Die Ukraine bereitet sich auf ­einen möglichen russischen Angriff vor

Diplomatisches Sperrfeuer

Russland sammelt Truppen an der Grenze zur Ukraine. Die USA war­nen vor einer drohenden Invasion. Während die russische Regie­rung entsprechende Pläne abstreitet, will die ukrainische Regierung vor allem die Wirtschaft des Landes schützen – aber auch militärisch vorbereitet sein.

Seit Monaten häuft die russische Regierung an der ukrainischen Grenze schweres Kriegsgerät an. Insgesamt seien dort, so die Angaben der ukrainischen Regierung, mindestens 127 000 Soldaten stationiert. Hinzu kommen russische Truppen für ein anstehendes ­Manöver im nördlich der Ukraine gelegenen Belarus.

Das Rätselraten über die Pläne der russischen Führung nimmt dies- und jenseits des Atlantik kein Ende. Gleichzeitig laufen Verhandlungen. Nach ersten Gesprächen im Januar bestand die russische Führung darauf, von den USA und der Nato schriftliche Antworten auf seine im Dezember formulierten Maximalforderungen nach verbind­lichen, wie es die russische Regierung nennt, Sicherheitsgarantien zu bekommen.

Die Ukraine hat mit einer Verschlech­­terung der ohnehin angespannten Wirtschaftslage
zu kämpfen.

Anfang Februar gelangten die nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Stellungnahmen der USA und der Nato an die Presse. Moskau hatte auf ihren Inhalt enttäuscht reagiert. Außenminister Sergej Lawrow stellte klar, dass für Russland die Verhinderung der Nato-Osterweiterung höchste Priorität genieße, in dieser Frage gebe es aber kein Entgegenkommen seitens der Nato. Immerhin biete das Dokument eine Op­tion für einen ernsthaften Dialog über zweitrangige Sicherheitsfragen.

Die Stimmung ist seltsam aufgeheizt, mittlerweile scheint alles möglich. Seit vergangenem Herbst wartet die US-Regierung mit immer neuen Ankündigungen auf, Russland plane einen Einmarsch in der Ukraine; immer konkreter wird dabei auch mit neuen Sanktionen gegen Russland gedroht. Das bri­tische Außenministerium wollte Ende Januar gar Pläne des Kreml in Erfahrung gebracht haben, durch einen Putsch ein Marionetten-Regime in Kiew zu installieren, eine Behauptung, die viele ukrainische Beobachter als unrealistisch bezeichneten. Von der allgemeinen Anspannung zeugt auch die am 4. Fe­bruar von der Nachrichtenagentur Bloomberg versehentlich veröffentlichte Schlagzeile »Russland marschiert in die Ukraine ein«. In Deutschland versuchte die Bild-Zeitung, das Thema mit angeblich genauen Kenntnissen über Invasionspläne auszuschlachten.

Schrille Töne bestimmen auch die politische und diplomatische Kommu­nikation in Russland. Marija Sacharowa, die nie um drastische Worte verlegene Sprecherin des Außenministeriums, reagierte auf die jüngsten vermeintlichen Enthüllungen in ihrem Telegram-Kanal unverhohlen: Hinter diesen »Salven« stünden »echte Perverse, die zu allem bereit sind«. Bereits seit Wochen geben sich offizielle Vertreterinnen und Vertreter Russlands in hohem Grade irritiert über die Anschuldigungen aus dem Westen, einen Krieg gegen die Ukraine vorzubereiten. Wenn es überhaupt zu Kampfhandlungen käme, dann einzig und allein nach einer Provokation durch ukrainisches Militär oder die USA und Großbritannien, heißt es aus Kreisen der russischen Regierung. Wie effektiv die US-Regierung durch an die Presse geleitete Informationen die internationale Diskussion über Russlands Militäraufmarsch und die damit einhergehenden Forderungen in den vergangenen Monaten zu beeinflussen vermochte, sorgt im russischen Establishment für Befremden.

Wenn Sacharowa den Westen der »Lüge« zu überführen behauptet, da Russland schließlich immer noch nicht angegriffen habe, triumphiert sie geradezu. Süffisant erklärt sie in ihren Pressegesprächen, die Nato leiste der Ukraine mit dem Versprechen eines möglichen Beitritts einen Bärendienst, denn wer wolle schon ein Land aufnehmen, das ständig Gefahr laufe, von Russland angegriffen zu werden. In dieser salopp vorgebrachten Aussage entlarvt sich das Kalkül, durch die Kriegsdrohung die Ukraine aus der Nato halten zu wollen. Doch gibt Sacharowa keinerlei Hinweise dazu, wie lange die derzeitige hohe Militärpräsenz aufrechterhalten werden soll und kann.

Fakt ist, dass sich Einheiten der russischen Streitkräfte auf der Krim, in Belarus und an einigen Stellen jenseits der Ostgrenze der Ukraine für längere Zeit eingerichtet haben. Jüngste Satellitenaufnahmen des US-amerikanischen Unternehmens Maxar Technologies zeigen neben neu eingetroffener Militärtechnik, wie beispielsweise Iskander-Raketenabschussvorrichtungen in Belarus, auch Armeezelte. Das spricht für ein Anwachsen der Truppenstärke an Ort.

Russland hat seine Armee in den vergangenen Jahren mit enormem finanziellen Aufwand modernisiert und fühlt sich gerüstet, als Supermacht aufzutreten und sein militärisches Drohpotential demonstrativ zur Geltung zu bringen. Das stellt einen Bruch mit dem taktischen Vorgehen in der Vergangenheit dar: Präsident Wladimir Putin ist Anhänger und Meister geheimer Sonderoperationen, und auch im Osten der Ukraine, wo längst Krieg herrscht, intervenierten reguläre russische Truppen bisher nur inoffiziell. Die derzeitige Truppenmassierung widerspricht diesem Prinzip nicht nur, sondern verfolgt augenscheinlich ein ­anderes Ziel – im besten Fall Druck für Verhandlungen aufzubauen, im schlimmsten Fall eine Invasion vorzubereiten.

Die Ukraine hat derweil mit einer Verschlechterung der ohnehin angespannten Wirtschaftslage im Land zu kämpfen. Präsident Wolodymyr Selenskyj bezifferte die finanziellen Verluste im Zuge der aktuellen Krise auf 12,5 Milliarden US-Dollar. Ukrainische Wirtschaftsexperten halten diese Zahl zwar für zu hoch angesetzt, weil sich Kapi­talabfluss und der Rückzug ausländischer Investoren kaum exakt messen lassen. Aber allein schon der deutliche Kursverfall der ukrainischen Währung Hrywnja in den vergangenen Wochen veranschaulicht die Folgen der Krise, die noch zu den schweren Folgen der Covid-19-Pandemie hinzukommt. Inzwischen lebt die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung in Armut, Angaben von Unicef zufolge litten bereits im vergangenen Sommer über eine Million Menschen an Hunger.

Bei einer Pressekonferenz Ende Januar äußerte Selenskyj daher seinen Unmut über »Panik«, die der Westen verbreite. Dessen Darstellung erwecke den Eindruck, es befänden sich »Panzer in den Straßen von Kiew«. Diesem Versuch der wirtschaftlichen Schadensbegrenzung fügte er hinzu, dass ein Teil des ukrainischen Territoriums längst besetzt sei.

In der Tat dauert der Kriegszustand mit Russland de facto bereits fast acht Jahre, und an der Grenze zu den von Russland mit Waffen versorgten sogenannten Volksrepubliken im Donbass vergeht seither kaum ein Monat ohne Todesopfer. In einem Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica stufte Verteidigungsminister ­Oleksij Resnikow die momentane Wahrscheinlichkeit einer weiteren Zuspitzung als niedrig ein und betonte, dass Russlands Truppenstärke an der Gren­ze zur Ukraine nicht für einen großangelegten Angriff ausreiche.

Dennoch bereitet sich die Ukraine vor. Die USA, Großbritannien, Kanada und andere Nato-Länder liefern Waffen und Munition an die Ukraine. Selenskyj stellte zudem die Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht bei gleichzeitiger Umwandlung der Streitkräfte in eine Berufsarmee bis zum Jahr 2024 in Aussicht. Seit dem 1. Januar gilt außerdem ein Gesetz, das die Verteidigung zusätzlich stärken soll, indem es große Teile der Bevölkerung in lokale Ver­teidigungseinheiten einbezieht. Rekrutierung und Vorbereitung an Ort und Stelle laufen bereits.

Fraglich ist, wie die Festnahme einer Gruppe von Personen, darunter ein ehemaliger Polizeioberst mit Bezug zur Donezker Volksrepublik, innenpolitisch zu bewerten ist: Ihnen wird die Vorbereitung von Massenunruhen zur inneren Destabilisierung vorgeworfen. Ende Januar berichtete das Innenministerium über die Vereitelung ­solcher Aktionen in mehreren ukrainischen Städten.

In der nahe der russischen Grenze gelegenen Großstadt Charkiw demonstrierten am Samstag über 5 000 Menschen bei einem »Marsch der Einheit« ihre Zugehörigkeit zur Ukraine. Die ­Demonstration hatten Vertreter der rechtsextremen Partei »Nationales Korps« organisiert, die aus der in Charkiw gegründeten Asow-Bewegung hervorging. Die Stadtregierung hatte versucht, die Demonstration zu verbieten.

Östlich der Grenze sind Demonstrationen bis auf Ausnahmefälle längst verboten. Weder lässt sich in der russischen Bevölkerung begeisterte Zustimmung zu einem Militäreinsatz beobachten, noch existiert eine politisch relevante Friedensbewegung. Einige wenige stellen sich mit Plakaten auf die Straße und werden dann meist von der Polizei abgeführt.

Es ist bezeichnend, dass regimekritische Medien jüngst ausgiebig an den Jahrestag der Rückkehr des Oppositionellen Aleksej Nawalnyj aus Deutschland und seine sofortige Festnahme erinnerten, die anschließenden landesweiten Massenproteste jedoch bestenfalls mit einer Randnotiz würdigten. Die starke Repression der vergangenen zwölf Monate hat die russische Gesellschaft weitgehend verstummen lassen. Zwar wehren sich Menschen nach wie vor – auch in Gruppen organisiert – gegen Missstände im Bildungswesen und in vielen anderen Alltagsbereichen, aber politische Meinungsäußerung ist mit hohen Risiken verbunden, die einzugehen nur noch wenige bereit sind.