Der Briefwechsel zwischen Leo Löwenthal und Herbert Marcuse

Wenn der Weltgeist Scherze macht

Ein neu veröffentlichter Ausschnitt aus dem Briefwechsel zwischen Leo Löwenthal und Herbert Marcuse gibt Einblick in deren Freundschaft und erzählt von dicker Luft im Institut für Sozialforschung.

Im Oktober 1943 gratulierte Herbert Marcuse seinem Freund und Kollegen Leo Löwenthal zum 43. Geburtstag und wünscht ihm, der zu diesem Zeitpunkt prekär im US-amerikanischen Office of War Information (OWI) beschäftigt war, einen »anständigen Job« in Washington. Während er in dieser Hinsicht zuversichtlich war, betrachtete er die Weltlage mit ironischem Pessimismus: »Für die Zukunft wären meine Wünsche nicht stark genug, um den Kurs des Weltgeistes zu ändern, der (oder die) vorläufig gegen uns ist. Vielleicht ändert er seine Meinung (lustige Idee, der Weltgeist ändert seine Meinung).«

Dass der Weltgeist gegen sie war, darin bestand die gemeinsame Erfahrung derjenigen Theoretiker, die sich in den späten zwanziger Jahren am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) zusammenfanden. Das lange 19. Jahrhundert, das 1789 mit der Maxime »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« begonnen hatte, hatte in der Katastrophe des Großen Krieges geendet. Die Revolution, die nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung an der Zeit gewesen wäre, war in Westeuropa gescheitert oder schlicht ausgeblieben. Die Weimarer Republik war schwach und stützte sich zur Niederhaltung revolutionärer Kräfte auf die antidemokratischen alten Eliten und Freikorps; ihr Ende war absehbar.

Der Briefwechsel zwischen Löwenthal und Marcuse zeugt nicht selten von einem ironischen, manch­mal gar distanzierten Blick auf das Institut für Sozialforschung und seinen Leiter Max Horkheimer.

Am 30. Januar 1933, als dieses Ende mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler gerade erreicht war, stieß Marcuse zum Institut für Sozialforschung. In der Genfer Zweigstelle, die das Institut in Antizipation der nationalsozialistischen Machtübernahme eingerichtet hatte, traf er auf Löwenthal, der dem IfS schon seit 1926 angehörte und seit 1932 Schriftleiter des Institutsorgans, der Zeitschrift für Sozialforschung, war. 1934 emigrierten beide in die USA. Dort verbrachten sie den Rest ihres Lebens und trugen – Löwenthal als Literatursoziologe, Marcuse als Philosoph – »zur kollektiven Entwicklung der Kritischen Theorie bedeutend bei«, wie der Historiker Martin Jay in ­seiner Einleitung für den kürzlich erschienenen Band »Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen« von Peter-Erwin Jansen schreibt.

Im Exil festigte sich auch die Freundschaft zwischen Marcuse und Löwenthal, die ein Leben lang währen sollte. Die im Band enthaltenen 16 Fotografien aus Privatalben Marcuses, vor allem aber die erstmals veröffentlichten 33 Briefe legen von dieser Freundschaft Zeugnis ab. Der Briefwechsel reicht von 1934 bis 1979 und zeigt die beiden Freunde somit in den verschiedensten biographischen und historischen Situationen. Im Sommer 1941 etwa schrieb Mar­cuse, noch auf eine enge philosophische Zusammenarbeit mit Horkheimer hoffend, von seiner »glücklichen Ankunft« in Los Angeles. 1943 handelten die Briefe vor allem von Marcuses Versuch, Löwenthal ans Office of Strategic Services (OSS) zu holen, zum Geheimdienst des US-amerikanischen Kriegsministeriums, für den Marcuse in dieser Zeit arbeitete.

Ende der sechziger Jahre berichtete Marcuse von seinen Reisen nach ­Europa, wo er von den Studierenden wie ein »Messias« empfangen und von Reportern verfolgt worden sei: »Ein schlechter Witz des Weltgeistes.« Die Briefe aus den siebziger Jahren bezeugen dann vor allem die ­gemeinsame theoretische Arbeit. Als Professoren in Kalifornien lebten sie nur knapp 500 Meilen voneinander entfernt, so dass Marcuses Texte regelmäßig von Löwenthals »wohlbekanntem redaktionellen Talent« profitieren konnten. Den letzten Brief schrieb Marcuse am 22. Juni 1979 aus Starnberg, geschwächt nach mehreren Krankenhausaufenthalten, aber zuversichtlich, im Juli »wie geplant nach Pontresina zu gehen«. Fünf Wochen später starb er im Alter von 81 Jahren.

Die Briefe zeigen zwei Intellektuelle, die sich im Exilland USA bald wohlfühlen, immer öfter auch auf Englisch schreiben beziehungs­weise diktierten (leider fehlt bei den einzelnen Briefen die Angabe, ob sie übersetzt oder im Original auf Deutsch verfasst wurden). Und sie zeugen nicht selten von einem ironischen, manchmal gar distanzierten Blick auf das IfS und dessen Leiter Max Horkheimer. Tiefergehende inhaltliche Diskussionen finden sich in der veröffentlichten Auswahl aus dem Briefwechsel allerdings kaum – diese blieben wohl vornehmlich dem persönlichen Gespräch vorbehalten. Jansen gibt mit seinem Band trotzdem einen Einblick ins theoretische Schaffen der beiden, indem er den Briefen acht eigene (unveröffentlichte oder zuvor in Zeitschriften erschienene) Beiträge sowie drei Texte aus den Nachlässen Marcuses und Löwenthals beifügt.

Marcuses Aufsatz »Sprache und technologische Gesellschaft« von 1961, eine Vorarbeit zu dem 1964 erstmals erschienenen Buch »Der ein­dimensionale Mensch«, verbindet Sprach- und Gesellschaftskritik: Die zunehmende Funktionalisierung der Sprache begreift er als Herrschaftsmittel. Seine Wortmeldungen in einem 1968 geführten Podiumsgespräch zur Frage »Hat Demokratie eine Zukunft?« sind so radikal wie pointiert: »Demokratie hat durchaus eine Zukunft. Aus meiner Sicht hat sie allerdings keine Gegenwart.« Jansen kommentiert Marcuses Positionen kenntnisreich und geht in drei umfangreichen Aufsätzen zentralen Themen von Marcuses kritischer Gesellschaftstheorie nach: der Ana­lyse nationalsozialistischer Ideologie und Propaganda, der Technologie­kritik und dem Konzept der Utopie.

Von Löwenthal kann man in dem Band einen circa 1929 verfassten Vortrag über Shakespeare lesen. Er steht im Zusammenhang mit anderen Arbeiten des jungen Löwenthal, die »unter dem Einfluss jüdischer Denktraditionen in Verbindung mit dem Projekt der Aufklärung« standen, so Jansen. Doch schon hier finden sich Elemente, die Löwenthals spätere Literatursoziologie kennzeichnen sollten: zum einen der Gebrauch psychoanalytischer Konzepte, zum anderen die Emphase auf das Glücksversprechen der Kunst: »Shakespeares Lächeln, wie das jedes großen Künstlers, heiße er Dickens oder Shaw oder Immermann oder Heine, ist das Versprechen, die Möglichkeit eines Lebens, das mehr ist als die Gegenwart, nämlich die Zukunft, in der sich das Lächeln für alle Menschen wirklich einmal lohnen soll.« Jansens biographisch fundierte Beiträge zu ­Löwenthal sind äußerst erhellend. Er hatte nicht nur Einblick in bisher ­unzugängliche Dokumente, sondern ihn verband auch eine Freundschaft mit dem 1993 verstorbenen Löwenthal.

Jansen ist als Vertreter der Eigentümer für Löwenthals und Marcuses Nachlass zuständig und hat sich sehr verdient gemacht – durch Publikationen und Editionen, aber auch durch die Vernetzung und Unterstützung von Forscherinnen und Forschern. Der vorliegende Band reiht sich hier ein. Er ist umso verdienstvoller, als Löwenthals und Marcuses Nachlässe, die im Archivzentrum der Universität Frankfurt am Main liegen, vergleichsweise unbekannt sind. Aus ihnen wurde bislang sehr viel weniger publiziert als etwa aus den Nachlässen Adornos und Benjamins. Wichtige Briefwechsel (etwa der zwischen Adorno und Marcuse) sind bis jetzt nicht veröffentlicht. Selbst die zu Lebzeiten publizierten Texte liegen nur unvollständig vor. Und keinem der beiden Theoretiker wurde bislang eine Biographie gewidmet.

An dieser Schieflage haben persönliche Konflikte und unglückliche Zufälle einen großen Anteil. Im Falle Löwenthals war insbesondere sein Bruch mit Horkheimer im Jahr 1957 folgenreich, zu dem es kam, als Löwen­thal Pensionsforderungen stellte und zu ihrer Durchsetzung einen Anwalt engagierte. In der Folge brachen Horkheimer und Adorno mit ihm, auch in intellektueller Hinsicht. Adorno präsentierte Löwenthals Aufsatz »Die gesellschaftliche Lage der Literatur« von 1932 in einer Vorlesung 1960 gar als »Schulbeispiel« für die »Simplifizierung und Vergröberung des Ideologiebegriffs« und erklärte mit Nachdruck, dass »die Bestrebungen von Löwenthal uns also in Wirklichkeit gänzlich entgegengesetzt gewesen sind«. Löwenthal, der durch Bekannte von derlei abfälligen Äußerungen über ihn erfuhr, war tief getroffen. In einem von Jansen zitierten Brief an Adorno von 1963 beklagte Löwenthal die »›stalinistische Geschichtsschreibung‹«, die Adorno in Bezug auf seinen »Beitrag zum Ins­titut und unserem gemeinsamen Gedankengut« zu betreiben scheine.

Auch Zufälle beeinflussten die Überlieferungsgeschichte: 1971 wurde eine Kiste mit Briefen aus Löwen­thals persönlichem Bestand, die er für das Archiv der Harvard Library ausgewählt hatte, von einem Hausmeister als vermeintliches Altpapier entsorgt, wodurch etwa ein Großteil der Korrespondenz mit Adorno verloren ging. Und wer ahnt schon, dass Marcuse beinahe Professor in Frankfurt hätte werden können? Dem online frei zugänglichen Briefwechsel im Max-Horkheimer-Archiv lässt sich entnehmen, dass Horkheimer 1950 »entschieden darauf gedrungen« hat, Marcuse auf den vakant gewordenen Frankfurter Lehrstuhl von Hans-Georg Gadamer zu berufen. Marcuse seinerseits bekundete, er würde sich zu einer Berufung »natürlich (…) positiv stellen«, fügte jedoch hinzu: »Ich müsste mich aber in der Beurteilung des Weltgeistes sehr irren, wenn ich glaubte, dass er Horkheimer, Adorno und Marcuse an einer und derselben Universität zuließe.«

Marcuse sollte mit seiner Beurteilung des Weltgeistes recht behalten. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Marcuse blieb in den USA und erlangte in den sechziger und siebziger Jahren große Popu­larität, die aber bald darauf verebbte. Heute ist er in der Beschäftigung mit der Kritischen Theorie ähnlich wie Löwenthal eher eine Randfigur. In Jansens Band, der ein kleiner, aber bedeutender Mosaikstein für eine umfassendere Geschichte der Kritischen Theorie ist, stehen beide im Mittelpunkt.

Peter-Erwin Jansen (Hg.): Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen. Auf­sätze. Mit Briefen von Herbert Marcuse und Leo Löwenthal sowie einer Einleitung von Martin Jay. Zu Klampen, Springe 2021, 284 Seiten, 28 Euro