Manche Linke vertrauen auf esoterische Heilkonzepte

Zuckerkügelchen statt Kritik

Manche Linke zeigen sich offen für alternativheilkundliche Verfahren, andere ignorieren oder verharmlosen Esoterik auf dem Gesundheitsmarkt.

Berechtigte Kritik an den etablierten Institutionen der Medizin und den in und von ihnen begangenen Fehlern gibt es viel. Nicht die Verbesserung der Lebensumstände von Patienten, sondern die Erwirtschaftung von Gewinnen ist oberstes Interesse von Pharmaunternehmen, vielen Krankenhäusern und Ärzten. Der Staat bemüht sich, beide Ansprüche zu regulieren. Einerseits sollen nationale Pharmaunternehmen genauso Gewinne machen können wie Krankenhauskonzerne und andere Betriebe im Gesundheitswesen. Andererseits sollen die Kosten für die Gesundheit der Staatsbürger nicht zu sehr steigen und deren Arbeitskraft soll möglichst effizient erhalten werden.

Esoterische und pseudomedizinische Konzepte halten sich im linksalternativen Milieu trotz aller Kritik, die andere Linke daran äußern.

Um diesen Widerspruch auszubalancieren, gibt es viele staatliche und halbstaatliche Institutionen sowie ein unübersichtliches Regelwerk für die Erstattung und Zulassung medizinischer Leistungen, das selbst Fachleute kaum durchschauen. Alternativheilkundliche Verfahren passen sich hervorragend in dieses System ein. Auch mit ihnen können Hersteller und Dienstleister Profite machen, zudem halten sie viele Patienten bei Laune – wobei der Staat in der Regel darauf achtet, dass das esoterische Selbstmanagement sich nicht zu weit verbreitet, denn sonst könnte es zu ernsthaften Störungen im kapitalistischen Betriebsablauf kommen. Anthroposophie zum Beispiel wird nur so weit toleriert, wie sie den Erhalt der Arbeitskraft nicht allzu sehr, zum Beispiel durch Impfverweigerung, gefährdet.

Dass Anthroposophie als unwissenschaftlich abzulehnen ist, ist vermutlich unter Linken weitgehend Konsens. Aber was ist mit Osteopathie, Akupunktur und Homöopathie? Wahrscheinlich ist die Anzahl derer klein, die noch nie eine dieser Methoden in Anspruch genommen haben, obwohl es sich auch bei diesen um Pseudomedizin handelt, also um Methoden, deren über den Placeboeffekt hinausgehende Wirksamkeit weder wissenschaftlich bewiesen noch plausibel ist.

Esoterische, pseudomedizinische, als alternativ und sanft bezeichnete Heilkonzepte halten sich im linksalternativen Milieu trotz aller Kritik, die andere Linke daran äußern. Sie haben teils eine lange Geschichte. Lebensreformbewegung, Anthroposophie und Homöopathie wurden in Mitteleuropa geprägt von schweren Krisen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Zulauf bekamen sie nach den Revolten 1968. Deren Irrwege kritisierte unter anderen Gabriele Goettle bereits 1976 in ihrem Aufsatz »Schleim oder nicht Schleim: das ist hier die Frage« in der Zeitschrift Die schwarze Botin für ihre falsch verstandene Emanzipation.

Von solcher Kritik unbeeindruckt existiert seit 1986 der Verein Lachesis e. V. – Berufsverband der Heilpraktikerinnen, auf den Goettles Kritik so gut passt wie die Akupunkturnadel auf den Triggerpunkt. Dieser sich als feministisch verstehende Verein besteht nach eigenen Angaben unter anderem aus »Heilpraktikerinnen*, Naturheilkundlerinnen*, Homöopathinnen*, Phytotherapeutinnen*, Schamaninnen*«. Im Mai vorigen Jahres veröffentlichte er anlässlich der zwei Monate zuvor ausgebrochenen Covid-19-Pandemie das »Manifest 2020«, in dem es hieß: »Wir würdigen den Zyklus von Werden, Wachsen und Vergehen. Wir verstehen Gesundheit, Krankheit und Tod als Teil dieses Prozesses.«

Die Übergänge zwischen esoterischen Milieus und manchen sich als links verstehenden Kreisen sind fließend. Gemeinsam ist ihnen ein ausgeprägter Irrationalismus und Relativismus. Wenn es um Gesundheit geht, äußert sich das in einer Überhöhung der Vorstellung, der Patient müsse nur umfassend über alle Alternativen informiert werden und könne dann am besten selbst beurteilen, was gut für ihn ist.

Das führt zu der Auffassung, dass die Medizin von den strengen Regeln der Wissenschaftlichkeit befreit werden müsse. Demnach sollten alle machen, was sie wollen, um sich gesundheitlich selbst zu optimieren. Da ist es dann fast egal, ob man sich mit alternativmedizinischen Mitteln oder vermeintlich seriöseren Präparaten und Methoden wohler fühlt. Vitamintabletten und Diäten sind oft ähnlich wirkungslos wie Bachblüten und Co.

Eine solche relativistische Haltung nehmen auch viele Impfgegner ein. Bestenfalls halten sie die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, für eine persönliche Wahl, die genauso zu akzeptieren sei wie das Gegenteil, egal was die Wissenschaft sagt; in schlimmeren Fällen hängen sie latent oder offen antisemitischen Verschwörungstheorien über dunkle Machenschaften mit Impfstoffen an.

Studien des in Basel lehrenden Soziologen Oliver Nachtwey zeigen, dass Personen, die gegen Impfungen und andere Vorkehrungen zur Eindämmung der Pandemie protestieren, im Südwesten Deutschlands mehrheitlich aus eher linksliberalen Milieus stammen. Nachtwey zufolge mischen sich dort liberale, antiautoritäre, eher linke Überzeugungen mit Wut auf die Regierung und staatliche Institutionen. Aus Linksliberalen, die früher teils die Grünen gewählt hätten, seien Unterstützer der AfD und der voriges Jahr gegründeten Partei »Die Basis« geworden. Ihre Vertreter betonen in jedem zweiten Satz, wie wichtig Achtsamkeit sei. Und wofür sind sie sonst noch? Für Homöopathie, für Heilpraktiker und sogenannte alternative Therapien.

Interessant sind die Biographien mancher Mitglieder des bis zur Neuwahl des Bundesvorstands der Partei am 5./6. Dezember 2021 amtierenden Vorstands. Dessen Co-Vorsitzender Andreas Baum beschreibt sich als Ingenieur mit dem Hobby Naturheilkunde, der angefangen habe, »in einem Fernkurs den Abschluss zum zum Heilpraktiker zu machen«. Die bisherige Co-Vorsitzende Diana Osterhage arbeitete bis Februar dieses Jahres als Heilpraktikerin mit dem Schwerpunkt Homöopathie. Viola Schäfer, ebenfalls bis vor kurzem Vorstandsmitglied und »Säulenbeauftragte für Achtsamkeit« der Partei, setzt sich nach eigenen Angaben im Verein Intaktiv e.V. gegen Genitalverstümmelung ein. Sie habe sich »stets als politisch linksliberal verstanden«, fühle sich aber »spätestens seit der Durchsetzung der Coronamaßnahmen von den sogenannten ›linken‹ Parteien alles andere als repräsentiert«, schrieb sie auf der Website der Partei.

Ähnlich könnte auch die Selbstbeschreibung einer Person aus dem Milieu der prorussischen sogenannten Montagsmahnwachen für den Frieden klingen, die 2014 anlässlich des Kriegs in der Ukraine aufkamen. Auch dieses Milieu gab sich teils links, wurde aber unter anderem von Jutta Ditfurth schon früh als Teil der »neuen Rechten« bezeichnet.

Dass sich als links verstehende Kritiker der Pandemiemaßnahmen auch ohne Bezugnahme auf heilkundliche Esoterik auskommen können, zeigt die im Juni veröffentlichte Broschüre »Der Erreger«. Auf der Website der vor einigen Jahren eingestellten Zeitschrift Magazin, auf der zahlreiche Beiträge von sich als links verstehenden Kritikern der Pandemiemaßnahmen veröffentlicht wurden, wird sie als »Sammlung von Texten im wesentlichen kommunistischer Intellektueller« bezeichnet. Die Broschüre ist geprägt von raunender Pseudoaufklärung im linken Gestus. Länglich wird erklärt, wer hinter allem steckt: die Pharmaindustrie, die Regierung und das Kapital. Manche Texte verharmlosen die Pandemie, andere leugnen sie.

Obwohl in Anbetracht der mangelnden Impfbereitschaft in Deutschland vermehrt Analysen über den Zusammenhang zwischen Impfverweigerung und der Neigung zu Alternativheilkunde veröffentlicht wurden, zögern viele Linke noch immer mit einer fundamentalen Kritik an Gesundheitsesoterik. Der Bundesvorstand der Linkspartei zum Beispiel hat einerseits im April einen im Vergleich mit anderen Parteien bemerkenswert deutlichen Beschluss gefasst, in dem er anerkennt, »dass die Homöopathie nicht über den Placeboeffekt hinaus wirkt« und »ein Ende der Erstattung von Homöopathie und anderer nicht evidenzbasierter Behandlungsmethoden durch die gesetzlichen Krankenkassen« verlangt. Andererseits fordert er in demselben Beschluss eine amtliche Gebührenordnung für homöopathische und andere pseudowissenschaftliche Heilverfahren. Eine ­realpolitisch einfach durchzusetzende Abschaffung des Berufs des Heilpraktikers oder ein Verbot des Verkaufs von esoterischen Mitteln in Apotheken fordert der Vorstand hingegen nicht.

Noch immer gibt es unter Linken die Tendenz, Esoterik auf dem Gesundheitsmarkt zu ignorieren oder zu verharmlosen. Für manche ist es offenbar attraktiv, sich zwischendurch die eine oder andere esoterische Dienstleistung oder Pille zu gönnen und über die Abhängigkeit von moderner Medizin hinwegzusehen.

Die radikale Kritik der etablierten Medizin und der gesellschaftlichen Bedingungen, denen sie unterliegt, ist dringend notwendig. Voraussetzung dafür ist die schonungslose Kritik ­jeglicher Esoterik.