Die Katastrophe am Berg Meron
»Wenn alle Menschen auf der Welt ihren Egoismus aufgeben und nurmehr ihren Freunden dienen und geben wollen, werden die Sorgen und der Ärger von der Erde verschwinden und jeder wird ein vollkommenes Leben haben.« So überliefert es der Zohar (deutsch: Glanz), das heilige Buch der Kabbala (Bewahrung), einer mystischen Glaubensrichtung des Judentums.
»Ich dachte, ich würde sterben«, sagt Menachem Neuman, ein 40jähriger Militärrabbiner aus Jerusalem, im Gespräch mit der Jungle World. »Unter mir lagen Kinder und alte Menschen, die nicht mehr atmeten. Ich betete und hoffte meine Familie wiederzusehen.« Seit frühester Jugend besucht Neuman die Pilgerstätte am Berg Meron, der seit dem Mittelalter Ziel jüdischer Wallfahrt ist. Während der diesjährigen Feierlichkeiten ereignete sich dort eine der schlimmsten zivilen Katastrophen der israelischen Geschichte: 45 Menschen starben bei einer Massenpanik.
Nach der schnellen Impfkampagne ist in den vergangenen Wochen in Israel der Alltag wieder eingekehrt. Ein Jahr lang waren öffentliche Versammlungen aufgrund von pandemiebedingten Einschränkungen unmöglich gewesen. Die Pilgerfahrt zum Berg Meron in Obergaliläa Ende April war die größte Massenversammlung seit dem Ende der Beschränkungen. An dem idyllischen Ort in Nordisrael liegt das Grab von Rabbi Schimon ben Jochai, auch Raschbi genannt, der vielen Orthodoxen als »Vater der Kabbala« gilt, weil ihm die Autorenschaft des Zohar zugeschrieben wird.
Historisch belegt ist dies nicht, die überlieferte Biographie Raschbis fällt wohl weitgehend ins Reich der Legenden. Als sicher kann gelten, dass er im zweiten Jahrhundert lebte und von der römischen Besatzungsmacht verfolgt wurde. Möglicherweise starb er während des Bar-Kochba-Aufstands zwischen 132 und 136 n. Chr., anderen Versionen zufolge erst wesentlich später. Sein Grab zieht jedes Jahr während des jüdischen Feiertags Lag BaOmer eine große Zahl ultraorthodoxer Juden an, die auch Haredim (Gottesfürchtige) genannt werden. Die Ultraorthodoxen sind vor allem für die strenge Auslegung religiöser Gebote bekannt, stehen aber auch in der Tradition der jüdischen Mystik.
Seit mehr als einem Jahrzehnt warnten staatliche Behörden vor einer möglichen Katastrophe am Berg Meron. Trotzdem weisen die Haredim und die von ihnen unterstützte rechtskonservative Regierung alle Vorwürfe von sich.
Die Anfänge der Kabbala werden auf biblische Zeiten zurückgeführt, doch entwickelte sich die »Geheime Lehre« in ihrer schriftlich fixierten Form vor allem in der jüdischen Diaspora in Spanien. Seit der Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel Ende des 15. ahrhunderts siedelten sich viele bedeutende Kabbalisten in Safed in der Nähe des Berg Meron an, das zum geistigen Zentrum der Kabbala wurde. Seitdem werden die mündlichen Überlieferungen des Raschbi dort besonders intensiv studiert.
Doch Lag BaOmer erinnert nicht nur an den Bar-Kochba-Aufstand. Der Überlieferung zufolge endete an dem Feiertag auch eine Epidemie, an der zahlreiche jüdische Religionsschüler gestorben waren. Überdies ist er der 33. Tag des rituellen »Omer-Zählens« der 49 Tage zwischen den jüdischen Festen Pessach und Shavuot. »Ganz der Tradition folgend habe ich meinem dreijährigen Sohn in der bekannten Zeremonie (Chalaka) zum ersten Mal die Haare geschnitten«, erzählt der bärtige Militärrabbiner Neuman.
Obwohl die regionalen Behörden Sicherheitsbedenken hatten, genehmigten sie die Veranstaltung, allerdings nur für 10 00 Pilger. Doch Schätzungen zufolge versammelten sich rund 100 00 Menschen. Während die Ultraorthodoxen ein Lagerfeuer entzündeten, ausgelassen tanzten und feierten, wurden immer mehr Menschen durch die engen Gassen des Örtchens gedrückt. Die Katastrophe ereignete sich um Mitternacht, als zahlreiche Pilger auf einer abschüssigen Rampe mit Metallboden und Wellblech-Trennwänden ins Rutschen kamen. Die dicht gedrängten Feiernden fielen übereinander, Panik brach aus, zahlreiche Menschen wurden erdrückt.
Videos zeigen, wie Rettungssanitäter der medizinischen Hilfsorganisation Magen David Adom (MDA, Roter Schild Davids) verzweifelt versuchten, Metallbarrieren niederzureißen, um Schwerverletzte zu bergen. Hubschrauber evakuierten über 150 Verletzte in die umliegenden Krankenhäuser, einige befanden sich in kritischem Zustand. Sogar Sondereinheiten des Militärs waren im Einsatz. Die Polizei sperrte Zufahrtsstraßen und räumte das Gelände. »Es herrschte Chaos, es war eine komplizierte Rettungsaktion, die die ganze Nacht über andauerte«, sagte Zaki Heller, der Sprecher von MDA, dem Armeeradiosender Galgalatz.
Zeitweise brach der Handyempfang zusammen. Verzweifelte Haredim, die ihre vermissten Angehörigen nicht mehr erreichen konnten, versuchten, zum Ort des Unglücks zurückzukehren. Auch kam es zu Ausschreitungen, als einige Pilger die Hilfe von Frauen aus den Rettungsteams ablehnten. Zaki Heller zufolge waren zahlreiche Kinder vorübergehend von ihren Eltern getrennt.
Bereits am Freitagmorgen wurden die ersten Todesopfer im forensischen Institut in Abu Kabir bei Tel Aviv identifiziert und noch im Laufe des Tages beigesetzt – vor Beginn des jüdischen Ruhetages, dem Sabbat. Mit einer eintägigen Staatstrauer gedachte Israel am darauffolgenden Sonntag der Toten. Im ganzen Land waren an öffentlichen Gebäuden die Flaggen auf Halbmast gesetzt.
Nun stellt sich die Frage nach der politischen Verantwortung. Seit mehr als einem Jahrzehnt hatten staatliche Behörden vor einer möglichen Katastrophe am Berg Meron gewarnt. Trotzdem weisen die Haredim und die von ihnen unterstützte rechtskonservative Regierung um Ministerpräsident Benjamin Netanyahu alle Vorwürfe von sich. Sie beschuldigen die Sicherheitskräfte. Als Netanyahu am Tag nach der Katastrophe den Unfallort besuchte, versprach er eine gründliche Untersuchung.
Israelischen Medienberichten zufolge hatte Netanyahus Innenminister, Aryeh Deri, der auch Vorsitzender der haredischen Shas-Partei ist, darauf gedrungen, die Einschränkungen aufzuheben, die die Zahl der Pilger auf 10 00 begrenzen sollten. Möglicherweise hat der Minister für Öffentliche Sicherheit, Amir Ohana, diesem Wunsch stattgegeben, weshalb statt der eigentlich vorgesehenen 10 00 etwa zehnmal so viele Pilger vor Ort waren. Ohana gehört Netanyahus Partei Likud an.
Für den Ministerpräsidenten kommt die Katastrophe zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt. Auch nach der vierten Wahl innerhalb von zwei Jahren Ende März ist es ihm nicht gelungen, eine Regierungskoalition zu bilden. Während der Pandemie wurde er heftig kritisiert, weil er nicht hart genug gegen Ultraorthodoxe vorgegangen sei, die die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung offen ignorierten, um deren Parteien nicht als Koalitionspartner zu verlieren. Nicht wenige machen ihn nun für das Desaster in Meron mitverantwortlich.
»Diese Katastrophe ist ein weiterer Beweis für die anhaltende Krise Israels«, sagt Meir Elron vom Institut für nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv im Gespräch mit der Jungle World. Der Wissenschaftler kritisiert die Regierung dafür, vor den ultraorthodoxen Abschottungsbestrebungen kapituliert zu haben. »Das heterogene Gefüge der israelischen Gesellschaft ergibt ein stärker hervortretendes Phänomen verschiedener sozialer Enklaven, wie den Haredim und dem arabischen Sektor, die vom Staat und seinen Institutionen isoliert sind und ihnen fremd gegenüberstehen.«
Seit der Gründung Israels genießen die Ultraorthodoxen besondere Rechte, zum Beispiel die Befreiung von der Wehrpflicht. Diese hat das Oberster Gericht im Februar annulliert, eine gesetzliche Neuregelung steht noch aus. Die ultraorthodoxen Parteien bilden einen für die Mehrheitsbeschaffung in der Knesset oft entscheidenden Block, derzeit stützt sich Netanyahus Macht auf sie.
Tatsächlich überließ der Ministerpräsident die Betreuung der Zone um Raschbis Grab aus politischem Opportunismus verschiedenen Interessengruppen der Ultraorthodoxen. Diese konnten daher ohne Genehmigung der zuständigen Behörden Umbauten vornehmen. »Die Covid-19-Pandemie, die die streng religiösen Gemeinden besonders traf, hat uns gezeigt, dass ihre privilegierte Behandlung durch die politische Führung enden muss«, sagt Elron. »Sie müssen ein integraler Teil der israelischen Öffentlichkeit werden. Die Katastrophe hat dies verdeutlicht.«
Dem pflichtet der Militärrabbiner Menachem Neuman bei. Er ist selbst Haredi, dient aber in der israelischen Armee und fordert, dass die Gesetze des Staates für alle gelten. »Dieses Desaster ereignete sich auch aufgrund der Einstellung der israelischen Bevölkerung zu den Ultraorthodoxen«, sagt er. »Die streng Religiösen werden nicht als Teil der Gesellschaft betrachtet, und so entwickelte dieses Milieu im Laufe der Jahre eine Eigengesetzlichkeit, die von den Politikern ausgenutzt wird.« Dass Tora und Demokratie zusammen funktionieren, steht für ihn trotzdem außer Frage: »Wer ein Leben rettet, der rettet die ganze Welt.«