Verschärfter autoritärer Kurs in Tunesien

Wie ein Bulldozer

Der tunesische Präsident Kaïs Saïed hat die mageren demokratischen Errungenschaften der politischen Revolution von 2011 zerstört. Die Opposition ist gespalten, soziale Konflikte dürften bevorstehen.
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Am 1. Mai wurde das Ritual erneut aufgeführt. Wie an allen wichtigen Feiertagen seit dem 25. Juli 2021, dem Tag seines institutionellen Putschs, hielt der autoritäre tunesische Präsident Kaïs Saïed eine Rede, um seinen politischen Fahrplan zu rechtfertigen und auf seinen politischen Gegnern und Kritikern herumzuhacken. Diesmal bezeichnete er sie als jene, die »Sabotage am Volk verüben, es aushungern und misshandeln«, die »Feinde der Demokratie im Dienste ausländischer Kräfte« seien und »versuchen, im Ramadan den Staat zu erreichen, anstatt ihren Abend in der Moschee zu verbringen«. Ein Expertengremium solle demnächst einen Verfassungsentwurf vorstellen, der auf der elektronischen Volksbefragung beruhe, die im März abgeschlossen wurde, an der sich jedoch lediglich etwas mehr als 500 000 Menschen beteiligten, etwa 6,5 Prozent der Wahlberechtigten; im Juli soll nach seinem Willen in einem Referendum über den Verfassungsentwurf entschieden werden. Ein »nationaler Dialog« ohne all jene, die »das Land zerstört haben«, solle parallel dazu abgehalten werden.

Die Zeit seit dem 25. Juli vorigen Jahres, als Saïed das Parlament suspendierte und die Regierung entmachtete, hat der Präsident hauptsächlich genutzt, um wie ein Bulldozer die mageren demokratischen Errungenschaften plattzuwalzen, die aus der politischen Revolution gegen den autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali im Jahr 2011 herrührten. Im September verschaffte Saïed sich mit dem Präsidialdekret 117 die Vollmacht, ohne jegliche Kontrolle per Dekret zu regieren, und setzte de facto die Verfassung außer Kraft. Am 6. Februar löste er den Obersten Justizrat (CSM) auf, der über die Unabhängigkeit der Justiz wachen sollte, und ersetzte ihn durch eine provisorische Institution nach seinem Geschmack. Am 30. März löste er das ohnehin suspendierte Parlament auf. Im April verschaffte er sich per Dekret die faktische Kontrolle über die tunesische Wahlbehörde ISIE, die einen ordnungsgemäßen Ablauf der Wahlen garantieren sollte.

Doch weder die verstrahlte, religiöse grundierte Rhetorik seiner Rede noch der schrittweise Abbau der Institutionen lösten einen Aufschrei aus. Das große Schweigen dominiert. Le Monde zufolge sieht die tunesische Politikwissenschaftlerin Yasmine Wardi Akrimi in diesem Schweigen »die Angst vor einer Rückkehr ins Chaos und vor ­allem vor dem Fehlen einer Alternative. Viele sagen sich: Kaïs Saïed stoppen, okay, aber wen danach einsetzen?«

Zwei politisch unvereinbare Oppositionsbewegungen versuchen, Kaïs Saïed entgegenzutreten. Einerseits das »Kollektiv gegen den Putsch«, das insbesondere die Unterstützung der islamistischen Partei al-Nahda genießt; weil diese nach zehn Jahren Beteiligung an den unterschiedlichsten Regierungen in der Bevölkerung weithin abgelehnt wird, bringt das Kollektiv gegen den Putsch keine großen Demonstrationen zustande. Auf der anderen Seite steht mit Abir Moussi eine eingeschworene Feindin der Islamisten; sie ist Vorsitzende des Parti Destourien libre (PDL), eines Fanclubs des verstorbenen autoritären Präsidenten Ben Ali, und ebenso wenig mit demokratischen Ansichten gesegnet wie al-Nahda. Al-Nahda und PDL lägen Umfragen zufolge an der Spitze, sollten derzeit Parlamentswahlen abgehalten werden.

Präsident Saïed hingegen kann lediglich auf die Unterstützung panarabisch-nationalistischer Kleinparteien ba’athistischer oder nasseristischer Provenienz zählen, die nach einem authentischen Rais, sprich Führer lechzen. Aber einige Tausend Jugendliche haben sich landesweit in unabhängigen Organisationen (genannt tansiqiyat) für Saïed zusammengeschlossen. Im Unterschied zu der aufständischen Zeit von 2010/2011 ist »das Volk«, auf das sich Saïed permanent beruft, seinen Parteigängern zufolge heutzutage hauptsächlich dazu auserkoren, die Nation gegen Druck aus dem Ausland zu verteidigen.

Nicht nur auf politischer, auch auf sozialer Ebene verschärft sich das Desaster. Nach offiziellen Angaben liegt die Inflation mittlerweile bei 7,2 Prozent, die Arbeitslosigkeit bei 18 Prozent. Zwei Jahre lang hat die Pandemie dafür gesorgt, dass die Einkünfte aus dem Tourismussektor vehement sanken. Der Ukraine-Krieg sorgt für Engpässe beim Import von Getreide. Und die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds, der den tunesischen Staat mit einem Milliardenkredit vor einer befürchteten Staatspleite bewahren soll, kommen kaum voran. Experten rechnen damit, dass der IWF frühestens im Juli Mittel freigeben wird. Niemand kann ausschließen, das sich die Wut der verarmenden Bevölkerung nicht demnächst heftig entlädt.