Der Film »Bergman Island« konfrontiert mit dem Mythos Ingmar Bergman

Neue Szenen einer Ehe

Mia Hansen-Løve erzählt in ihrem neuem Film die Geschichte einer Regisseurin, die versucht, sich künstlerisch zu behaupten. Das übermächtige ­Fortwirken Ingmar Bergmans bildet dabei den Rahmen.

»Man muss sich vorsichtig bewegen können, zwischen dem Spuk und der Erinnerung«, sagt die von Ingrid Thulin gespielte Ester in dem in seiner psychologischen Radikalität noch immer beeindruckenden Film »Das Schweigen« (1963) von Ingmar Bergman. In der Ahnung ihres bevorstehenden Todes spricht Ester diesen Satz nicht zu ihrer Schwester oder zu ihrem Neffen, sondern zu sich selbst – wie in »Das Schweigen« ­eigentlich auch die Dialoge Monologe bleiben.

Auch Mia Hansen-Løves Film »Bergman Island« lässt sich als fingerspitzenzarte und dennoch bestimmte Vermessung jenes Raums zwischen Spuk und Erinnerung verstehen, zwischen dem, was, obgleich es nicht real ist, verfolgt und bedrückt, als sei es das Wirklichste von der Welt, und dem, was zwar erlebt, aber verdrängt und zurückgelassen wurde und sich trotzdem nachträglich Geltung verschafft.

Dass Ingmar Bergman weit über 50 Filme produzieren konnte, während er zugleich neun Kinder von sechs Frauen hatte, bildet in »Bergman Island« den Ausgangspunkt einer Reflexion über die Verein­barkeit von Mutterschaft und künstlerischer Arbeit.

Im Zentrum des Films der französischen Regisseurin steht letztlich die Frage nach der Möglichkeit von Emanzipation – nicht der großen, sondern der vermeintlich kleinen, ohne die die große nicht denkbar wäre. Den Rahmen liefert der Mythos um den Regisseur Ingmar Bergman, verdichtet in einem Ort oder vielmehr einer Landschaft: der kleinen schwedischen Insel Fårö, auf der Bergman von 1965 bis zu seinem Tod im Jahr 2007 seinen Hauptwohnsitz hatte und wo er begraben liegt. In »Wie in ­einem Spiegel« (1961) oder in den Außenaufnahmen von »Persona« (1966) inszenierte Bergman mit Hilfe seines vertrauten Kameramanns Sven Nykvist die felsige, von steinigen Stränden, Dünen und Ackerflächen dominierte Schärenlandschaft Fårös als düstere, karge, unwirtliche Psychogeographie. Mittlerweile gibt es auf Fårö ein Bergman-Center, eine Bergman-Woche und eine »Bergman-Safari«.

»Bergman Island« ist eine Konfrontation mit dem Mythos des Filmregisseurs, Reflexion über das Verhältnis von Wirklichkeit und Phantasie, cinephiles Fingerspiel und zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Künstlerpaars im Allgemeinen und dessen weiblicher Seite im Besonderen. Chris (Vicky Krieps) verbringt mit ihrem Mann Tony (Tim Roth) einige Wochen auf Fårö; beide sind Regisseure.

Finanziert wird der Aufenthalt durch ein Stipendium, das – so legt der Film nahe, ohne dass es offen thematisiert wird – eher Tony zugesprochen wurde als Chris. Ihre Unterkunft ist die sogenannte Bergman-Suite und ihre Nächte ­verbringen sie ausgerechnet in dem Zimmer, in dem Bergman in »Szenen einer Ehe« (1973) das Scheitern einer Liebe inszenierte.

Beide arbeiten an ihren nächsten Filmprojekten, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Tony scheint sein Drehbuch, das laut knapper Aussage von den »unsichtbaren Dingen« handelt, »die zwischen einem Paar zirkulieren«, in Windeseile fertig zu haben. Chris ist bereits bei ihrer Ankunft von der »Präsenz« Bergmans auf der Insel überwältigt. Sie leidet an Schreibhemmungen, und auch das Zimmer für sich allein, das sie für ihre Arbeit bezieht, kann diese nicht mindern. Außerdem vermisst sie ihre Tochter. Erst als Chris jenseits der mit Ingmar Bergman verknüpften touristischen Attraktionen zusammen mit dem sympathisch kauzigen Filmstudenten Hampus (Hampus Nordenson) die Insel kennenlernt, gelingt es ihr, Worte für ihre Phan­tasie finden.

Chris’ nächstes Projekt soll von einer jungen Frau namens Amy (Mia Wasikowska) handeln, die nach langer Zeit ihre Jugendliebe Joseph (Anders Danielsen Lie) bei einer Hochzeit wiedertrifft und die, inzwischen selbst verheiratet und Mutter, von ihrer Erinnerung überwältigt wird. Als Film im Film greift diese Fiktion nach und nach auf die Wirklichkeit von Chris und Tony über, bis beide Geschichten am Ende kaum noch voneinander zu unterscheiden sind.

Die Befreiung von der überbordenden Präsenz Bergmans, ohne die Verbindung zu seinem Werk vollständig zu kappen, ist essentieller Bestandteil von Chris’ künstlerischer Selbstsuche. Schon an der Art und Weise, wie Hansen-Løve die Landschaft von Fårö darstellt, zeigt sich die Kritik des Kults um Bergman, die sich durch Chris hindurch vollzieht. Freundlich und hell empfängt die Insel das Ehepaar, die Badeszenen erinnern eher an die an die Leichtlebigkeit der Filme Eric Rohmers als an die Düsternis von Bergmans Ästhetik.

Was als schrittweise Emanzipation einer Künstlerin von dem zwar tatsächlich geschätzten, aber eben auch als bewunderungspflichtig geltenden Vorbild beginnt, ist zugleich eine behutsame und Ambivalenzen erhaltende Auseinandersetzung mit der spezifischen weiblichen Erfahrung des Kunstschaffens. Dass Ingmar Bergman weit über 50 Filme produzieren und zum Weltstar werden konnte, während er zugleich neun Kinder von sechs Frauen hatte, zu denen er über weite Strecken seines Lebens kaum ein Verhältnis hatte, ist im Film der Ausgangspunkt einer Reflexion über die Vereinbarkeit von Mutterschaft und künstlerischer Arbeit.

Dass für Chris dieser Teil von Bergmans Leben eigene Erfahrung berührt und ihr Verhältnis zu seinem Werk durchaus beeinflusst, stößt bei Tony zunächst auf wenig Verständnis. Anders als Chris bewegt er sich leichtfüßig in der mit durchaus ironischem Blick dargestellten Kulturszene um das Bergman-Center und hat keine Schwierigkeiten zu arbeiten. Die von Vicky Krieps mit einer sympathischen Mischung aus Zielstrebigkeit, Verletzbarkeit und Kindlichkeit herausragend gespielte Chris ist, obgleich selbst Künstlerin, zunächst kaum mehr als die mit­gereiste Ehefrau des erfolgreichen Regisseurs. Als sie ihm von ihrem Film erzählt, dessen Schluss noch aussteht, wird er unaufmerksam; das Bedürfnis nach Austausch trifft auf Verschlossenheit.

Zu der Vermutung, dass dieser Erzählstrang von »Bergman Island« auch auf Erinnerungen der 1981 in Paris geborenen Regisseurin beruht, hat Hansen-Løve in Interviews und durch ihr Werk selbst Anlass gegeben. Bis 2017 war sie mit dem 26 Jahre älteren Regisseur Olivier Assayas ­liiert, den sie mit 18 als Schauspielerin in einem seiner Filme kennengelernt hatte und mit dem sie eine Tochter hat. Auch frühere Filme, zuletzt »Alles was kommt« (2016) mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle, bezogen sich erklärtermaßen auf Erlebnisse der Regisseurin.

Gleichwohl scheint »Bergman Island« insbesondere da, wo der Film Wirklichkeit und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit miteinander verwebt und souverän mit Fragmenten der Realität spielt, zeigen zu wollen, wie verkürzend solch eine Deutung ist. Gerade dort, wo im Film unterschiedliche Wirklichkeitsebenen miteinander verschmelzen, behauptet er sich als Kunstwerk, das die Frage nach seiner Genese beiseitelässt.

Ebenso wenig lässt Hansen-Løve »Bergman Island« zu einer Abhandlung über Mutterschaft, Weiblichkeit und Kunst werden. Zwar werden Tony und Chris zuweilen als Figuren gegenübergestellt: hier ein männlicher Typus, der wie selbstverständlich in einer künstlerischen Tradition steht, die er als Inspiration und Herausforderung begreifen kann, der autonom und ohne Einfluss von ­außen arbeiten kann; dort ein weiblicher Typus, dem der Kanon als Last und die Rolle als Frau und als Künst­lerin zunächst als Einschränkung gelten. Dennoch vermeidet der Film einseitige Auflösungen. Tony ignoriert Chris’ Sorgen nicht beständig, sondern verhält sich in manchen Momenten zugewandt und unterstützend, und Chris macht Tony weder zum Feind, noch begreift sie die Mutterschaft bloß als Last und Hindernis.

Stattdessen werden die irreduzible Einsamkeit, die die künstlerische ­Arbeit erfordert, und die Komplizenschaft, die Chris und Tony teilen und suchen – sowohl als Paar als auch in ihrer Profession –, in ihrer unauflöslichen Spannung zueinander herausgestellt. Die Emanzipation, die darin aufscheint, führt nicht ins Niemandsland. Sie lässt Spuk und Erinnerung nicht einfach hinter sich, sondern begegnet ihnen mit spielerischer Beweglichkeit.

Bergman Island (F/SWE/B/D/MEX 2021). Buch und Regie: Mia Hansen-Løve. Dar­steller: Vicky Krieps, Tim Roth, Mia Wasikowska, Anders Danielsen Lie. Kinostart: 4. November