Vivek Chibber versteigt sich in seinem neuen Buch »The Class Matrix«

Was die Massen wollen

Vivek Chibbers marxistische Kritik an postkolonialer Theorie war lesenswert, nun legt er mit seiner Kritik am »cultural turn« nach – die mit viel Geraune daherkommt.

Als Karl Marx und Friedrich Engels davon schrieben, in Europa gehe ein Gespenst des Kommunismus um, nahmen sie die Paranoia der reaktionären Publizistik des Vormärz aufs Korn. Sie empfahlen im »Manifest der Kommunistischen Partei« entsprechend, sich um die Angst der bürgerlichen Reaktion nicht zu scheren. Wenn der politische Gegner eine kommunistische Bedrohung beschwöre, so laute die selbstbewusste Antwort darauf: Eure Angst ist berechtigt und ihr werdet schon sehen, mit wem ihr es wirklich zu tun bekommt.

Von solch einem Selbstbewusstsein kann die Linke heutzutage nur träumen. Zwar wird immer noch ein Schreckgespenst namens Kulturmarxismus an die Wand gemalt; dieser »frühsexualisiere« Kinder, verführe die Jugend zu Satanismus oder ­Homosexualität und zersetze christliche Werte – also das göttlich verbriefte Eigentumsrecht. In Wahrheit aber hat natürlich niemand Angst vor diesem Marxismus respektive vor einer politischen Linken, die am Rande der historischen Bedeutungslosigkeit vegetiert.

Im Gegensatz zu seinem ungenannten Vorbild Lenin liegt bei Chibber die Stärke des Marxismus nicht einmal mehr darin, »dass er wahr ist«, sondern darin, dass er die größten Vorteile der Massenmobilisierung verspricht.

Seit einiger Zeit tritt jedoch eine Bewegung auf, die diese Ohnmacht und Irrelevanz der Linken überwinden will – und sei es auch nur rhetorisch: Sie proklamiert den »New Socialism«, publiziert poppige Magazine wie Jacobin und organisiert zum Teil bemerkenswerte Kampagnen wie von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«. Auch hier ist der sozialistische Traum der einer starken Massenbewegung, wie Marx und Engels sie im »Manifest« so selbstbewusst antizipierten. Dafür reicht es allerdings nicht, einfach so zu tun, als läge der Sozialismus bereits in der Luft. Man muss die Geschichte auf seiner Seite haben. Eine der traditionellen Quellen einer starken sozialistischen Linken ist daher der theoretische Nachweis, dass die Zeichen auf Revolution stehen, dass die inneren Widersprüche des Kapitalismus den Zusammenbruch des Systems wahrscheinlich, wenn nicht unausweichlich machen, dass es sich entsprechend lohnt, sich der Bewegung anzuschließen. Kurzum: Es braucht eine möglichst tragfähige Kapitalismuskritik.

Für diese Aufgabe hat die vor allem US-amerikanische sozialistische Bewegung um das Magazin Jacobin den New Yorker Soziologieprofessor ­Vivek Chibber. Er ist Herausgeber der Theoriezeitschrift Catalyst. A Journal of Theory and Strategy, einem Ableger von Jacobin. Sie soll, wie es 2017 in der Ankündigung der ersten Ausgabe hieß, die Funktion erfüllen, den heutigen Kapitalismus theoretisch zu erfassen. In diesem Sinne veröffentlichte Chibber 2019 »Das ABC des Kapitalismus«, eine Sammlung dreier kurzer Broschüren, die das Wichtigste über das Thema vermitteln sollten. Chibber sah sich damit, wie er in einem Interview verriet, in einer Tradition marxistischer Intellektu­eller, bevor diese »an die Universitäten gingen und ihre Karrieren darauf aufbauten, unverständliches Zeug zu schreiben«.

Dem deutschen Publikum wurde Chibber vor allem durch die 2018 erschienene Übersetzung seines Buchs »Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals« bekannt, in dem er den postcolonial turn in den Sozialwissenschaften auf eine fehlerhafte Marx-Lektüre zurückführte. Das Unbehagen an der postkolonialen Theorie mit Marx auszutreiben, hat damals einigen gefallen. Ein ähnliches Ziel verfolgt Chibber auch in seinem neuesten Buch, »The Class Matrix«, das nun auf Englisch erschienen ist. Darin kontert Chibber den sogenannten cultural turn, indem er nachzuweisen versucht, dass dessen grundlegende Thesen in einer marxistischen Klassenanalyse bereits vollends aufgehen könnten – wenn man diese nur richtig konzi­piere.

Falsch sei am klassischen Marxismus vor allem ein Ökonomismus ­gewesen, der für Fragen von Kultur, Ideologie oder normativen Ordnungen blind sei. Um dem Marxismus diese reduktionistische Tendenz auszutreiben, alles Kulturelle als bloßen Überbau einer ökonomischen Basis zu betrachten, habe sich die Sozialtheorie aber ins andere Extrem verstiegen und die Rolle des Kulturellen überbetont: Im kulturellen Überbau wurden die Mechanismen ausgemacht, die den Kapitalismus stabilisieren und das Scheitern der Revo­lution bedingen, mit der Pointe, dass eben gar nichts determiniert sei. So wurde die These der radikalen Kontingenz aller Bedeutungskonstruk­tionen zum neuen Dogma. Während, so Chibber, der Neoliberalismus den gesamten Globus der kapitalistischen Herrschaft unterwarf, habe die Sozialtheorie nur dekonstruiert.

Chibber argumentiert daher zu Recht, dass eine Theorie dieser Herrschaft auf das marxistische Kerntheorem der Determination zurückkommen müsse. Dafür hat er drei Argumente. Erstens widerspreche der Einwand des cultural turn, alles ­Gesellschaftliche sei im Bewusstsein der Akteure kulturell vermittelt, gar nicht der Existenz einer Klassenstruktur. Im Gegenteil, diese liefere einfach den Rahmen für Autonomie und Vielfalt von Bedeutungen. Die Leute könnten denken, was sie wollen, solange sie arbeiten gehen.

Das zweite Argument betrifft das Klassenbewusstsein: Warum machten sich die Arbeiter ihre Nachteile in der Klassenstruktur nicht einfach klar und handelten entsprechend dagegen? Aus der Tatsache, dass das nicht in größerem Umfang passiert ist, schließt Chibber, dass die Klassenstruktur selbst so angelegt sei, dass sie proletarische Bewusstseinsbildung und kollektive Organisation der Interessen verhindere. Die Abwesenheit einer selbstbewussten Arbeiterklasse zeigt, dass die Struktur funktioniert.

Als drittes Argument nimmt Chibber daher die Vorstellung auseinander, der Kapitalismus stabilisiere sich durch Hegemonie, also eine Art Konsens der Beherrschten. Anstatt auf Zustimmung, so Chibber, ba­siere die Stabilität des Systems aber auf Resignation: »Workers accept their location in the class structure because they see no other viable option.« (»Arbeiter akzeptieren ihren Platz in der Klassenstruktur, weil sie keine andere gangbare Möglichkeit sehen.«) Diese drei Argumente dienen als Grundlage einer »consistently materialist account of the phenomena the postwar Left sought to answer with culture« (»konsequent materialistischen Darstellung der Phänomene, die die Nachkriegslinke mit Kultur zu beantworten suchte«).

Spätestens aber, wenn Chibber seine Theorie auf die gegenwärtige Situa­tion anwendet, wird klar, wie wenig sein Denken jener Ideologie entgegenzusetzen hat, die er gern als Hirngespinst des cultural turn abtun würde. Materialismus – eigentlich die Selbstaufklärung des Denkens über seine eigenen gesellschaftlichen Grundlagen – schrumpft bei Chibber zur Behauptung, dass man von objektiven Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter ausgehen müsse. Diese seien weder ideologisch verblendet noch sozialpsychologisch beschädigt, sie wüssten ganz genau, was sie wollen. Aber die Struktur hindere sie dar­an, kollektiv bewusst zu handeln, weil sie nur die individuelle Existenzsicherung honoriere. Hinter Chibbers radikalem Klassengestus steckt hier einfach die liberale rational choice-Theorie vom Individuum als Nutzenmaximierer – und daher kann er auch nur dessen Legenden verbreiten. Wie etwa die, dass der ­regressive Populismus der vergangenen Jahre eben Ausdruck eines rationalen Wahlverhaltens der abgehängten Arbeiter sei, denen die Linke keine andere Chance gelassen habe: »The new populist wave of the past decade is the new face of working-class rebellion.« (»Die neue populistische Welle des vergangenen Jahrzehnts ist das neue Gesicht der Rebellion der Arbeiterklasse.«)

Diese Affirmation eines Populismus, den man mit dem Gerede von Klasse auf links drehen müsse, ist der politische Kern eines sozialistischen Projekts, das mit den Faschisten um Wählerstimmen buhlt. Diese Theorie interessiert sich nicht für die gesellschaftlichen Grundlagen von Ohnmacht und Scheitern der Linken oder dafür, was die Regression so attraktiv macht und wie all das als Reproduktion kapitalistischer Herrschaft zusammenhängt. Chibbers Theorie der Klassengesellschaft läuft auf die simple Annahme hinaus, man müsse alles gemäß dem Paradigma der Klassenstruktur verstehen. Anders als selbst noch bei seinem ungenannten Vorbild Lenin liegt bei Chibber die Stärke des Marxismus aber nicht einmal mehr darin, »dass er wahr ist«, sondern darin, dass er die größten Vorteile der Massenmobilisierung verspricht.

Dieses instrumentelle Theorieverständnis ermöglicht eine seltsame Mischung aus liberaler Ideologie und genau jenem klassisch marxistischen Determinismus, den Chibber doch gerade überwinden wollte. Denn wenn alle gesellschaftlichen Probleme in der Struktur angelegt sind, dann bedeutet das auch, dass sie mit der proletarischen Revolution hinfällig werden. Man muss sich dann eigentlich gar nicht mehr den den Kopf zerbrechen, die Probleme erledigen sich von selbst. Im Umkehrschluss wird daraus ein Argument gegen jede Form der linken Selbstkritik: Diese schwäche die Bewegung, indem sie Probleme aufwirft, die es gar nicht gäbe, wenn man nur endlich mal geschlossen handeln würde.

Daher raunt Chibber andauernd von »den Kulturalisten«, ohne dass wirklich klar würde, wer damit gemeint sein soll. Der gemeinsame Nenner der Nachkriegs- und Neuen Linken – von der Kritischen Theorie über die Hegemonietheorie Gramscis bis zu den Cultural Studies – ist diesem Verständnis nach einfach die Abweichung von der marxistischen Orthodoxie. Das erinnert an jenen Kampfbegriff »westlicher Marxismus«, mit dem Perry Anderson in den siebziger Jahren die Abweichler bezeichnete, die sich der verbürgerlichten Kritik anstelle der proletarischen Revolution verschrieben hätten. Oder einfach an Sahra Wagenknechts Kritik an überheblichen Lifestyle-Linken.

Chibber hat recht damit, dass die Gesellschaftstheorie in einem de­solaten Zustand ist und dass es die Erkenntnis braucht, dass die Klassengesellschaft sich durch die Integration der Klassengegensätze stabilisiert hat. Denn sie könnte klären, wie viel Ideologie in der Gesellschaftstheorie selbst steckt, wie viel Anteil sie also ungewollt am Bestehenden hat. Was Chibber aber vorlegt, hat damit nichts zu tun. Seine Theorie der Klassenstruktur ist, im Guten wie im Schlechten, Agitation. Er zieht der Erkenntnis die Eindeutigkeit einer instrumentellen Theorie vor, die zur selbsterfüllenden Prophezeiung ­sozialistischer Praxis werden soll. Früher nannte man das abschätzig Theoriepolitik. Bei Chibber kann man es Theoriepopulismus nennen.

Vivek Chibber: The Class Matrix. Social Theory after the Cultural Turn. Harvard University Press, Cambridge 2022, 224 Seiten, ca. 31,50 Euro