nicht gekannter Weise geschildert wurde, was das männliche Feuilleton schäumen ließ und die Sittenwächter auf den Plan rief. Statt zu erörtern, ob sich die Unterdrückung von Frauen überhaupt individuell und gewaltsam bekämpfen lasse, behauptet Dorlin eilig, dass der Roman »eine in den gegenwärtigen feministischen Strömungen verbreitete ethisch-politische Sichtweise ins Wanken« bringe, »bei der die Gewalt nur als Ausdruck der Handlungsmacht der ›Herrschenden‹ gedacht wird und folglich keine oder nicht länger eine mögliche ›politische‹ Option für den Feminismus darstellt«.

Relevanter als eine Kritik an diesem drögen Stutzertum der Autorin, was ihren militanten Anspruch anbelangt, ist allerdings etwas anderes. Dass bei akademischen Publikationen, in denen mit antirassistischer Emphase bewegungspolitische Nähe betont wird, fast immer Vorsicht geboten ist, was Antisemitismus anbelangt, ist bekannt. Und so lohnt auch in diesem Fall eine genauere Betrachtung derjenigen Passagen dieser Monographie, die versuchen, mit einem bisweilen angestrengt wirkenden Vokabular Foucault’scher Prägung zu ergründen, um was es sich historisch und politisch bei jüdischer Selbstverteidigung handelt.

Zu den Episoden, die Dorlin zur Veranschaulichung heranzieht, zählt auch der Aufstand im Warschauer Ghetto. Allerdings interessiert sie sich weder für die hieran Beteiligten noch für deren äußerst konzisen Willen, im Wissen um den eigenen Tod so viele der deutschen Mörder auszuschalten wie möglich. Vielmehr gilt ihre Aufmerksamkeit etwas, das sie »Thanatoethik« nennt – die »Gesamtheit der Praktiken, die den Tod als Instanz der Wiederherstellung der Werte des Lebens einsetzen«. Sie betont zwar richtig, dass der »Anblick derer, die bereit waren, mit der Waffe zu sterben«, geholfen habe, »die von Angst erfüllte Welt des Ghettos aus ihrer Erstarrung« zu reißen, belässt es aber bei dieser Einschätzung – obwohl sich dieser Moment inmitten des Zweiten Weltkriegs aufgrund der systematischen Vernichtung der europäischen Juden wesentlich von den anderen herangezogenen historischen Konstellationen unterscheidet.

Die Formulierung, der Aufstand sei eine »Politisierung des Lebens« gewesen, wirkt deshalb bestenfalls unglücklich. Die Übersetzerin Andrea Hemminger setzt noch eins drauf: Dem linguistisch absurden Anspruch sprachlichen »Sichtbarmachens« verpflichtet, verwandelt sie die Aufständischen in »Kämpfer*innen« – ganz so, als ob es sich bei diesen um eine im intersektionalen Sinne diverse Gruppe gehandelt habe und nicht etwa um Juden, die sich gegen die übermächtige deutsche Vernichtungsmaschine erhoben hatten. Hier hätte es vor allem einer Erklärung bedurft, inwiefern das Beispiel noch unter den Begriff »Selbstverteidigung« fällt, wie Dorlin ihn definiert.

Wer sich für den Aufstand im Warschauer Ghetto interessiert, sollte die Schriften der Aufständischen lesen, denn die Berichte und Erinnerungen von Marek Edelman, Zivia Lubetkin, Vladka Meed, Simcha Rotem und Yitzhak Zuckerman sind gewichtige, für sich selbst sprechende Zeugnisse der Shoah. Auch Ingrid Strobls 1998 erschienene Studie »Die Angst kam erst danach« bietet hierzu weitaus erhellendere, da systematische Überlegungen als Dorlin.

Aufschlussreich ist, dass das Interesse der Autorin an den Geschehnissen von 1943 lediglich einleitenden Charakters ist. Ihre Assoziationskette führt sie zunächst zeitlich zurück zu Formen jüdischer Selbstverteidigung, die am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die Pogromwellen in Osteuropa ent­wickelt worden waren. Von dort springt sie rasch vor zur israelischen Staatsgründung, die en passant zur Terror- und Gewaltgeschichte erklärt wird, um das heutige Israel anschließend in ein ebensolches Licht zu rücken. So behauptet Dorlin, dass dort die Devise, jede Verteidigung sei ein guter Angriff, in den Rang eines »nationalen Mottos erhoben« worden sei: »Womit sich auch eine virilistische und agonistische Allegorie der Staatsbürgerschaft verbreitet, die aus dem Prinzip der legitimen Selbstverteidigung das Recht auf Gewalt und Kolonisation ableitet.«

Belege für diese und zahlreiche ähnliche an Judith Butler geschulte Behauptungen sucht man vergebens. Stattdessen wird in diesem Sinne weiterspekuliert, ganz so, als existiere seit 1945 kein Antisemitismus mehr. »Diese äußerste Bedrohung, die sich in ein allgemeines Schüren der zur virtu erhobenen Angst übersetzt, ist nunmehr unter Kontrolle via einer Schaffung von Politiken, die die Zivilgesellschaft ständig verunsichern und von den Individuen mehr wegführen, als dass sie schützen und verteidigen«, rumort Dorlin über Israel. »Diese Politiken sind in mehrfacher Hinsicht sehr ökonomisch, vor allem weil sie eben diese Individuen dafür verantwortlich machen, sich zu verteidigen und sich damit die Anwendung von Gewalt einzuverleiben, zu defensiven Körpern zu werden, die praktischerweise erlauben, sie nach Bedarf in atomisierte Kampfeinheiten zu verwandeln, die zur Überwachung und Kontrolle eines Feindes ohne Gesicht bestimmt sind, und akzeptieren, im Namen ihrer Sicherheit ständig von Angst beherrscht zu sein.«

Was diese grundlos komplizierten Sätze behaupten, ist nichts anderes als die dem Jargon angepasste antizionistische Mär, dass aus den Opfern von gestern die Täter von heute geworden seien und die reale Bedrohung des jüdischen Staates eine sinistre Schutzbehauptung zugunsten seiner Herrschaftssicherung sei, die er – so Dorlins pseudoradikale These – praktischerweise an seine Bürgerinnen und Bürger delegiert habe, denen er eine Bedrohungslage bloß vorgaukle.

Dass die im genealogischen Sinne Kontinuitäten suchende Philosophin von den zahlreichen seit 1948 gegen Israel geführten Kriegen und Terrorfeldzügen nicht gehört haben sollte, darf bezweifelt werden. Was Antisemitismus ist und was das Besondere daran ist, sich »als Jude« wehren zu müssen, wenn man »als Jude« angegriffen wird, wie es Hannah Arendt einmal fasste, interessiert Dorlin noch nicht einmal vor dem Horizont ihrer eigenen Fragestellung. Stattdessen insinuiert sie gar Geschäftemacherei, finde das Selbstverteidigungssystem Krav Maga doch weltweit »als eines der profitabelsten Produkte made in Israel großen Anklang«, während es an Ort und Stelle »eine Welt aufrechterhält, in der Krav Maga als einzig mögliche Existenzweise zur Pflicht wird«.

Angesichts solcher Projektionsleistungen ist nicht nur der bekannte antiisraelische Doppelstandard hervorzuheben, sondern auch eine analytische Lücke. Denn Dorlin denkt gar nicht daran, unerwarteten historischen Linien nachzugehen, die bis in die Gegenwart reichen. Hierunter würde beispielsweise die Popularität fallen, die Kampfsport bei Frauen genießt, die im Iran leben – ein Phänomen, an dem sich der Wille zur weiblichen Selbstbehauptung unter unmissverständlich patriarchalen Bedingungen mit Sicherheit hätte anschaulich erörtern lassen.

Es ist ohnehin auffällig, dass die Autorin von ihren eigenen Feststellungen nicht so recht überzeugt scheint. »Quasi« und »sozusagen« sind Wörter, die in ihrer Beschreibung und Bewertung der verschiedenen Fälle öfters auftauchen – oder auch die Formulierung, »man könnte« ihre Befunde jeweils so oder so sehen. Das »kann man« tatsächlich. An dieser Abhandlung, die durchaus die Chance geboten hätte, einer politisch vernachlässigten Frage philosophisch auf den Grund zu gehen, kann man aber auch so manches für falsch und vieles für ziemlich hochtrabend halten.

Elsa Dorlin: Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp, Berlin 2020, 315 Seiten, 32 Euro