Radikales aus dem Bunker
Mythen zeichnen sich meist dadurch aus, dass ihre Helden und Heldinnen nach vollbrachter Tat nicht mehr in die Niederungen der Profanität zurückkehrten: Sie gingen gleich ein ins Reich der Götter oder verfielen der Verdammnis; zumindest aber lebten sie bis zum glücklichen Ende ihrer Tage hinter Schloss- oder Klostermauern vor neugierigen Blicken geschützt.
Die Sehnsucht nach Mythen ist in der entzauberten Welt keineswegs gestillt, so aufgeklärt ist sie nicht. Aufgeklärt genug ist sie allerdings, um die in der populären Kultur zu Helden Erhobenen nicht aus der Profanität entlassen zu wollen. Diejenigen, denen es gelingt, tatsächlich mythische Figuren zu werden, haben jung zu sterben oder – weniger dramatisch – als in ihrer Zeit Verkannte, Unvollendete zu gelten, deren spektakulärer Misserfolg oder früher Sturz ihr Werk und Wirken vor der Profanierung schützt.
»The Faust Tapes« wurde 1973 in England zum Preis einer Single verkauft. Viele Käufer spielten, wie die Legende sagt, zwar lieber Frisbee damit, die Bedürfnisse einiger Jugendlicher allerdings sprach der kompromiss- und rücksichtslose Sound durchaus an.
Der sogenannte Krautrock der frühen siebziger Jahre ist ein solcher popkultureller Mythos in Reinform: Wenn man von Kraftwerk und, horribile dictu, den Scorpions absieht (immerhin einst von Conny Plank produziert und bei Brain unter Vertrag), bewahrt der niemals so richtig im Business angekommene Krautrock die himmelsstürmerischen Hoffnungen, Utopien und Möglichkeiten der frühen Siebziger auf, zumindest in der Erinnerung. Er wurde deshalb – und wird es immer wieder aufs Neue – zum Sehnsuchtsobjekt vieler, die an der spätestens seit den neunziger Jahren unleugbar gewordenen Austauschbarkeit, Konventionalität, Belanglosigkeit und Vorhersagbarkeit von Popmusik schier verzweifeln.
Gescheiterte Himmelsstürmer hat der Krautrock viele zu bieten, von A wie Amon Düül bis X wie Xhol Caravan – und doch bietet keine so viel Projektionsfläche für die in ihren Motiven so verständliche wie sympathische Überhöhung wie die Hamburger Musikkommune Faust; eine Band, die im Nachruhm eine Karriere gemacht hat, die ihr zu aktiven Zeiten verwehrt blieb. Über die Gründe lässt trefflich streiten: Scheiterte die Band nun zu Recht an ihrem mit Unprofessionalität und Hochstapelei gepaartem Radikalismus? Oder war sie in diesem Radikalismus ihrer Zeit ein paar Jahre voraus und konnte ihn deswegen nicht in Reinkultur entwickeln, wie es dann dem Post-Punk vorbehalten war, so dass sie eben doch als verkannte Genies angesehen werden müssen?
Die heute herrschende Sicht neigt zur zweiten These. Das Webportal Progarchives beispielsweise hält Faust für die »Gründerväter des Industrial« und die »einflussreichste deutsche Band aller Zeiten«, während Julian Cope in seinem oft allzu begeisterten Standardwerk »Krautrocksampler« wohl zu Recht festhält: »Größer als all ihre Alben aber ist, dass Fausts Geschichte von einer heroischen Zeit erzählt, in der nach den Sternen zu greifen nicht bedeutete, ein Star zu werden, um erfolgreich zu sein.« Mit nur wenig bösem Willen könnte man nun sagen, dass Cope, ehemals Sänger der Liverpooler Post-Punk-Band The Teardrop Explodes, wohl auch deswegen so sehr zur deutschen Rockmusik neigt, weil er sich auch ansonsten mächtig für Okkultismus und Paganismus interessiert.
Jedenfalls half auch Copes Buch – neben den Andeutungen von Johnny Rotten oder Stephen Morris (Joy Division/New Order), wie sehr Krautrock sie beeinflusst habe – die Preise für die Platten von Can oder Faust derart in die Höhe zu treiben, dass sich ein Markt für Vinyl-Wiederveröffentlichungen auftat. Dort trumpft jetzt das Label Bureau B mit einer üppigen Neun-LP-Box auf, die nahezu jeden bisher von Faust an die Öffentlichkeit gelangten Ton enthält, der in den Jahren 1971 bis 1974 entstand: von der von ihrem ersten Label Polydor einst abgelehnten Single »Baby« über das unveröffentlicht gebliebene Album »Punkt« bis zu Bonusalben mit Aufnahmen aus dem Faust-Studio in Wümme. Mehr als genug Material, um selbst zu urteilen, ob Faust nun tatsächlich ein oder sogar mehrere spätere Genres vorbereitet und antizipiert haben, oder ob der mythische Status der Band von ihrem musikalischen Material nicht gestützt wird – oder ob beide Ansichten womöglich nicht gänzlich von der Hand zu weisen sind.
Die Geschichte der Zeit, die Cope als »heroische« bezeichnet, beginnt, was Faust anbelangt, mit einem Geniestreich der Überredungskunst, das dem Hamburger Journalisten Uwe Nettelbeck gelang, seinerzeit enfant terrible der liberalen Presse und später Mitherausgeber der Zeitschrift Die Republik: Polydor, der Ableger der Deutschen Grammophon, versuchte 1970 verzweifelt, sich einen zeitgemäßen progressiven Anstrich zu geben. Diesem Label verkaufte Nettelbeck zwei kleinere Gruppen, die im Bunker an der Sternschanze Musikexperimente veranstalteten – Nukleus und Campylognatus Citelli, wer es genau wissen will – und die er zu einer Band fusioniert hatte, als nächstes großes Ding. Einen Gruppennamen gab es noch nicht, Nettelbecks Vorschlag »Götterdämmerung« fand keine Zustimmung, schließlich verfiel man auf »Faust«.
Eilig wurden im Bunker entstandene Musikbruchstücke aneinandergeschnitten, ein Werbetext für vollautomatische Waschmaschinen wurde darübergesprochen und das Ganze mit 20sekündigen Skandieren der Parole »Die Macht im Staat dem Proletariat« eingeleitet – fertig war die Demo-Single »Lieber Herr Deutschland«. Man mag es kaum glauben und so war es wohl nur Anfang der siebziger Jahre möglich: Das Demo brachte der Band einen Plattenvertrag ein, samt Vorschuss für ein Studioequipment, das technisch auf dem allerneuesten Stand war.
In Wümme, im Niemandsland zwischen Bremen und Hamburg, etablierte sich die Band als Landkommune in einem alten Dorfschulhaus, richtete sich ein Tonstudio ein, frickelte an heute urtümlich wirkenden elektronischen Klangerzeugern herum – und sollte nun etwas Großes und Unerhörtes erschaffen. Der damalige Schlagzeuger Arnulf Meifert schildert die Situation so: »Du sperrst ein paar Leute in einen Raum und sagst: Entweder vertragt ihr euch und schreibt das Gedicht des Jahrhunderts oder ihr werdet hingerichtet. Wir verriegeln die Türen, ihr habt sechs Stunden Zeit.« Etwas mehr Zeit räumte Polydor dann schon ein; was die Manager allerdings an Aufnahmen zu hören bekamen, versetzte sie in helle Panik ob ihrer Investition.
Zu Recht, denn die LP »Faust«, die das Kollektiv schließlich 1971 ablieferte, erwies sich trotz auffälligen Artworks (die berühmte Röntgenfaust) als nahezu unverkäuflich; die gewünschte Fusion der musikalischen Ideen war ausgeblieben, es blieb bei einer Collage für sich genommen durchaus hörenswerter Einzelteile, die über drei Stücke verteilt waren. Schon der Opener »Why Don’t You Eat Carrots« verzichtet auf jegliche Synthese: Klavierpassagen à la Wolfgang Dauner eröffnen, dann folgt ein Mittelteil, der sehr stark an die typischen, Jazzklischees ironisierenden Klänge der Mothers of Invention erinnert, über den dann Alltagsgespräche geblendet werden, um schließlich gegen Ende verschiedene akustische Elektroschocks auszuprobieren.
Nettelbecks Versuch, mit einem medialen Event in Hamburg zu retten, was zu retten war, endete in einem Desaster. Das Unterfangen der Band, live eine Art Raumklang-Spektakel zu bieten, endete damit, dass so gut wie nichts mehr aus den Lautsprechern kam; die Gäste wandten sich der Fernsehinstallation zu und drehten Bernhard Grizmeks Fernsehserie »Ein Platz für Tiere« rein, die meisten erhielten ihr Geld zurück.
Der Plattenvertrag war damit natürlich endgültig futsch, auch wenn Polydor 1972 mit »So Far« noch ein zweites Album der Band veröffentlichte – das heute als das klassische Faust-Album gilt: Es exponiert sein musikalisches Material deutlich besser zusammenhängend in neun kompositorisch geschlossenen Sektionen und besaß mit »It’s a Rainy Day, Sunshine Girl« sogar eine Art Hit, der klingt wie die Freak-Variante eines zeittypischen Glamrock-Stompers. Dessen monotoner Rhythmus wurde, so heißt es, mit zwei Flippern erzeugt, die an Synthesizer angeschlossen waren. Auf den folgenden Tracks spielten Faust durchaus souverän mit musikalischen Elementen des Progressive Rock, ob nun den eher ländlich-pastoralen (»On the Way to Abamäe«) oder den heavy-dramatischen (»No Harm«). Der eher freien Form wie dem musikalischen Schabernack wurde ebenfalls Platz gewährt, vernünftigerweise aber nicht als Überrumpelung in einem konturlosen Langstück, sondern komprimiert in abgeschlossenen Kompositionen: »Mamie Is Blue« greift in seiner synthetischen Aggressivität tatsächlich Industrial-Bands wie Bauhaus vor, während die schrille Lärmcollage »In the Spirit« sich auf der Idee angemessene zweieinhalb Minuten beschränkt.
Fausts ebenso bizarre wie für ihre Epoche geradezu übertypische Geschichte wäre wohl in Vergessenheit geraten, hätte es da nicht diese Kids gegeben, die ab 1977 die englische Rockmusik aufmischten und die den Krautrock in den Rang eines modernen Rockmythos erheben halfen.
Das deutsche Publikum honorierte den unzweifelhaften musikalischen Fortschritt nicht, schon gar nicht an der Ladenkasse. Zum Durchhören als Album war die Stilmixtur ja auch nicht gerade geeignet: Es verstieß gegen die Konventionen des Rock ebenso wie gegen die Orientierung der frühen elektronischen Musik in Deutschland, die immer weniger verstören und immer mehr im wörtlichen Sinne erheben wollte. Faust gehörten nun einmal nicht im mindesten zu den Vertretern der sogenannten Kosmischen Musik, deren Weltraumutopie der irdischen Dystopie (und nicht zuletzt der deutschen Vergangenheit) zu entschweben trachtete; der Trip durch Raum und Zeit, wie ihn Tangerine Dream, Klaus Schulze oder die Cosmic Jokers zu offerieren begannen, war mit Nettelbecks scheppernden Dadaisten um Hans Joachim Irmler und Jean-Hervé Péron nicht zu haben.
Das hätte das Schlusswort zu Fausts Karriere sein können. In Deutschland jedenfalls hatten sie keinen Nerv getroffen – aber woanders durchaus: in Großbritannien, dem Mutterland des modernen Rock. Die dortigen sozialen Verhältnisse unterschieden sich in den frühen Siebzigern enorm von den deutschen, starke Gewerkschaften kämpften um den Erhalt taumelnder Industrien und eines ebenso taumelnden Wohlfahrtsstaats, ohne auch nur entfernt an sozialpartnerschaftliche Konzessionen zu denken; die Hoffnungen der Nachkriegszeit und die Blütenträume der Sechziger waren dabei, zu platzen, es gärte allenthalben, vor allem bei Jugendlichen, die nach Protest und Provokation lechzten. Linksradikalismus taugte dazu nur sehr bedingt, zu sehr war vor allem der Trotzkismus in traditionellen Arbeiterorganisationen lange schon etabliert; was dafür aber definitiv taugte, war der Flirt mit dem Antipoden der britischen Kultur schlechthin: Deutschland.
Diese Stimmung witterten vor allem die vielgelesenen Musikzeitschriften Melody Maker, in der sich der erste Gebrauch des Begriffs »Krautrock« in einer Anzeige 1971 nachweisen lässt (gebräuchlich waren damals auch die Begriffe »Überrock« oder »Götterdämmer Rock«), und New Musical Express (NME), die im Dezember 1972 in gleich drei Ausgaben hintereinander Krautrock zum Schwerpunkt machte. Die heftigste Lobeshymne hielt Ian MacDonald dabei – auf Faust: »Faust – the biggest thing since the Beatles«, hieß es da. Geholfen hatte wohl auch, dass Nettelbeck zuvor beim NME für seine vertragslosen Protegés antichambriert hatte.
Die Kampagne wirkte jedenfalls, der Virgin-Labelgründer Richard Branson biss an. Ein Album zum Einspielen hatten Faust allerdings nicht, und so bot Nettelbeck dem Label einen Satz alter Demobänder aus Wümme an. Daraus machte Virgin das Album »The Faust Tapes«, das zum Verkaufsschlager wurde und bis auf Platz 13 in die britischen Charts kam. Der Grund dafür war simpel: Die LP wurde zum Preis einer Single verkauft. Viele Käufer spielten, wie die Legende sagt, im Sommer 1973 zwar lieber Frisbee damit, als sie ein zweites Mal zu hören, die Bedürfnisse einiger Jugendlicher allerdings sprach der kompromiss- und rücksichtslose Sound durchaus an; manche von ihnen gründeten später erfolgreiche Post-Punk-Bands.
Virgin ließ sich anfangs jedenfalls nicht lumpen: Faust zogen in »The Manor« ein, Bransons Landschloss in Oxfordshire, um im dortigen Studio »Faust IV« einzuspielen, im Wechsel übrigens mit Mike Oldfield, der dort zur gleichen Zeit »Tubular Bells« aufnahm. Das Eröffnungsstück von »Faust IV« nannte die Band vorwitzigerweise gleich »Krautrock« und tourte intensiv durch England, wo ihnen allerorten der Ruf einer kuriosen Attraktion vorauseilte. In der BBC-Doku mit dem bezeichnenden Titel »Krautrock – The Rebirth of Germany« sagen 2009 zwei Mitglieder von Faust, sie könnten sich an diese Zeit nicht mehr recht erinnern, man habe Tag und Nacht gekifft.
Und so kam es, wie es kommen musste: Nettelbeck überwarf sich mit Virgin, die Band zerstritt sich, das Geld wurde knapp – so knapp, dass die Reste der Band die Insel 1974 sang- und klanglos verließen. Ein Anruf von Giorgio Moroder, der in der künftigen Disco-Metropole München gerade Donna Summer produzierte, brachte Faust noch einmal zusammen. Zwei Wochen arbeitete man an der LP »Punkt«, bis das Nobelhotel, in das man sich einquartiert hatte, eine horrende Rechnung präsentierte. Virgin hatte sich geweigert, die Spesen zu übernehmen, die Band musste von wohlhabenden Verwandten ausgelöst werden, von da an ging jeder seine eigenen Wege.
Fausts ebenso bizarre wie für ihre Epoche geradezu übertypische Geschichte wäre wohl in Vergessenheit geraten, hätte es da nicht diese Kids gegeben, die ab 1977 die englische Rockmusik aufmischten und die den Krautrock – und das war in ihren Augen zuvörderst Faust und dann Can – in den Rang eines modernen Rockmythos erheben halfen. Spricht heute jemand von Kraut-Elementen auf dieser oder jener Platte, dann meint er damit normalerweise das, was die Protagonisten des Post-Punk aus den jugendlichen Hörerlebnissen gemacht hatten. Auf Fausts Nachleben und Nachruhm trifft am allermeisten zu, was Julian Cope in diesem Zusammenhang trocken konstatierte: »Krautrock ist ein britisches Phänomen.«
Faust: 1971–1974 (Bureau B)