Homestory

Homestory #10

Nachdem die Suchaktionen des US-Militärs im Irak nicht die Massenvernichtungswaffen zutage gebracht hatten, wegen derer offiziell der Einmarsch erfolgt war, soll Wladimir Putin trocken kommentiert haben: »Also wenn ich Amerikaner wäre, ich hätte Massenvernichtungswaffen gefunden.«

So lautet zumindest ein Witz aus der damaligen Zeit. Ein Witz, der heutzutage teilweise Wirklichkeit wird. Vieles am russischen Einmarsch in die Ukraine ist zuvor offenbar weniger gründlich geplant worden, als man erwartet hätte, beispielsweise die Logistik. Die ­propagandistisch verbreiteten Kriegsgründe – eine krude Mischung aus nationalistischer Rhetorik, Anklagen gegen »den Westen« und Lügen über die von »Nazis« regierte Ukraine – wirkten recht lustlos zusammengestellt. Eine Woche nach Beginn der Invasion wurde diesem Gemisch eine weitere Zutat beigefügt. Russische Offizielle begannen, vor angeblich mit Hilfe der USA in der Ukraine hergestellten Biowaffen zu warnen. »Im Lauf der speziellen militärischen Operation« – wie man in Russland den Krieg nur nennen darf – »wurden Fakten über eine Notfallsäuberung von Spuren eines militärischen Bio-Programmes durch das Kiewer Regime entdeckt, das vom US-Verteidigungsministerium finanziert wird«, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Demnach seien hektisch Biowaffen wie Erreger von Pest, Anthrax und Cholera vernichtet worden.

Glauben soll das höchstens ein sehr spezielles Publikum, dessen einzige Informationsquelle aus dem russischen Fernsehen besteht. Aber es zielt auch auf nicht wenige in den westlichen Staaten, die mit solchen Behauptungen getrollt werden sollen. Putin sagte, er wolle einen »Genozid« in der Ukraine verhindern – und wollte damit wohl auch daran erinnern, dass die Nato mit derselben Begründung 1999 Serbien bombardierte. In den Tagen vor der Invasion warnten russische Stellen vor dem Versuch von US-Söldnern, in der Ostukraine einen Giftgaseinsatz vorzubereiten. Reale Giftgasein­sätze waren 2018 der Grund für eine Bombardierung militärischer Einrichtungen und Labore Syriens unter anderem durch die USA gewesen.

Die Flut der Bilder und Meldungen aus der Ukraine reißt nicht ab. Dadurch entsteht leicht die Illusion, das Kriegsgeschehen lasse sich in Echtzeit verfolgen. Doch wer mit Menschen im Land im Kontakt steht, kriegt vor allem den Eindruck von tiefer Unsicherheit und Verwirrung. Seit dem Schock vor zwei Wochen, als die Bewohner Kiews von Raketeneinschlägen geweckt wurden, sind viele von ihnen Hunderte oder Tausende Kilometer durch das Land geirrt und versuchten dabei, die Lage einzuschätzen, in der sie sich wiederfanden: Welche Fluchtwege sind sicher? Wo muss man mit Bombardement rechnen? Werden Männer zwangsrekrutiert?

Zwei taubstumme Geflüchtete schafften es irgendwie, den Weg aus Kiew in einen Zug nach Berlin zu finden. Sie wollten sich mitteilen, aber es fiel ihnen schwer, schriftlich ihre Flucht zu schildern. So zeigten sie gestisch, wie ihre Heimatstadt bombardiert wurde. Einer von ihnen schrieb, er sei vor dem Krieg immer am Dnepr ­angeln gegangen. Nun hoffen sie, dass sie es zu Verwandten in Kanada schaffen.