Barbi Markovićs ­Roman über »Die verschissene Zeit« von Teenagern im Belgrad der Neunziger

Knallharte Sause

Drei Teenager, Belgrad, eine Zeitmaschine und die Neunziger – das sind die Zutaten für Barbi Markovićs Roman »Die verschissene Zeit«.

Der Wunsch, an einem bestimmten Punkt in der Vergangenheit anders gehandelt zu haben, ist ein reichlich simpler Reflex auf die kränkende Einsicht, dass der Weltlauf die persönliche Existenz übersteigt. Der hoffnungslose Tagtraum vom »Was wäre gewesen, wenn … ?« gibt zwar vor zu trösten; doch weil er um Unmögliches kreist und die Dinge entschieden vereinfacht, befriedigt er lediglich eine narzisstische Phantasie, die nirgendwo hinführt. Eine solche punktuelle autobiographische Korrektur würde schließlich in vielen Fällen nichts bewirken, da es weniger falsche Entscheidungen als vielmehr erdrückende Umstände sind, die das Dasein vermiesen. Konkret: »Es gibt Phasen im Leben, in die man ganz sicher nicht zurückkehren möchte, weil sie unangenehm oder schmerzvoll oder einfach langweilig waren, man ist in diesen Phasen nicht auf der Welle geritten, sondern herumgeschubst worden wie ein Plastiksack in der Sava, neben einem aufgedunsenen, toten Schwein, und konnte nicht mal die besten Elemente der eigenen Persönlichkeit zum Einsatz bringen, weil man schon mit Minuspunkten gestartet war.«

Diese Zeilen meinen die neunziger Jahre, und sie finden sich in »Die verschissene Zeit«, dem neuen Roman von Barbi Marković. Die aus Belgrad stammende und seit 2006 in Österreich lebende Schriftstellerin fiel erstmals 2006 mit »Izlaženje« auf, ihrer Remix-Adaption von Thomas Bernhards »Gehen«, die drei Jahre später unter dem Titel »Ausgehen« auf Deutsch erschien. 2016 folgte ihr teils auf Deutsch, teils auf Serbisch verfasstes, von Mascha Dabić teilübersetztes Romandebüt »Superheldinnen« über drei migrantische Wienerinnen, für das sie im folgenden Jahr mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet wurde. Nun hat sich Marković mit ihrem neuen, erstmals zur Gänze auf Deutsch geschriebenen Roman zurückgemeldet, der zugleich als Rollenspiel konzipiert ist, das die Autorin gemeinsam mit Thomas Brandstetter entwickelt hat und das dem Buch beiliegt.

Markovićs literarische Überzeichnung lässt nachfühlen, welchen Druck die damaligen Zustände ausübten. Es lief grottige Musik, der Privatsender TV Palma strahlte Pornos aus, zur Verköstigung musste der sogenannte Embargokuchen reichen.

Tatsächlich instruiert die Erzählerin die jugendliche Hauptfigur so, wie es die Spielleiterin in den bekannten Pen-and-Paper-Formaten täte. Es ist Anfang 1995, und Vanja lebt gemeinsam mit ihrem Bruder Marko und der Freundin Kasandra im Belgrader Stadtteil Banovo brdo. Die sozialistische SPS unter Slobodan Milošević regiert, der Bosnien-Krieg tobt noch, und das Land leidet unter den Folgen des unabgeschlossenen Übergangs von der angeblich klassenlosen Gesellschaft Jugoslawiens in eine marktwirtschaftlich organisierte, die aufgrund des Handelsembargos gar nicht erst zu einer solchen werden kann.

Die Mischung aus politischem Regress, desolater ökonomischer Lage, allgemeiner Stagnation, Apathie und kriegsbedingter Verrohung potenziert das ausgedehnte Zeitgefühl, das Jugendlichen eigen ist, zu einem andauernden Desaster. Noch der kleinste Anlass stiftet Dramen, die sich ins Überdimensionierte auswachsen und von konstanten Fluchtiraden begleitet werden; deutsche Schimpfwörter und Redewendungen nehmen sich im Vergleich zu den hier versammelten Sprüchen wie Kinderreime aus. Die allgemeine Tristesse verschärfen zahlreiche Scheußlichkeiten in der Nachbarschaft, was den Alltag des Trios zu einer einzigen Zumutung macht: Schlägertypen, Gewalt gegen Tiere, mutmaßliche Kriegsverbrecher, Pitbulls und obendrein noch eine tägliche Portion des Hackfleischgerichts Pljeskavica, die dem schwächlichen Trio zur Stärkung angeraten wird. All das inmitten von Armut und Perspektivlosigkeit, befeuert von Antiziganismus und persönlichen Tragödien.

Markovićs literarische Überzeichnung lässt nachfühlen, welchen Druck die damaligen Zustände ausübten. Es lief grottige Musik, der Privatsender TV Palma strahlte Pornos aus, zur Verköstigung musste der sogenannte Embargokuchen reichen, während die Inflation schwindelerregende Ketten von Nullen auf Geldscheine presste, die auf den Straßen zum notorischen »Zzzzz«-Sound der devize, devize zischenden Männer einzutauschen sind, die mit D-Mark handeln. Dazwischen tauchen immer wieder sogenannte Dizelaši (sinngemäß: »Diesler«) auf, ein Mode­phänomen jener Ära, das um fragwürdig zusammengestellte Markenklamotten (begriffsstiftend aus dem Hause Diesel) kreiste, die nicht zuletzt deshalb zur Schau gestellt wurden, weil der Preis eines solchen Outfits das Monatseinkommen des durchschnittlichen Arbeiters bisweilen – ohne Übertreibung – um ein Hundertfaches überstieg.

Diejenigen, die sich mit der jüngeren Geschichte Serbiens auskennen, verstehen die Anspielungen sofort. Für sie mag die Lektüre dieses Romans auch weniger spaßig ausfallen als für andere, zumal die anspielungsreichen Dialoge immer wieder an Brutales gemahnen, ohne zu konkretisieren: »Kennst Du den letzten Witz über Mujo und Haso?« – »Nein, sag.« – »Mujo und Haso gehen durch den Wald und treffen auf den Kommandanten.«

Eines Tages finden sich Vanja, Marko und Kasandra plötzlich im Jahr 1999 wieder – und zwar ausgerechnet im Frühling, als Serbien und Montenegro gerade von der Nato bombardiert werden. Fatalerweise wurde ihr Bewusstseinsstand vom Jahr 1995 in vier Jahre ältere Körper katapultiert. Wie das Trio bald herausfindet, ist der Erfinder Miomir Vukobratović für die unfreiwillige Zeitreise verantwortlich. Während der gleichnamige Forscher (1931–2012) in Wirklichkeit mit der Entwicklung der Robotik befasst war, ist er bei Marković ein scheinbar wohlgesinnter Kauz, der wegen der untragbaren Zustände, die vom autoritär-maroden Staat bis ins Private hinabreichen, eine Zeitmaschine entwickelt hat: Mit dieser sollte man in die Vergangenheit zurückreisen können, um dort das für Serbien verheerende Jahrzehnt zu verhindern. Das wollte prompt ausprobiert werden, dummerweise funktionierte die Erfindung jedoch nicht wie gewünscht, weswegen sich die Jugendlichen in der Zukunft zurechtfinden müssen.

Trotz dieser Sci-Fi-Wendung hat der Roman vor allem den Charakter eines schiefgegangenen, in die Länge gezogenen Trips, zumal alle im Handlungsverlauf vorgenommenen Zeitsprünge – vorwärts, rückwärts, vorwärts, vorwärts –, stets auch pubertäre Entwicklungsstadien meinen. Die Unterschiede zwischen einer 13- und einer 17jährigen sind bekanntlich immens, und während die Jüngere noch das Küssen übt, muss sich die Ältere mit einer Abtreibung auseinandersetzen – »jede einzelne Entwicklungsphase die Hölle«, heißt es gleich eingangs.

So prescht die Handlung unablässig durch diverse jugendliche Gemüter und Stationen eines Jahrzehnts, das Marković die »Allneunziger« nennt, geschildert in einer Sprache, die bisweilen direkt dem vollgedröhnten Hirn der Hauptfiguren entsprungen zu sein scheint und nie darauf aus ist, irgendetwas zu beschönigen. Dieser Roman gibt keinen Halt und kennt keinerlei Verschnaufpausen, aber für solche ist hier im wahrsten Sinne des Wortes keine Zeit. Dass es um Zeitreisen geht, steht sinnbildlich für den Versuch, der eigenen Erinnerung habhaft zu werden und zu verstehen, was war – bevor der Tagtraum des »Was wäre gewesen, wenn … ?« in den gefährlichen kollektiven Wunsch nach Großreinemachen in der Gegenwart mündet, indem man sich etwa eine Stunde null herbeisehnt, nach der alles anders zu sein hat. Aus Vanjas, Markos und Kasandras Selbstbehauptung in ihren diversen Versionen, die mal ­albern, mal grob, mal hilflos und mal clever ausfällt, spricht nicht zuletzt die Trauer, Geschichte eben nicht ändern zu können.

Marković findet die richtigen Worte für den sozialen Abgrund, der sich zwischen Melancholie und Ohnmacht auftut. Sie versucht erst gar nicht, diesen zu schließen, sondern setzt ihre Figuren dem Vergangenen aus wie Autos einem Elchtest. So erinnert sie daran, dass selbst dann, wenn eine solche Rückkehr möglich wäre, bereits das Bewältigen eines einzigen Tages zum Scheitern verurteilt wäre: »Die Menschen werden durch die persönliche und kollektive Geschichte irren und sich fragen, was tun mit all der Vergangenheit?« Das entzieht der trügerischen Sehnsucht nach einer anderen historischen Abfolge sogleich den Boden – zumal deren Inhalt politisch nicht unproblematisch ist: »Alle denken, dass sie sich erinnern, aber sie erinnern sich nicht oder sie erinnern sich falsch oder sie erinnern sich unterschiedlich, je nach Blickwinkel (und das tun sie dann auch jedesmal ein bisschen anders). Was für ein Chaos Er­innerungen sind, alles ist viel komplizierter, als ihr es wahrhaben wollt. Auf dieser Unsicherheit der Erinnerungen sind eure Staaten und eure Leben und die Leben aller Menschen gebaut und gleichzeitig scheitern eure Staaten und eure Leben und die Leben aller Menschen daran.«

Glücklicherweise verzichtet Mar­ković auf eine Heldinnengeschichte, und am Ende kippt das Surreale ins Kriminelle: »Ihr seid im Kampf, aber nicht um ein besseres Leben, nicht um eure Rechte (ihr könnt euch ein besseres Leben und mehr Rechte nicht mal vorstellen), euer Kampf ist der Kampf des Fleisches, das leben will. Und der Kampf der unwichtigen Leute, die trotzdem agieren wollen.«

Der einzige Wermutstropfen bei diesem atemlosen Roman mitsamt seiner nicht nachlassenden Wucht, grotesken Komik und unkonventionellen Aufarbeitung der neunziger Jahre ist das häufig gesetzte Gendersternchen, das ausgerechnet in einer nationalistischen Macho-Kultur und in einem verrohten Alltag Vielfalt nahelegt, wo eine solche mit Sicherheit nicht anzutreffen war, und das irritierenderweise auch nicht durchgängig verwendet wird: So heißt es beispielsweise auf einer Seite »die Schulfreundinnen und -freunde, die gleichaltrigen Nachbarinnen und Nachbarn«, während auf der nächsten ausgerechnet von »Polizist*­innen« die Rede ist. Aber vielleicht ist das die dem Roman eigene Zeitmaschine, die seine Handlung durch die Gepflogenheiten der Gegenwart jagt. Und es ändert nichts daran, dass »Die verschissene Zeit« eine knallharte Sause ist, ein Coming-of-Age-Roman bar jedweder Nostalgie – ­gegen das Verzweifeln am Leben und für den Versuch, dieses zu begreifen.

Barbi Marković: Die verschissene Zeit. ­Residenz-Verlag, Salzburg/Wien 2021, 304 Seiten, 24 Euro