Ein Gespräch über die schädlichen Folgen der Kriminalisierung von Drogen

»Man darf jetzt auf keinen Fall bei Cannabis aufhören«

Die deutsche Drogenpolitik verfolgt in erster Linie das Ziel, den Konsum illegaler Drogen zu verhindern. Weil sie damit kaum Erfolg hat, sollte es mehr »schadensreduzierende« Drogenarbeit geben, meint der Suchtforscher Heino Stöver.
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Die Bundesregierung möchte ihrem Koalitionsvertrag zufolge erlauben, dass Cannabis in lizenzierten Läden an Erwachsene verkauft wird. Wie finden Sie das?

Gut! Es ist der richtige Schritt und angesichts der vielen konsumnahen Delikte längst überfällig.

Was für Delikte sind das?

Das Bundeskriminalamt nennt so die Delikte, die aufgrund des Eigenbedarfs von Cannabis und anderen Drogen begangen werden. Und die machen mittlerweile rund 80 Prozent der gesamten Betäubungsmitteldelikte aus. Die Polizei verfolgt also immer mehr Konsumenten, anstatt den Drogenhandel zu ahnden. Das sollte aber keine Aufgabe der Polizei sein.

»Die Menschen, die Cannabis konsumieren, haben kein Unrechtsbewusstsein.«

Warum nicht?

Die Polizei ermittelt einen Fall durch und übergibt die Anklage dann der Staatsanwaltschaft. Meistens geht es dabei aber um so geringe Mengen Cannabis, dass die das Ganze sofort in den Papierkorb schmeißt. Und das ­betrifft fast 200 000 Fälle im Jahr. Es ist eine riesige Ressourcenverschwendung.

Bei der Diskussion über die Legalisierung von Cannabis geht es ja nicht nur darum, sondern auch um Gesundheit. Langzeitstudien zu­folge kann Cannabiskonsum zum Beispiel bei Jugendlichen blei­bende neurologische Schäden hinterlassen. Welches Mindestalter müsste also für Cannabiskonsum gelten?

Das stimmt, Cannabis kann, wie jede andere Droge auch, in der Hirnentwicklung enormen Einfluss nehmen. Und je eher Menschen bewusstseinsverändernde Substanzen nehmen, desto höher sind die Risiken, dass es zu Schäden kommt. Der Gesetzgeber richtet sich aber nicht nach den Erkenntnissen der Hirnforschung, sonst dürfte Bier auch erst an 21jährige, nicht schon an 16jährige verkauft werden. Der Cannabiskonsum wird ab 18 legalisiert werden, denn ab dem Alter ist man in Deutschland mündig, alles andere wäre nicht rechtskonform.

Aber erhöht das nicht die Gefahr von neurologischen Schäden für Jugendliche?

Nein, überhaupt nicht. Kein Forscher geht davon aus, dass die Legalisierung das Konsumverhalten verändert. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat untersucht, wie sich die Legalisierung von Cannabis in anderen Ländern auf den Konsum ausgewirkt hat. Die Studien, die herangezogen wurden, deuten darauf hin, dass nach der Lega­lisierung im Schnitt nicht mehr Cannabis konsumiert wird als vorher.

Warum ist das so?

Die Menschen, die Cannabis konsumieren, haben kein Unrechtsbewusstsein. Das liegt auch daran, dass andere Drogen legal sind, die viel gefährlicher sind. Es sterben zum Beispiel jährlich 127 000 Menschen an den Folgen von Tabakkonsum, mehr als durch alle anderen Drogen zusammengenommen.

In einem wissenschaftlichen Paper aus dem Jahr 2017 fordern Sie, dass es mehr »schadensreduzierende« Drogenarbeit geben solle, also sogenannte Harm-Reduction-Maßnahmen (HR-Maßnahmen). Was ist ­damit gemeint?

Das Dogma in unserer Gesellschaft lautet: Abstinenz von illegalen Drogen. Das heißt, die Leute sollen die Finger davonlassen. Das tun sie aber nicht. Also muss das Ziel sein, gemäßigt zu konsumieren. Dafür sollen HR-Maßnahmen sorgen. Diese HR-Maßnahmen sollen ­bewirken, dass Menschen, die Drogen nehmen, weniger Schaden an sich selbst anrichten. Das ist eine realistische und pragmatische Strategie.

Was heißt das konkret?

Zum Beispiel darüber zu informieren, dass es deutlich gesünder ist, Cannabis im Vaporizer zu konsumieren statt mit Tabak im Joint. Oder Cannabis nur einzusetzen, wenn es der Kontext erlaubt, also am besten nicht vor der Mathearbeit. Fachläden sind natürlich auch eine Form der Schadensminimierung. Auf den Artikeln im Laden steht, was drin ist, wie hoch der THC-Gehalt ist und wo das Cannabis herkommt. Wie bei einem guten Weinladen. So etwas wird durch die Legalisierung ­möglich, sie ist also auch eine Form der Schadensminimierung.

Abstinenz ist also nicht das Ziel?

Die Abstinenz ist für viele ein tolles Ziel, und diese Menschen unterstützen wir natürlich auch. Aber es gibt eben noch mehr Ziele. Unterschiedliche Menschen brauchen unterschiedliche Lösungen. Schadensminimierung kann ein guter Plan B sein und dieses Ziel hat genau dieselbe Wertigkeit wie Abstinenz.

Für einen akzeptierenden Ansatz in der Drogenhilfe setzen Sie sich auch mit Ihrem Verein »Akzept e. V.« ein. Wie erleben Sie den Einfluss gesellschaftlicher Stigmatisierung auf Ihre Klienten?

Stigmata sind ein großes Thema, auch bei legalen Drogen. Bei den illegalen ist mit dem Konsum und der Beschaffung noch Kriminalität verbunden, das beeinflusst die Sicht auf bestimmte konsumierende Gruppen zusätzlich. Stigmatisierung führt dazu, dass die Menschen den Konsum verheimlichen, auch vor der Familie. Dadurch gehen Menschen Risiken ein, sie kaufen zum Beispiel irgendeinen Dreck auf der Straße. Stigmatisierung bewirkt, dass Menschen nicht in eine Beratungss­telle gehen, über der groß »Suchthilfestelle« steht.

Sollten also alle Drogen legal ­werden?

Ja. Man darf jetzt auf keinen Fall bei Cannabis aufhören. Wir müssen auch die Menschen entkriminalisieren, die Opiate oder Kokain nehmen. Es müssen zumindest bestimmte Mengen festgelegt werden, die sie legal bei sich ­haben dürfen. So ist es zum Beispiel in Portugal. Dort verweist die Polizei Menschen mit illegalen Drogen an eine Beratungsstelle, statt sie zu verhaften.

Mit dem »Alternativen Drogenbericht« liefern Sie jedes Jahr gemeinsam mit anderen Forschenden ­einen Überblick über die Drogen­situation in Deutschland. Warum gibt es diesen Bericht?

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung liefert einmal im Jahr einen Drogenbericht. Der bietet aber eine stark selektive Sicht, die parteipolitisch geprägt ist. Wir als Fachleute haben uns dann irgendwann entschlossen, ein Alternativformat zu wählen, um eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Der offizielle Bericht lässt mehr Fragen offen, als er beantwortet. Mittlerweile bekommt unser Bericht meistens mehr Aufmerksamkeit als der der Drogenbeauftragten. Wir bräuchten sowieso gar keine politischen Drogenbeauftragten, sondern besser eine Kommission von Fachleuten, die die Politik berät und sie dabei unterstützt, drogenpolitische ­Positionen zu entwickeln.
 

Heino Stöver

Heino Stöver ist Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung Frankfurt (ISFF). Er ist Vorsitzender des Vereins Akzept e.V. – Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik und Mitherausgeber des jährlichen »Alternativen Drogen- und Suchtberichtes«.