Social Media befördert Empathie­losigkeit

Rechthaben um jeden Preis

Social Media fördern den Wunsch nach absolutem Rechthaben. Fakten werden hingegen immer unwichtiger.

Es gibt viele Gründe, warum Fake News, Verschwörungsmythen und damit auch Hass und Gewalt von Anfang an untrennbar zum Internet dazugehörten. Einfache Erklärungen für komplexe Zusammenhänge wurden schon immer dankbarer aufgenommen als solche, für die viel Zeit benötigt wird. Und Rechthaben ist schöner als dumm dazustehen oder womöglich gar in aller Öffentlichkeit nachfragen zu müssen, weil man keine Ahnung von einem Thema hat.

Abgesehen davon, dass in der allgemeinen Begeisterung über die fantastischen Möglichkeiten des neuen Dingens namens Internet (Wissen! Sex! Bildung! Sex! Freunde aus der ganzen Welt finden! Sex!) weitgehend unbeachtet blieb, wie schnell und effizient sich die internationale Rechte vernetzte, war es vor allem die Ignoranz staatlicher Stellen sowie weiter Teile der Medien, die dazu führte, dass eben dieses Internet an manchen Stellen zu einer Art achtem Höllenkreis wurde. Ja, anfangs wurde jeder esoterische oder politische Blödsinn begeistert vorgestellt, ohne auch nur ansatzweise darauf zu achten, was sich eigentlich dahinter verbergen könnte. Hauptsache, was mit Internet.

Klicks und Likes sind schon lange nicht mehr nur nettes Beiwerk des Hobbys Social Media, sondern bestimmen den Wert von Menschen.

Vielen Institutionen wurde erst Jahrzehnte später klar, dass die neuen Zeiten außerdem nach Transparenz verlangten. Durch ihre inflexi­ble, altbackene Informationspolitik von oben herab hatten sie dafür gesorgt, dass Erfinder von Verschwörungsgeschichten immensen Zulauf erhielten.

Dass praktisch unmittelbar nach Terror-Anschlägen und Massenmorden Fakenews und Verschwörungs­lügen über die Taten kursieren konnten, lag oft auch daran, dass die Exekutive nicht auf die Idee kam, den Leuten einfach mal zu erklären, warum sie was tat.

Als am 13. Oktober 2021 ein Mann im norwegischen Kongsberg fünf Menschen mit Pfeil und Bogen tötete, bleib denjenigen, die üblicherweise Lügen verbreiten, allerdings nicht viel Zeit.

In den meisten solcher Fälle werden die polizeilichen Absperrungen von Tatorten spektakulärer Mordanschläge sowie die damit verbundenen Aufforderungen an die Bevölkerung, diese zu meiden, umgehend dazu genutzt, um auf Social Media Gerüchte zu streuen. Deren Ziel: Angst zu verbreiten und Misstrauen gegenüber Polizei, Politikern und anderen staatlichen Stellen zu wecken. Sind vielleicht viel mehr Täter unterwegs als bekanntgegeben wird? Warum dürfen die Bürger und Bürgerinnen sich nicht vor Ort ein eigenes Bild von der Lage machen? Und warum werden nicht umgehend die Namen des Täters und der Opfer bekannt gegeben? Was soll dadurch vertuscht werden? Unterstützt von einschlägigen Fake-Accounts wurden aus solchen Fragen immer schnell Gewissheiten, dass »die da oben« die Bürger belügen und nicht schützen wollen oder können.

Die Kongsberger Polizei erklärte auf Twitter und etwas später bei einer Pressekonferenz dagegen genau, warum sie was tat. Dass sie Namen von Tätern beispielsweise erst dann veröffentlicht, wenn Durchsuchungsbeschlüsse ausgefertigt und Wohnung sowie gegebenenfalls Arbeitsplatz nach Beweisen durchsucht wurden – ohne dass eventuelle Mitwisser eine Chance haben, etwas verschwinden zu lassen. Wer die Opfer sind, erfährt die Öffentlichkeit dagegen erst, wenn deren Angehörige informiert wurden.

Ähnlich logisch wurden auch ­Absperrungen erklärt: Sie sollen ­verhindern, dass Schaulustige die ­Ermittlungen behindern oder womöglich sogar Beweise zertrampeln. Oder Fotos machen – dass Gaffer nur wenig Sinn für Pietät und Mitgefühl haben, hatte sich in Deutschland bereits im Januar 2016 gezeigt, als in Nordrhein-Westfalen Eltern vom Unfalltod ihrer Söhne durch ein auf Facebook gepostetes Foto des Autowracks erfuhren.

Social Media begünstigen Empathielosigkeit und fördern den Wunsch nach absolutem Rechthaben. Fakten werden hingegen immer unwichtiger. Vielleicht hat das alles nur damit zu tun, dass Klicks und Likes schon lange nicht mehr nur nettes Beiwerk des Hobbys Social Media sind, sondern den Wert von Menschen bestimmen. Im wörtlichen Sinn, denn nicht selten führen besonders pointierte oder auch nur platt sich selbst promotende Tweets zu geldwerten Vorteilen wie Auftritten, Buchverträgen oder Interviews. Entsprechend wird alles darangesetzt, der eigenen Bubble das zu bieten, was sie gern hören oder lesen will. Kreiswichsen hieß das früher – eine schönere Bezeichnung für sich gegenseitig ständig absolutes Rechthaben bestätigende Blasen ist bedauerlicherweise wohl noch nicht gefunden worden.

Dazu gehört auch ein mittlerweile auf allen politischen Seiten gepflegter Brauch, über den man eigentlich nicht spricht: nämlich die Manipulation der öffentlichen Meinung. Sie beginnt auf Twitter mit Nachrichten, die sinngemäß so lauten: »Morgen früh um Punkt zehn starten wir mit Postings zum Hashtag #irgendeinHashtag. Es ist wichtig, dass möglichst Viele teilnehmen, damit wir die größtmögliche Reichweite erzielen, denn um 12 Uhr wird großes Medium XXX einen Text darüber veröffentlichen.« Dass #irgendeinHashtag vielleicht gar nicht so viele Menschen bewegt, wie es den Anschein hat, sondern nur aufgrund gezielter Koordination plus des folgenden üblichen Abschreibens diverser Medien voneinander in den Twitter-Trends landete, interessiert niemanden. Internet ist schließlich Rechthaben. Und Selbstvermarktung.