Ein Gespräch mit dem ukrainischen Politologen Serhiy Kudelia über Russlands Krieg gegen die Ukraine

»Es würde das Ende der Zukunft bedeuten«

Der russische Angriff hat das Ziel, die Ukraine dauerhaft unter russische Kontrolle zu bringen und möglicherweise zu teilen. Ein von Russland kontrolliertes Marionettenregime könnte nur mit Gewalt herrschen.
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Waren Sie überrascht, als am Morgen des Donnerstags voriger Woche der russische Einmarsch in die Ukraine begann?

An dem Morgen war ich nicht überrascht. Am Tag zuvor hatte Russland sein diplomatisches Personal aus Kiew, Odessa und Lwiw abgezogen, da war mir klar, dass es passieren würde. In der Nacht vor der Invasion kontaktierte ich Freunde und Familie und ­riet ihnen, sich vorzubereiten. Aber noch einen Monat zuvor, als ich zum letzten Mal in der Ukraine gewesen war, schien eine Invasion nicht sehr plausibel zu sein. Wir alle müssen uns fragen, warum so viele Ukrainer, Russen und Russland-Experten nicht daran geglaubt haben.

Was sind die Gründe dafür?

Im akademischen Bereich ist ein Faktor, denke ich, dass wir mit einem Modell von Rationalität arbeiten, wenn wir die Entscheidungen von Individuen analysieren. Das führte zu der Annahme, dass die Kosten und Risiken einer Invasion für Russland so viel höher sein würden als der Nutzen, dass es unmöglich schien, dass Putin sich dafür entscheiden könnte. Aber man muss auch emotionale Faktoren berücksich­tigen. Bei Putins Fernsehansprachen der letzten Tage zeigte sich deutlich, dass seine Ukraine-Politik nicht nur von rationalen Kalkülen bestimmt wird, sondern von seinen persönlichen Ansichten darüber, wie der russische Staat aus­sehen sollte und ob die Ukraine es verdient, ein souveräner Staat zu bleiben.

»Wir müssen uns fragen, warum so viele Ukrainer, Russen und Russland-Experten nicht an eine Invasion geglaubt haben.«

Was ist die Grundlage dieser Ansichten? Haben Analysten Wladimir ­Putins Nationalismus unterschätzt?

Putin ist ein ehemaliger KGB-Agent, dessen oberste Aufgabe es damals war, die territoriale Integrität der Sowjetunion zu schützen. Der Zerfall des sowjetischen Staats traf ihn schwer. In seiner Rede über die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken vergangene Woche verwendete er viel Zeit darauf, die ehemaligen Sowjetführer dafür anzugreifen, dass sie mit ihrer sogenannten Nationalitätenpolitik die Grundlage für den Zerfall der Union gelegt hätten: Lenin und Stalin, weil sie es zuließen, dass die Sowjetunion aus Republiken bestand, die um Nationalitäten her­um organisiert waren, und Gorba­tschow, weil er diesen Republiken das Recht zugestand, souveräne Staaten zu werden. Offenbar soll das jetzt korrigiert werden.

Was sind die Ziele der russischen Regierung für die Ukraine?

Es gibt mehrere Möglichkeiten. Am wahrscheinlichsten scheint mir, dass sie sich ein Szenario wie für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vorstellen. Es gibt einige Äußerungen aus Russland, die auf eine Teilung des Landes hindeuten, wobei der eine Teil weiter mit dem Westen assoziiert und der östliche Landesteil vollkommen unter Russlands Kontrolle stehen würde. Aber beide Landesteile würden demilitarisiert werden. Jede Verletzung der Rüstungsbeschränkungen würde zu neuen Strafaktionen des russischen Militärs führen.

Will Russland sich Teile der Ukraine einverleiben?

Ich denke nicht, dass Russland die Ost­ukraine annektieren will wie die Krim. Die Ziele sind Demilitarisierung und eine »Denazifizierung«. Das Ziel scheint also zu sein, ein Marionettenregime östlich des Dnepr zu errichten – so wie die Ukraine auch im 17. Jahrhundert zwischen dem russischen Reich und Polen-Litauen geteilt war. Die russische Armee versucht derzeit, Städte und Territorien im Süden und Osten zu erobern, einschließlich der Hafenstadt Odessa. Sobald die ukrainische Regierung gestürzt oder zur Flucht aus Kiew bewegt würde, könnten eine Übergangsregierung eingesetzt und von Russland kontrollierte Wahlen abgehalten werden. Die Verhandlungen mit der verbliebenen ukrainischen Regierung im Westteil würden sich dann vor allem dar­auf konzentrieren, welche Auflagen diese erfüllen muss, damit es keine ­weiteren Angriffe der russischen Armee mehr geben wird. Das ist meiner Ansicht nach die wahrscheinlichste Strategie.

Was müsste Russland tun, um das zu erreichen?

Es tut es schon jetzt. Die russische Armee greift beispielsweise Charkiw an, die zweitgrößte ukrainische Stadt mit 1,4 Millionen Einwohnern. Charkiw war in den zwanziger und dreißiger Jahren Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik und könnte wieder Hauptstadt werden, falls die Invasionstruppen Kiew nicht erobern, was ohne sehr viele zivile Tote kaum möglich sein wird. Russland braucht außerdem Kontrolle über andere Großstädte, Cherson, Mykolajiw, Odessa, Saporischschja. Eine andere Schlüsselstadt ist Dnipro im Zen­trum des Landes, bekannt für ihre pro­ukrainisch eingestellte Bevölkerung. In anderen Städten könnte Russland aber auf geteilte Meinungen in der Bevöl­kerung hoffen. Ich glaube, sie rechnen mit der Kollaboration von weiten Teilen der Zivilverwaltung. Sie werden wohl anbieten, dass die lokalen Verwaltungen weiter bestehen dürfen, wenn sie die politische Autorität Russlands über sich anerkennen.

Gibt es schon Anzeichen für solche Kollaboration?

Ja, in wenigen kleineren und mittleren Städten im Osten des Landes haben ­Lokalverwaltungen erklärt, dass ihr Gebiet unter Kontrolle der russischen ­Armee sei und sie mit dieser in Kontakt stünden, um für Ordnung zu sorgen. So sehen sich die lokalen Verwaltungen, ähnlich wie im Vichy-Frankreich, nicht als Verräter, sondern als Leute, die relative Stabilität und Kontinuität des Lebens in ihren Städten garantieren.

Muss Russland für diese Strategie zivile Opfer möglichst vermeiden?

Ja, das ist entscheidend. Ich habe mir russische Propagandasender angeschaut, und die betonen alle, dass sie zivile Opfer vermeiden wollen, weshalb zunächst zum Beispiel auf großangelegte Bombardierung der Städte verzichtet wurde. Sie befürchten, dass sich die Bevölkerung gegen sie stellen und dem Aufruf zur Bewaffnung in Territorialeinheiten folgen wird. Offenbar war die Strategie zunächst, Städte zu umzingeln, aber nicht in sie einzudringen oder sie massiv zu beschießen, sondern später ihre Kapitulation auszuhandeln. Ein Raketenangriff auf das Zentrum Charkiws am Dienstag zeigte, dass die russische Armeeführung sich nicht mehr an diese Beschränkung gebunden fühlt. Je stärker der ukrainische Widerstand, desto zerstörerischer wird der russische Angriff werden.

Was bedeutet das für die belagerten Städte?

Je länger es geht, desto größer werden die Versorgungsprobleme werden. Vor allem im Süden und Norden droht eine ernste humanitäre Krise.

Was ist die Strategie der ukrainischen Regierung?

Sie stellt territoriale Verteidigungseinheiten für Zivilisten auf und versucht, internationale Unterstützung und die Lieferung von Waffen und Militärgerät zu organisieren. Außerdem setzt sie sich für harte Sanktionen ein. Der effektivste Weg, den Krieg zu beenden, wäre es, wenn Putin spürt, dass seine Macht durch diese militärische Überanstrengung unmittelbar bedroht ist.

Weil es Proteste in der russischen Bevölkerung gibt?

So brutal, wie in Russland gegen Proteste vorgegangen wird, ist eine große Mobilisierung gegen das Regime derzeit schwer vorstellbar. Aber sollte es spürbare Verschlechterungen des Lebensstandards geben, werden die Menschen kaum lange still bleiben. In der russischen Geschichte gab es schon zwei Mal Momente, in denen der Staat Kriege führte und die Bevölkerung sich erhob, nämlich während des Ersten Weltkriegs und des Afghanistan-Kriegs, und weder das Russische Reich noch die Sowjetunion haben das überlebt. Ich bin mir sicher, die heutige Herrschaftsschicht Russlands erinnert sich daran.

Natürlich findet Zensur statt, und es gibt keine Berichte über tote russische Soldaten. Das deutet darauf hin, dass auch Putin versteht, dass ein Krieg gegen die Ukrainer – selbst Pro-Putin-Kommentatoren zufolge ja das »Brudervolk« – unbeliebt bei Russen ist, oder dass Hunderte oder Tausende junger Russen für Putins imperiale Ambitionen in der Ukraine sterben werden. Aber bisher schweigt die Mehrheit, viele glauben noch der Propaganda, dass der Krieg, oder besser, die »spezielle militärische Operation«, schnell vorbei sein werde. Ihnen wird erzählt, dass die russische Armee deutlich überlegen sei und die Ukrainer ihnen dankbar für die Befreiung seien – Befreiung von der eigenen Regierung, die sie in fairen und freien Wahlen gewählt haben, wohlgemerkt.

Wie ist die russische Kriegsbegründung einzuordnen, es gehe um eine »Entnazifizierung« der Ukraine?

Es ist so lachhaft, so leer, dass man kaum dagegen argumentieren kann. Anders als 2014, als der Krieg in der Ostukraine begann, kann man auch keine echte Unterstützung für Russland seitens der Bewohner der eroberten Gebiete beobachten. Damals schwenkten viele Menschen im Donbass russische Flaggen, wünschten sich eine russische Intervention und eine Eingliederung in den russischen Staat. Das sehen wir diesmal überhaupt nicht. Es werden auch keine prorussischen Einheiten aus der ukrainischen Bevölkerung gebildet. Das ­widerlegt die Behauptung, es gebe eine große Zahl Ukrainer, die sich unterdrückt fühlen und auf die Russen als Befreier gewartet hätten.

Und was soll man zur Behauptung einer »Entnazifizierung« überhaupt sagen? Es ist absurd. Zahlreiche führende ukrainische Regierungsmitglieder sind ­russische Muttersprachler, der Präsident, der Verteidigungsminister, der Vor­sitzende des Geheimdiensts. Präsident Wolodymyr Selenskyj verdankt seine Karriere seinem Erfolg in der russischen Unterhaltungsindustrie. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 wurde er von seinem Konkurrenten, dem damaligen Präsidenten Petro Poroschenko, als Sympathisant Russlands oder sogar Verräter hingestellt. Und natürlich ist Selenskyj der erste Präsident der Ukraine mit jüdischer Abstammung.

Wie würde eine russische Besatzung und eine von Russland kon­trollierte Regierung aussehen?

Das ist eine sehr wichtige Frage. Ein Marionettenregime könnte nur durch heftige Repression überleben. Es müsste eine Art Stasi aufbauen, oder Schlimmeres, ein Regime, das Terror gegen die Bevölkerung ausübt. Es wäre unmöglich, diese Gebiete auf eine quasidemokratische Weise zu regieren. Das Marionettenregime wäre illegal und international nicht anerkannt und müsste ­außergewöhnlich brutal sein. Es würde das Ende der Zukunft für die Bewohner dieser Gebiete bedeuten. Sie könnten nirgendwo mehr hinreisen, sie ­wären isoliert. Ihre Fabriken würden verfallen, denn die wichtigen Exporte metallurgischer oder chemischer Produkte nach Europa würden aufhören. Der Westen wird mit einem solchen illegitimen Regime wohl nicht Handel treiben. Es wäre nicht wie das geteilte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern wie die nicht anerkannten separatistischen Republiken in Transnistrien, Abchasien, Ossetien und dem Donbass. Für die Bevölkerung würde das bedeuten, dass sie keine Zukunft mehr hat.

Wie schätzen Sie die Aussichten der Verhandlungen zwischen Vertretern der Ukraine und Russlands ein?

Zurzeit dürfte Russland nur über die Bedingungen für die Kapitulation der ­Ukraine verhandeln. Bevor es wirkliche Verhandlungen geben kann, müsste Russland erkennen, dass es seine hochgesteckten Ziele nicht erreichen kann. Und die Kosten für den Krieg müssten zunehmen.

Sie haben schon lange kritisiert, dass die ukrainische Regierung das Minsker Abkommen zur Beendigung des Kriegs in der Ostukraine nicht energisch genug umgesetzt hatte. Haben Sie angesichts der Invasion Ihre Meinung geändert?

Nein, ich denke immer noch, dass Russland anders agieren würde als jetzt, wenn es bedeutenden Fortschritt bei der Umsetzung des Minsker Abkommens gegeben hätte. Vielleicht wäre die Invasion dann zu einem späteren Zeitpunkt gekommen, aber zumindest hätte das der Ukraine mehr Zeit verschafft, um sich vorzubereiten und Wirtschaft und Militär zu entwickeln.

 

Serhiy Kudelia

Serhiy Kudelia ist Associate Professor an der Baylor University (USA) und derzeit URIS-Fellow (Ukrainian Research in Switzerland) an der Universität Basel. Er ­arbeitet an einem Buchprojekt über den Konflikt in der Ostukraine und hat dafür umfassende Feldforschung in der Region betrieben. Er ist Experte für ethnisch-politische Konflikte, Terrorismus, autoritäre Regime und russische Politik.