»Raisi ist der Präsident des Klerus«
Die Präsidentschaftswahlen im Iran waren 2009 mit vielen Hoffnungen verbunden, anschließend kam es zu Protesten, die brutal niedergeschlagenen wurden. Die jüngsten Wahlen dagegen fanden kaum Beachtung; die Wahlbeteiligung war so niedrig wie nie zuvor. Was ist gefährlicher für das Regime – enttäuschte Hoffnungen oder desillusionierte Resignation?
Die diesjährigen Wahlen waren die ersten ohne echten Wettbewerb seit Mitte der neunziger Jahre. Natürlich sind die Wahlen in der Islamischen Republik nie frei oder fair, aber meistens gab es einen Wettstreit zwischen verschiedenen Fraktionen des Regimes. 2009 wurden die Ergebnisse zugunsten Mahmoud Ahmadinejads gefälscht, anschließend wurde die Protestbewegung blutig niedergeschlagen. Es gab eine große Reformbewegung, die sich während der Amtszeit von Präsident Mohammed Khatami von 1997 bis 2005 gebildet hatte, bestehend aus Zivilgesellschaft, Politikern, Medien, Arbeiterorganisationen und Frauenrechtlerinnen. Die Niederschlagung dieser »Grünen Bewegung« war der finale Showdown zwischen Reformern und Machtapparat.
Der scheidende Präsident Hassan Rohani hat zwar noch Unterstützer aus dieser Bewegung, ist aber selbst kein Reformer, und die Bewegung spielt keine große Rolle mehr.
Es gibt innerhalb der politischen Klasse des Iran drei Strömungen, Reformer, Zentristen und Konservative. Bei den jüngsten Wahlen wurden nicht nur die bereits weitgehend ausgeschalteten Reformer ausgeschlossen, sondern auch Zentristen rund um Rohani. Die ganze Macht liegt nun bei den Konservativen, und das ist ein sehr gefährliches Szenario, denn ein monolithisches Machtgebilde bedeutet auch, keine Möglichkeit für politische Manöver zu haben. Viele Historiker vergleichen die derzeitige Situation mit dem Schah-Regime, das 1975 alle Parteien zugunsten eines Einparteiensystems abschaffte – ein Schritt, der letztlich zum Sturz des Regimes 1979 beitrug. Die Wahlen 2021 könnten der 1975-Moment der Islamischen Republik sein.
Was bedeutet die Wahl von Ebrahim Raisi?
Raisi ist vom klerikalen Establishment für die Präsidentschaft auserwählt worden, weil er der perfekte Jasager ist. Er ist uncharismatisch und nicht sonderlich schlau oder talentiert. Er wird nicht aus der Reihe treten, sondern die Befehle Khameneis ausführen, ohne aufmüpfig zu werden. Bisher wurden alle Präsidenten während der 30 Jahre langen Herrschaft Khameneis zu einem politischen Problem. Hashemi Rafsanjani wurde zu einem großen Rivalen und später als Kandidat disqualifiziert. Khatami wurde zum Kopf der Reformbewegung und später politisch ausgeschaltet. Ahmadinejad sollte konservativ sein, wurde aber zu einem großen Gegenspieler, so dass auch er als Kandidat für diese Wahl disqualifiziert wurde und sogar zu einem Wahlboykott aufrief.
»Raisi als Revolutionsführer wäre zu schwach, um den Revolutionsgarden die Stirn bieten zu können, der Iran wäre dann praktisch eine Militärdiktatur wie Ägypten oder Algerien.«
Raisi ist also als möglichst ungefährliche Wahl für den Klerus gedacht. Das ist besonders wichtig, weil der Oberste Führer Ali Khamenei 82 Jahre alt und krebskrank ist, also bald sterben wird. Die Übergangsphase soll dann möglichst reibungslos verlaufen, Raisi könnte sogar der neue Oberste Führer werden.
Vor der Wahl wurde viel von den Verbrechen berichtet, für die Raisi mitverantwortlich war, und es wurde vor einer Verschärfung der Repression gewarnt.
Raisi war einer von vier Leuten in dem Gremium, das 1988 auf Befehl Khomeinis für die Ermordung Tausender politischer Gegner verantwortlich war. Er hatte keine große Rolle während der Revolution und verbrachte sein ganzes Leben im Justizapparat, nicht in der politischen Öffentlichkeit. Er hat immer und überall die Befehle Khameneis ausgeführt. Die Repression im Iran wurde bereits in den vergangenen Jahren unter dem zentristischen Präsidenten Rohani gesteigert, der geholfen hat, zwei große Protestbewegungen blutig niederzuschlagen. Es ist schwer vorstellbar, wie die Repression noch zunehmen soll. Ich denke auch nicht, dass Raisi hier unnötig Ärger suchen wird; eher wird er versuchen, die sozialen Verhältnisse zu verbessern, insbesondere wenn Rohani in seiner restlichen Amtszeit bis August wieder dem Atomvertrag beitreten würde.
Sie sprachen von der Gefahr eines monolithischen Systems. Aber was ist mit den Revolutionsgarden und ihrem Verhältnis zum klerikalen Establishment?
Viele dachten, dass ein Kandidat der Revolutionsgarden Präsident werden würde, vielleicht ein ehemaliger Soldat, aber keiner dieser Kandidaten wurde zugelassen. Der zweitplatzierte Kandidat Mohsen Rezai war zwar einst Führer der Revolutionsgarden, hat aber nichts mehr mit ihnen zu tun und niemand nimmt ihn ernst. Der wichtigste Kandidat war Said Mohammad, der ehemalige Leiter von Khatam al-Anbiya, dem Bauunternehmen der Revolutionsgarden, aber er wurde nicht zugelassen und wird nun vermutlich Bürgermeister von Teheran.
Die Revolutionsgarden haben bislang dem klerikalen Establishment die materielle und militärische Kraft verliehen, haben seine Herrschaft im Iran durchgesetzt und in der Region militärisch interveniert. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass es in der Zukunft zu einem Konflikt zwischen diesen beiden Kräften kommt. Raisi als Oberster Führer beispielsweise wäre zu schwach, um den Revolutionsgarden die Stirn bieten zu können, der Iran wäre dann praktisch eine Militärdiktatur wie Ägypten oder Algerien. Das Wesen des Systems würde sich ändern.
Zurzeit ist aber noch Khamenei entscheidend, er und die Revolutionsgarden verleihen sich gegenseitig Macht, und noch ist der Iran keine Militärdiktatur. Es ist aber unwahrscheinlich, dass der nächste Oberste Führer ähnliches politisches Gewicht und Geschick hat wie Khamenei, und ich gehe davon aus, dass er dann auch der letzte Oberste Führer sein wird. Dieses seltsame Konstrukt kann sich nicht ewig halten, und an seine Stelle könnte ein militärisch gestützter Präsident treten.
Neben der Präsidentschaftswahl war auch im Iran die Covid-19-Pandemie das große Thema. Wie hat sie sich dort entwickelt?
Die Situation ist schrecklich. Iran war ja mit China und Italien eines der ersten Länder mit großen Covid-19-Ausbrüchen, dort ging es schon im Februar 2020 los. Es gab sehr viele Tote, wobei niemand den offiziellen Zahlen glauben schenkt, und die Pandemie hat eine bereits durch Sanktionen hart getroffene Wirtschaft nochmals geschwächt. Die Regierung hat total versagt und noch weiter an Vertrauen verloren.
Die Impfkampagne läuft auch sehr schlecht. Khamenei hat sogar in einer öffentlichen Rede die Einfuhr von britischen oder US-amerikanischen Impfstoffen verboten, als diese noch die einzig verfügbaren waren, und damit offen seine Ideologie über die Bedürfnisse der Bevölkerung gestellt. Nun wird mit chinesischen und russischen Vakzinen geimpft, auch mit etwas Astra-Zeneca, und Iran hat zusammen mit Kuba erfolglos versucht, einen eigenen Impfstoff zu entwickeln. Das komplette Versagen war ein großes Thema bei den Präsidentschaftsdebatten, wurde also sogar von den konservativen Kandidaten eingestanden.
Die Impfkampagne ist also nicht wegen der Sanktionen so schlecht gelaufen?
Wie bei vielen ökonomischen Themen sind die Probleme hier auch auf iranische Entscheidungen zurückzuführen. Natürlich sind die Sanktionen auch ein Problem, aber die Debatte darüber ist so aufgeladen, dass es nur einseitige Sichtweisen gibt. Natürlich haben die schwersten Sanktionen, die je gegen ein Land verhängt wurden, auch Auswirkungen, das ist ja ihr Sinn. Ich habe deshalb wie andere iranische Oppositionelle zu Beginn der Pandemie die US-Regierung unter Präsident Donald Trump zu Lockerungen aufgefordert, natürlich ohne Erfolg. Auch wenn Medikamente nicht unter die Sanktionen fallen, sind diese ein Problem, denn wie will man beispielsweise solche Importe bezahlen, wenn das ganze Finanzsystem sanktioniert ist? Die Sanktionen haben definitiv zu mehr Toten im Iran geführt, nicht nur durch Covid-19. Mein Onkel hatte Krebs, und es war sehr schwer, Medikamente zu erhalten.
Länder wie Russland und insbesondere China haben kein Problem mit Iran-Geschäften.
Es gab immer Teile des iranischen Establishments, die enge Beziehungen mit Russland und China wollten, aber sie sind in der Minderheit. Leute wie Rohani wollen ganz klar engere Verbindungen zum Westen. Ihr Argument ist, dass Russland und China genauso antiiranisch und antiislamisch wie andere Großmächte und Verbindungen zum Westen wirtschaftlich nützlicher sind. Das ist aber einer der großen Konflikte innerhalb des Regimes, und die Revolutionsgarden befürworten beispielsweise mehrheitlich Verbindungen zu Russland und China.
Diese beiden Ländern haben zwar keine eigenen Iran-Sanktionen, aber sie sind indirekt von den westlichen Sanktionen betroffen, weil sie selbst für Iran-Geschäfte sanktioniert werden können. Beides sind auch kapitalistische Staaten, ihre Beziehungen zum Iran sind von Profitstreben geprägt, und sie nutzen die Iran-Sanktionen zu ihren Gunsten, handeln zu für den Iran ungünstigen Bedingungen.
»Qasem Soleimani wollte 2021 zur Präsidentschaftswahl antreten. Ironischerweise hat seine Tötung Khamenei genutzt, weil ein mächtiger potentieller Konkurrent ausgeschaltet wurde.«
Die iranische Gesellschaft ist stark westlich orientiert. Im iranischen Kabinett gibt es mehr Mitglieder mit US-Doktortiteln als im US-Kabinett während der Präsidentschaft Trumps. Kaum jemand hat oder will chinesische Abschlüsse, will Chinesisch oder Russisch als Sprache lernen. Man will sich mit dem Westen messen, will vom Westen respektiert werden, will westliche Güter importieren. Dazu kommt noch breite Ablehnung von Russland und China in der Bevölkerung, denn historisch war Russland das große und repressive Nachbarland. Russland hat 1911 die iranische Demokratie zerschlagen und war noch vor Großbritannien eine repressive imperialistische Macht. China wird im selben Licht gesehen, als Großmacht, welche die iranische Schwäche ausnutzt und zudem das Regime im Iran, aber auch in Syrien stützt. Auch Länder wie Venezuela, die gute Beziehungen zu China und Russland unterhalten, dienen als abschreckendes Beispiel.
Wie lässt sich erklären, dass das Regime den Westen ideologisch ablehnt und gleichzeitig so am Westen orientiert ist?
Die iranische Revolution 1979 richtete sich als »Dritter Weg« gegen Osten und Westen, gegen Kapitalismus und Sozialismus. Nach dem Ende des Kalten Kriegs 1991 entschied sich das Establishment, alle sowieso unklaren Utopien eines islamischen Sozialismus oder einer islamischen Ökonomie aufzugeben und klar kapitalistisch zu werden. Deutschland wurde in den neunziger Jahren zum größten Handelspartner, und erst die Atomkrise seit 2002 machte wirtschaftliche Alternativen zum Westen notwendig. Aber als der Iran der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), einer Wirtschaftsorganisation unter anderem mit Russland und China, beitreten wollte, lehnte die SOZ das ab, weil sie andere Interessen als der Iran hatte. Es gibt letztlich keine antiwestliche wirtschaftliche Achse mehr, der sich der Iran anschließen könnte.
Sie haben ein Buch über Qasem Soleimani geschrieben, den ehemaligen Anführer der al-Quds-Brigaden, die bei den Revolutionsgarden für die Auslandsoperationen zuständig sind. Er wurde im Januar 2020 in Bagdad durch eine US-Drohne getötet. Welche Folgen hatte sein Tod?
Er ist sehr schwer zu ersetzen; das hat zusammen mit der schrumpfenden iranischen Wirtschaftsmacht und dem Aufkommen antiiranischer nationalistischer Bewegungen im Irak und Libanon den iranischen Einfluss in den arabischen Ländern geschwächt. Soleimani war auch einer der mächtigsten politischen Akteure im Iran, und wie ich in meinem Buch zum ersten Mal enthülle, wollte er 2021 zur Präsidentschaftswahl antreten. Ironischerweise hat seine Tötung Khamenei genutzt, weil ein mächtiger potentieller Konkurrent ausgeschaltet wurde.
Rechnen Sie mit einem großen Racheakt für die Tötung Soleimanis?
Das Regime hat strategische Geduld, Khamenei ist ein sehr vorsichtiger strategischer Denker. Es gibt Verhandlungen mit der neuen Regierung Biden in den USA, und ich denke nicht, dass der Iran hier etwas Verrücktes unternehmen wird. Es kann sein, dass in der Zukunft noch ein Racheakt geschieht, wenn der Iran mit begrenzten Auswirkungen rechnet, weshalb zum Beispiel der ehemalige US-Außenminister Mike Pompeo noch immer Personenschutz hat. Aber zurzeit hat das Regime kein Interesse an einer Eskalation.
Welche Rolle spielte der Iran während des jüngsten Kriegs zwischen der Hamas und Israel?
Antizionismus und das politische Ziel, Israel zu zerstören, sind zentral für das, was man Irans islamischen Internationalismus nennen kann. Der Iran nutzt dabei religiöse Differenzen unter Muslimen, aber auch die Tatsache, dass er als einzige Macht noch die Vernichtung Israels anstrebt. Zur Zeit der Islamischen Revolution Anfang 1979 war das noch das Ziel fast aller arabischen Staaten, dann kam im März 1979 der ägyptisch-israelische Friedensschluss, weitere Länder wie Jordanien folgten, und voriges Jahr gab es das sogenannte Abraham-Abkommen. Auch die Länder ohne Friedensvertrag mit Israel verfolgen keine antiisraelische Politik, bewaffnen keine antiisraelischen Milizen.
Wenn man sich also fragt, warum und woher die Hamas, der Islamische Jihad und auch die Hizbollah Waffen haben, gibt es darauf nur eine Antwort: die Islamische Republik Iran. Soleimani selbst hat hier eine wichtige Rolle gespielt. Der Iran ist der einzige Grund, aus dem Israelis Angst vor Raketen haben müssen. Syrien hatte schon vor zehn Jahren Verhandlungen mit Israel, und Präsident Bashar al-Assad wäre zu einem Abkommen bereit. Es ist nur der Iran, der die Front gegen Frieden mit Israel unterstützt.
Arash Azizi ist ein iranischer Sozialist und Historiker an der New York University. Er ist Autor des Buchs »The Shadow Commander. Soleimani, the US, and Iran’s Global Ambitions«, das im November im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten erschien. Er hat zahlreiche Artikel veröffentlicht, unter anderem in der »New York Times«, der »Washington Post«, dem »Daily Beast« und »Jacobin«. Er twittert unter @arash_tehran.