Boko Haram hat in Nigeria terroristische Konkurrenz bekommen

Jihadisten gegen Jihadisten

Der Anführer der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram ist offenbar bei einem Gefecht mit der konkurrierenden islamistischen Gruppe ISWAP zu Tode gekommen. Das könnte das Ende von Boko Haram bedeuten, zu einer Entspannung der Lage in der Tschadsee­region wird es aber wohl nicht führen.

Im zwölften Jahr des Feldzugs der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram (gängige Übersetzung: westliche Bildung ist verboten) verdichten sich die Hinweise, dass deren Anführer Abubakar Shekau ums Leben gekommen ist – allerdings nicht bei einer Auseinandersetzung mit staatlichen Ordnungskräften, sondern im Kampf mit der konkurrierenden islamistischen Gruppe »Islamischer Staat in der Provinz Westafrika« (ISWAP), die sich 2016 mit der Terrorgruppe »Islamischer Staat« (IS) verbündet hat. Shekau soll sich am 18. Mai im Sambisa-Wald im Bundesstaat Borno im Nordosten Nigerias bei einem Gefecht zwischen Boko Haram und ISWAP in die Luft gesprengt haben, um einer Gefangennahme durch ISWAP-Kämpfer zu entgehen.

Bereits mehrmals in den vergangenen Jahren hatte das nigerianische Militär den Tod Shekaus gemeldet. Doch tauchte der Totgesagte jedes Mal kurz darauf wieder auf und veröffentlichte Videobotschaften, in denen er für das Militär, den Staat und alle sonstigen Gegner nur Spott und Häme übrighatte. Shekaus militärische Erfolge und seine Auslegung des Koran als Anweisung zum bewaffneten Jihad, gepaart mit skrupelloser krimineller Energie, erzeugten einen Mythos der Unbesiegbarkeit. Dieser gewann mit jeder falschen Todesmeldung und mit jeder Erhöhung des auf Shekau ausgesetzten Kopfgelds, das zuletzt mehrere Millionen US-Dollar betrug und ihn zum meistgesuchten Mann Afrikas machte, an Überzeugungskraft.

Die Geschichte des Islam auf dem Gebiet des heutigen Nigeria ist zutiefst geprägt von Dissens und Dissidenten. Boko Haram war zunächst nur eine von vielen kleinen islamischen Sekten in Nordnigeria, die ein einigermaßen friedliches, weitgehend unbeachtetes Nischendasein in überschaubaren Gemeinden fern der städtischen Zentren führten, wo der Staat kaum präsent ist. Ihr Aufstieg und ihre Radikalisierung sind die bislang extremste Reaktion auf die Unfähigkeit des säkularen Staats, Modernisierungsprozesse erträglich zu gestalten und Korruption auszumerzen.

Die politischen Verhältnisse im Bundesstaat Borno, eine seit mehreren Jahrzehnten anhaltende, weit ausgreifende und politisierte Islamisierungswelle und die 1999 mit der Gründung der »IV. Republik« begonnene Demokratisierung Nigerias spielten beim Aufstieg der Sekte zum politischen Akteur und ihrer Wandlung zu einer terroristischen und kriminellen Vereinigung eine wichtige Rolle. Machtspiele in Borno lösten die Politisierung der Sekte aus, doch ihr Traum, mit Hilfe der Regionalregierung einen islamischen Gottesstaat zu errichten, endete bald. Anfang 2009 kam es in einigen Städten im Nordosten Nigerias bei Demonstrationen regelmäßig zu Auseinandersetzungen zwischen Sektenmitgliedern und Ordnungskräften. Nachdem eine Demonstration von Boko Haram in Borno verboten worden war, brachen Unruhen in dem Bundesstaat aus. Der damals bereits todkranke Präsident Umaru Musa Yar’Adua billigte ein gewaltsames Vorgehen der staatlichen Ordnungskräfte gegen Boko Haram. Diese töteten daraufhin in Maiduguri, der Hauptstadt von Borno, Schätzungen zufolge mindestens 700 Sektenmitglieder. Danach begann der Feldzug der Gruppe.

Die Wandlung von Boko Haram beförderte auch die anderen kleinen Sekten ins Zentrum des staatlichen Kampfs gegen den islamistischen Aufstand. So ­erfuhren auch sie auf das schmerzlichs­te die brutale Willkür des Staats.

Eine Sonderrolle spielt das Islamic Movement in Nigeria (IMN), eine schiitische Gruppe, die sich an der islamischen Revolution im Iran orientiert und ebenso wie Boko Haram den säkularen Staat als illegitim ablehnt. Obwohl die Führungsriege beider Organisationen in den siebziger und achtziger Jahren in denselben islamistischen Kreisen sozialisiert wurde, unterscheiden sich die Gruppen fundamental, was ihre Ziele angeht. Das IMN kritisierte die vor gut 20 Jahren erfolgte Einführung der Sharia in den nördlichen Bundesstaaten als ketzerisch und akzeptiert allein den von Allah abgesegneten Jihad – wenn notwendig, auch bewaffnet – als gangbaren Weg zu einem islamischen Staat. Boko Haram dagegen betrachtete die Einführung der Sharia als Zwischenschritt auf dem Weg zu einem wahrhaft islamischen Gemeinwesen.

Die Tötung des Gründers von Boko Haram, Mohammed Yusuf, und dessen engster Weggefährten Mitte 2009 durch Polizisten begünstigte Shekaus Aufstieg zum kampfwilligen Jihadistenführer. Shekau, aus dem gleichnamigen Ort im Bezirk Tarmuwa nahe der Grenze des Bundesstaats Yobe zur Republik Niger, gehörte nicht zum innersten Zirkel Yusufs. Er sammelte überlebende und versprengte Anhänger und Sympathisanten um sich, fand Unterschlupf in der nahegelegenen und schwer zugänglichen Grenzregion zum östlichen Nachbarland Kamerun und formierte Boko Haram neu, andere Anhänger gingen in den Untergrund.

Shekau setzte sich an die Spitze eines 37köpfigen Komitees, der Shura, und nach nicht einmal einem Jahr begann sich die Lage im Nordosten Nigerias, der nur rudimentär in die sozioökonomischen Strukturen eingebunden ist, deutlich zu verändern. Heckenschützen begannen, Polizisten abzuschießen, es folgten tödliche Überfälle auf Polizeistationen, bei denen Waffenkammern geplündert wurden. Doch blieb Shekaus Feldzug nicht auf die Polizei beschränkt, sondern setzte eine Mordserie in Gang, der binnen weniger Monate etliche Angehörige des höheren islamischen Klerus zum Opfer fielen, die sich kritisch über Boko Haram geäußert hatten. Bald darauf folgten Überfälle und Mordanschläge auf Kirchen, Geistliche und Gläubige beider großen Religionen, Christentum und Islam.

Die Präsidentschaftswahl 2011 gewann der politisch unbedarfte Goodluck Jonathan, ein Christ aus dem Süden des Landes, der die soziokulturelle und sicherheitspolitische Dimension des islamischen Aufstands nicht einmal ansatzweise verstand. Er delegierte das Problem an das Militär, das er mit mehreren Milliarden US-Dollar ausstattete. Dennoch erfasste der islamistische Aufstand während seiner Amtszeit, die bis 2015 dauerte, weite Teile Nordostnigerias. In dieser Zeit forderten islamistischer Terror und ständige Übergriffe der staatlichen Ordnungskräfte, die oftmals auf Staatsterror hinausliefen, Tausende Todesopfer unter Jihadisten, unbeteiligten Zivilisten, Polizisten und Soldaten.

Die islamistische Gruppe ISWAP baut seit einiger Zeit eigene Herr­schafts- und Verwaltungs­strukturen in der Tschadseeregion auf, die die lokale Bevölkerung zu kooperativem Verhalten zwingen sollen.

Zugleich verschlechterte sich die allgemeine Sicherheitslage, ein Heer von Binnenflüchtlingen entstand. Hochrangige Militäroffiziere, Sicherheitsberater, Geschäftsleute und Politiker profitierten vom Krieg gegen den Terror, der sich in den Folgejahren gemäß dem Prinzip »Der Krieg ernährt den Krieg« verstetigte und als lukratives Geschäftsmodell erwies. Boko Haram und ihre Splittergruppen verfolgten einen ähnlichen Kurs, der ebenfalls größtmög­lichen Schaden und Profit versprach: Kampf gegen den verhassten Staat, Raub, Mord, Brandschatzung und Entführung.

Doch auch Boko Haram blieb nicht von Dissens verschont. Bereits 2012 spaltete sich eine Fraktion ab, die als Jama’atu Ansarul Muslimina Fi Biladis Sudan (Beschützer der Muslime in Schwarzafrika, kurz Ansaru) einen noch brutaleren jihadistischen Kurs einschlug.

Eine weitere Spaltung von Boko Haram 2016, aus der ISWAP hervorging, veränderte grundsätzlich die Kraftverhältnisse in den Grenzregionen der Anrainerstaaten des Tschadsees Kamerun, Niger, Nigeria und Tschad. So zeigte die im Jahr zuvor begonnene Aufrüstung der Multinational Joint Task Force (MNJTF) der vier Anrainerstaaten sowie der Republik Benin erste Wirkung. Zugleich war es Nigeria gelungen, diesen internen Konflikt mittels der MNJTF in die Grenzregionen der Nachbarstaaten zu verschieben und ihn somit zu internationalisieren. Dies wiederum veranlasste finanzielle Zuwendungen der sogenannten internationalen Gemeinschaft und nachrichtendienstliche Unterstützung nichtafrikanischer Mächte, darunter Frankreich und die USA.

Dennoch fällt die bisherige Bilanz des Kampfs gegen den islamistischen Terror in der Tschadseeregion mager aus. Macht und Einfluss des ISWAP sind gewachsen und der blutige Kampf zwischen den Jihadisten hat eine neue Wendung erfahren. Der ISWAP baut seit einiger Zeit eigene Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen auf, die die lokale Bevölkerung zu kooperativem Verhalten zwingen sollen. Dieser Ansatz war auf heftigen Widerstand Shekaus gestoßen, der dafür offenbar mit dem Leben bezahlte.

Shekaus Tod – sollte er sich bestätigen – könnte das Ende von Boko Haram bedeuten. Zugleich illustriert er die größere Gefahr, die vom ISWAP ausgeht. Denn nun droht eine engere Verknüpfung des Konflikts in der Tschadseeregion mit den anderen Konflikten im Sahel, in die der ISWAP verwickelt ist.

Obwohl das Hauptaugenmerk der Berichterstattung auf dem islamistischen Terror liegt, spielt sich die eigentliche Tragödie in Nordwest- und Zen­tralnigeria ab, wo organisiertes Verbrechen und Banditentum den Staat im Griff halten und große Teile der Bevölkerung malträtiert und terrorisiert werden.