Bei den Protesten in der ­tadschikischen Provinz Berg-Badachschan sieht die Regierung Terroristen am Werk

Aufstand in Pamir

In der autonomen Provinz Berg-Badachschan in Tadschikistan wurden Mitte Mai Proteste blutig niedergeschlagen. Der Konflikt mit der tadschikischen Regierung ist unter anderem konfessionell aufgeladen.

Für die tadschikische Regierung ist die Sache klar: »Mitglieder einer organisierten kriminellen Gruppe« und von »ausländischen terroristischen Orga­nisationen« unterstützte Terroristen seien für die Proteste Mitte Mai verantwortlich. Am 31. Mai wurde offiziell der Tod fünf weiterer »Terroristen« gemeldet, bereits Mitte Mai hatte es Todesopfer ­gegeben.

Die am 14. Mai ausgebrochenen Proteste in der tadschikischen autonomen Provinz Berg-Badachschan, an denen über tausend Menschen teilnahmen, waren bereits einige Tage später gewaltsam beendet worden. Das Innenministerium meldete am 18. Mai den Erfolg seiner »Antiterroroperation«: Die Lage sei unter Kontrolle, neun Menschen seien getötet, elf weitere verletzt, 70 »aktive Mitglieder einer terroristischen Gruppierung« festgenommen worden. Am nächsten Tag stieg die Zahl der Festgenommenen dem Ministerium zufolge auf 114; zudem seien unter anderem 24 Kalaschnikows, elf Handgranaten, drei Kilogramm Sprengstoff und 53 Telefone beschlagnahmt worden.

Pamiri sind meist ismaelitische Schiiten, während in den restlichen Teilen von Tadschikistan hanafitische Sunniten dominieren.

Als angebliche Anstifter der Proteste wurden die Journalistin und Menschenrechtlerin Ulfatchonim Mamadscho­jewa und ihr Ex-Ehemann, der Grenztruppengeneral Cholbasch Cholbaschow, festgenommen. Unter den Toten soll sich der am 22. Mai erschossene »informelle Anführer« der Opposition jener Region befinden, Mamadbokir Mamadbokirow, ein ehemaliger Oberst der tadschikischen Grenztruppen, der angeblich ­wegen Aufdeckung von Drogenschmuggel aus dem Dienst scheiden musste und seither als einer der Führer der Bewegung der Pamiri, der Bevölkerung des Pamir-Gebirges, fungierte. Russische Trotzkisten und iranische Revo­lutionswächter kondolierten bereits zu seinem Tod. Erstere würdigten ihn als »einen Anführer der Bewegung für Selbstbestimmung Badachschans«, Letztere als schiitischen Märtyrer im Kampf gegen tadschikischen Zwangssäkularismus.

Wie der oppositionelle Telegram-Kanal »Pamirdailynews« am 19. Mai ­meldete, berichteten Einwohner B­­erg-Badachschans von mindestens 17 Toten. Andere Quellen gehen von insgesamt bis zu 47 Todesopfern aus. Überprüfen lassen sich die Angaben kaum, denn in der im Pamir-Gebirge gelegenen Region wurden Internet und Mobilfunk am 17. Mai abgeschaltet, die Regierungstruppen blockierten die Straßen ins Unruhegebiet.

Unmittelbarer Anlass für die Unruhen war die Verurteilung zweier aus Russland deportierter Vertreter der Badachschan-Diaspora: Amriddin Alowatschojew wurde unter anderem wegen der Gründung einer extremistischen Organisation zu 18 Jahren Haft verurteilt, Tschorschanbe Tschorschanbijew zu achteinhalb Jahren. Letzterer, ein populärer Kampfsportler, hatte sich bereits bei den Unruhen im November vergangenen Jahres auf Seiten der Protestierenden gestellt. Anlass der Pro­teste war damals der Tod Gulbiddin Sijo­bekows bei seiner Festnahme. Er hatte 2020 den stellvertretenden Staatsanwalt des Bezirks Roschtkala angegriffen, weil dieser Sijobekows Schwester bedrängt haben soll. Sijobekow und seine Freunde sollen den Beamten entführt und durch Schläge dazu gebracht haben, sich vor laufender Kamera zu entschuldigen.

So wurde Sijobekow zum pamirischen Regionalhelden, sein Begräbnis in der nahe der afghanischen Grenze gelegenen Provinzhauptstadt Chorugh wurde zur oppositionellen Demonstration. Bei Zusammenstößen mit der Polizei kamen damals drei Menschen ums Leben, mehrere wurden verletzt. Die Protestierenden verlangten den Rücktritt des Provinzgouverneurs Alischer ­Mirzonabot sowie die Besetzung von 70 Prozent der Polizeistellen mit Pamiri. Nach vier Tagen versprach der seit 1994 regierende Präsident Tadschikistans, Emomalij Rahmon, die Forderungen der Protestierenden zu erfüllen, ist dem jedoch bis heute nicht nachgekommen. Bei den am 14. Mai dieses Jahres ausgebrochenen Unruhen forderten die Protestierenden, die Regierung solle ihre Versprechen halten.

Tadschikistan ist der ärmste und kleinste postsowjetische Staat in Zen­tralasien. Der Autokrat Rahmon, der sich »Peşvoi millat« (Anführer der Nation) nennen lässt, gilt als zuverlässiger Partner Russlands in der Region. Offiziell wird Tadschikistan als Republik bezeichnet, es gibt mehrere Parteien, aber rou­tinemäßig bekommt die Volksdemokratische Partei Tadschikistans, die der Präsident anführt, satte Mehrheiten im Parlament – um Opposition und Pressefreiheit ist es sehr schlecht bestellt. Viele der rund 225 000 Einwohner der Provinz Berg-Badachschan, die etwa 45 Prozent des tadschikischen Territoriums ausmacht, betrachten sich als Pamiris und sind mit der offiziellen Einordnung in sowjetischer Tradition als »Pamirtadschiken« nicht einverstanden. Über ein Dutzend verschiedene Dia­lekte Badachschans gehören zur südostiranischen Sprachgruppe, die dem Paschtunischen verwandt ist, während Tadschikisch eine moderne Varietät des Persischen ist. Bedeutender als der sprachliche ist der konfessionelle Unterschied: Pamiri sind meist ismaelitische Schiiten, während in den restlichen Teilen von Tadschikistan hanafitische Sunniten dominieren.

Tadschikistan, einst die einzige persischsprachige Unionsrepublik der UdSSR, wurde lange Zeit durch ein Agreement der regionalen Clans beherrscht, die sich die Macht im Parteiapparat aufteilten. Mit dem Ende des Machtmonopols der KPdSU brach das Modell zusammen. Von 1992 bis 1997 folgte ein Bürgerkrieg, Schätzungen zufolge starben bis zu 150 000 Menschen, 260 000 Menschen wurden zu Flüchtlingen. Fast alle Angehörigen von Minderheiten, vor allem der russischen, deutschen und bucharisch-jüdischen, verließen Tadschikistan.

Auf der einen Seite kämpften die von Russland und Usbekistan unterstützten, eher sowjetnostalgischen Vertreter der Regionen Chudschand, Kulob und Gissar sowie die usbekische Minderheit im Land. Ihnen gegenüber stand eine Allianz aus antikommunistischen und säkularen »Nationaldemokraten«, die den Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit, Marktwirtschaft und »nationale Wiedergeburt« forderten, sowie Islamisten aus Gharm, Kurgan-Tjube (Bochtar) und Pamir. Nach dem Krieg wurden Vertreter der Opposition in Staatsorgane und Regierung integriert, doch schon bald zementierte der zunächst als Kompromisskandidat angesehene Rahmon, ein Vertreter Kulobs, seine persönliche Macht.

Heute ist Tadschikistan einer der größten Exporteure billiger Arbeitskräfte für die russische Wirtschaft. An der Niederschlagung von Protesten in Kasachstan hatten sich im Januar tadschikische Truppen im Rahmen des von Russland angeführten Militärbündnisses Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) beteiligt (Jungle World 2/2022). Russland stellt auch die offizielle Version der Ereignisse von Mitte Mai in Tadschikistan nicht in ­Frage.