Die andalusische Gemeinde Marinaleda probt seit 43 Jahren den Sozialismus

Kollektivismus in der Bratpfanne

Seit 1979 wird in der zentralandalusischen Gemeinde Marinaleda der Sozialismus geprobt. Das durchaus erfolgreiche Sozialexperiment könnte in Schwierigkeiten kommen, wenn nächstes Jahr die Rechte die Kommunalwahl gewinnt.
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Die Klimaanlage im Kleinwagen läuft während der Anreise auf Hochtouren. Es geht durch endlose Olivenhaine im Becken des Flusses Genil in die sogenannte sartén (Bratpfanne) Andalusiens, unweit von Écija und Estepa, etwa auf halber Strecke zwischen Málaga und der andalusischen Hauptstadt Sevilla. Hier ist es besonders heiß, doch die ganz iberische Halbinsel leidet derzeit unter der heftigsten Hitzewelle, die seit 1975 in der ersten Junihälfte gemessen wurde – die Hitze kam erstaunlich früh in diesem Jahr. Und das just vor den Wahlen zum andalusischen Parlament, die am 19. Juni stattfanden.

Endlich ist das Ziel vor Augen: Marinaleda. Der knapp 2 700 Einwohner zählende, von Landwirtschaft geprägte Ort ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Hier schlagen einem derzeit am frühen Nachmittag beim Öffnen der Wagentür 42 Grad Celsius entgegen. Doch nicht wegen der hohen Temperaturen haben Berichte und Interviews unter anderem in der New York Times, der BBC und von al-Jazeera Marinaleda bereits seit längerem international eine gewisse Berühmtheit verschafft.

 »Wir haben es geschafft, in Marinaleda eine echte linke Politik zu betreiben, mit der wir dem kapitalistischen System die Stirn bieten.« Sergio Gómez Reyes, stellvertretender Bürgermeister

Denn seit Mai 1979, als in dem Ort erstmals seit 1936 und nach dem Ende der faschistischen Diktatur Francisco Francos (1939–1975) freie Kommunalwahlen stattfanden, ist der 1949 in Andalusien geborene Juan Manuel Sánchez Gordillo Bürgermeister des Ortes. Das bedeutet viel mehr als nur eine Rekordamtszeit, denn unter dem Mitgründer der Gewerkschaft Sindicato Andaluz de Trabajadores y Trabajadoras (SAT), die Arbeiterrechte und andalusischen Separatismus vertritt, läuft seit mittlerweile 43 Jahren vieles anders. Ende der siebziger Jahre besetzte Sánchez Gordillo als führendes Mitglied der Gewerkschaft Sindicato de Obreros del Campo (Landarbeitergewerkschaft), die 2007 in der SAT aufgegangen ist, mit anderen Landarbeiterinnen und -arbeitern die erste vieler Fincas und Ländereien von Großgrundbesitzern in der Umgebung – mit Erfolg. Zudem errangen sie mit einem Hungerstreik 1980, an dem über 700 Menschen teilnahmen, mehr staatliche Mittel für die Gemeinde und höhere Löhne.

Weitere Landgüter, insgesamt über 100, wurden bis zur Jahrtausendwende sukzessive, teils bis zu 90 Tage lang besetzt. Nach zahlreichen Gerichtsverfahren wurde die seit Jahrzehnten landwirtschaftlich ungenutzte Finca »El Humoso« mit 1 200 Hektar Grund 1991 in Gemeindebesitz überführt. Das war einer der größten Erfolge Sánchez Gordillos und seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter, deren Losung lautet: »Die Erde denjenigen, die sie bearbeiten!« Seither wird diese Fläche von der Cooperativa Humar – Marinaleda S.C.A. kollektiv genutzt, der auch eine Olivenölmühle und eine Konservenmanufaktur gehören, in der rote Paprika, Artischocken, Oliven, Saubohnen und andere Produkte in die Dose kommen.

Die Kooperative ist der mit Abstand größte Arbeitgeber in der Gemeinde, mit über 400 Beschäftigten allein auf der Finca »El Humoso«, die einst der Adelsfamilie des Ducado del Infantado (Herzogtum der Infanten; so bezeichnet man in Spanien Prinzen oder Prinzessinnen, Anm. d. Red.) gehörte, ein spanischer Adelstitel, der 1475 von Königin Isabella I. verliehen wurde. Mittlerweile gibt es in der Kooperative auch eine Schafzucht und Gewächshäuser, in denen Tomaten und Blattsalate kultiviert werden. Wenn es zu wenig Arbeit gibt, arbeiten die Beschäftigten einfach weniger Stunden, bei gleichem Lohn. Die Arbeitszeitverkürzung soll Arbeitslosigkeit vermeiden, eine Praxis, die auch Anarchisten in Barcelona nach der Kollektivierung der Industrie zu Bürgerkriegsbeginn 1936 übten.

So schuf und erhält man sichere Arbeitsplätze, und das war nicht zuletzt der Grund, warum Marinaleda während der Wirtschaftskrise von 2008 bis 2010 nahezu Vollbeschäftigung aufwies, während sonst in Spanien die Arbeitslosenrate vielerorts 30Prozent und mehr betrug. Von der jüngsten Krise aufgrund der Covid-19-Pandemie zeugen in Marinaleda indes einige Dutzend geschlossene Geschäfte und Restaurants sowie neue Schilder, auf denen Immobilien zum Verkauf oder zur Übernahme angeboten werden.

43 Jahre Sozialismus
Sánchez Gordillo, der stets eine Kufiya aus Zeichen der »Solidarität mit dem palästinensischen Volk« trägt, gewann die Wahl 1979 mit absoluter Mehrheit. Danach machte er aus der Plaza de España (Spanienplatz) in Marinaleda kurzerhand die Plaza del Pueblo (Platz des Volkes); die Francisco-Franco-Straße wurde dem chilenischen Präsidenten Salvador Allende umgewidmet. Weitere Straßen sind nach internationalen Revolutionären wie Ernesto Che Guevara benannt, dessen berühmtes Porträt auch das neue, 2,6 Millionen Euro teure Kulturzentrum ziert, oder nach Nicolasa Jurado, die verkleidet als Mann unter dem Namen Manuel in den Unabhängigkeitskämpfen Anfang des 19. Jahrhunderts in Ecuador und Peru gegen die Spanier kämpfte.

Auch den spanischen Intellektuellen, Poeten und Literaten Rafael Alberti und Antonio Machado, die mit dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs 1939 und dem Sieg der Putschisten unter Franco ins Exil fliehen mussten, sind Straßen gewidmet, ebenso Blas Infante, der Vaterfigur des linken andalusischen Natio­nalismus und der Autonomie der Region, der von den Franquisten 1936 in Sevilla ermordet wurde. Andere Straßen tragen die Namen esperanza (Hoffnung) oder, wie die Hauptdurchgangsstraße des Ortes, libertad (Freiheit).

Nicht zuletzt waren die Namen »Esperanza« und vor allem »Libertad« bei linken Eltern beliebt, die im Bürgerkrieg (1936–1939) Nachwuchs bekamen. Zahllose Wände im Ort schmücken Wandmalereien und Graffiti mit kommunistischen und libertären Botschaften, internationalen Solidaritätsbekundungen mit dem Ort oder Bewegungen in Lateinamerika, auch die Separatisten Kataloniens werden geehrt. Sánchez Gordillos hielt auch eine flammende Solidaritätsrede in Barcelona zum katalanischen Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober 2017. An einer Wand zeugen schwarze Farbbeutelflecken auf einem aufgemalten Emblem aus Hammer und Sichel vor rotem Hintergrund aber auch davon, dass nicht alle in Marinaleda mit dieser politischen Ausrichtung einverstanden sind.

Alle paar Wochen findet ein »roter Sonntag« statt, um den Ort aufzuräumen oder notwendige Instandhaltungsarbeiten zu erledigen. Auch an diesem 12. Juni wurde der Vormittag vor Einsetzen der sengenden Mittagshitze dazu genutzt, um im Ort sauberzumachen. Gemeinschaftlich, versteht sich. Vom Wahlkampf für die andalusische Parlamentswahl, die kurz bevorstand, war man in Marinaleda eher unbeeindruckt. Hier dominiert Sánchez Gordillos Arbeitereinheitskollektiv (Colecti­vo de Unidad de los Trabajadores, CUT), einst Gründungsmitglied der postkommunistischen Izquierda Unida (Vereinigte Linken, IU) und mittlerweile in das Parteienbündnis Adelante (Vorwärts), den andalusischen Ableger von Unidas Podemos (UP), integriert. Für Sánchez Gordillo stellt diese Bündnis noch »das geringste Übel« dar, wie er im Kommunalwahlkampf 2019 sagte. Marinaleda gehört dem »Netzwerk der Dörfer für die Republik« an, einem Zusammenschluss links regierter Gemeinden in Andalusien und anderen spanischen Regionen, die für die Ausrufung der »Dritten Republik« eintreten. Die Trikolore der Zweiten Repu­blik (1931–1939) weht in Marinaleda, um gegen die Monarchie der Bourbonen unter Felipe VI. Stellung zu beziehen.

Die Zusammenarbeit mit dem sozialdemokratischen Partido Socialista Obrero Español (PSOE), der mit UP Spaniens linke Koalitionsregierung bildet, gestaltet sich in Marinaleda teils schwierig. Bei den Kommunalwahlen 2019 versuchten PSOE-Aussteiger gemeinsam mit den Konservativen vom Partido Popular (PP), Sympathisanten der rechtsextremen Partei Vox und Unabhängigen, im Bündnis Avanza (Komme voran) die Dominanz ­Sánchez Gordillos zu brechen. Adelante und der Langzeitbürgermeister erreichten jedoch die Mehrheit, wenngleich nur knapp, mit 48,5 Prozent der Stimmen gegenüber 46,1 für das konservative Gegenbündnis Avanza. Der Vorsprung betrug 44 Stimmen, es war das schlechteste Ergebnis für Sánchez Gordillo seit 1979.

Generationswechsel unter Genossen
Ein Schlaganfall 2019, just vor den Kommunalwahlen, zwang Sánchez Gordillo dazu, sukzessive den Generationswechsel in Marinaleda einzuleiten. Öffentliche Auftritte von ihm sind rar geworden, Interviews gibt er seither keine mehr. Körperlich ist er schwer angeschlagen, hat Schwierigkeiten bei Mobilität und Sprechvermögen. Mental und psychisch sei er aber in guter Verfassung, heißt es. Doch auch wenn er in alle Entscheidungen eingebunden ist, über die in Volksversammlungen entschieden wird, führt seither Sergio Gómez Reyes, der als Lehrer in Manilva arbeitet, die Amtsgeschäfte. Sánchez Gordillos Ära endet mit den kommenden Kommunalwahlen 2023. »Wir haben es geschafft, in Marinaleda eine echte linke Politik zu betreiben, mit der wir dem kapitalistischen System die Stirn bieten«, sagt Gómez Reyes kurz angebunden beim Treffen vor dem Rathaus.

Die Kooperative ist der mit Abstand größte Arbeitgeber in der Gemeinde, mit über 400 Beschäftigten allein auf der Finca »El Humoso«, die einst einer Adelsfamilie gehörte.

Medien gegenüber ist man skeptisch, was jedoch weniger ausländische als die spanischen betrifft. »Viele Kräfte, darunter auch Zeitungen, Radios und Fernsehen, diskreditieren unseren Weg«, so Gómez Reyes. Insbesondere Sánchez Gordillo sei oft Ziel persönlicher Diskreditierung geworden, beklagt er. Etwas Eigenlob darf aber auch einmal sein. So unterstreicht der stellvertretende Bürgermeister, dass man es geschafft habe, über 350 Gemeindewohnungen zu errichten, für die 15 Euro Monatsmiete zu bezahlen wären. Und die Arbeitslosenrate in Marinaleda sei mit sieben bis acht Prozent die niedrigste aller Gemeinden mit unter 10 000 Einwohnern in der Provinz Sevilla.

Doch während bei linken Protesten in Andalusien oft der Slogan »Ganz Andalusien wie Marinaleda!« skandiert wird, bangt man in Marinaleda vor der »Konterrevolution« durch das Oppositionsbündnis Avanza, das, wie Gómez Reyes betont, »einen Putsch plant« und den angeschlagenen Gesundheitszustand von Sánchez Gordillo als Chance zur Wende erachte. Auch Oscar Reina, Sprecher der Gewerkschaft SAT, beklagte in einem Tweet, »dass gegen Marinaleda alle schmutzigen Tricks in einer Kampagne« angewendet würden. Den real existierenden Sozialismus könne man in Marinaleda nur erhalten, indem man weiterhin das Beste für die Bevölkerung anstrebe, betont Gómez Reyes. Auf die Sozialdemokraten ist er nicht gut zu sprechen, diese seien »stets auf einer Wellenlänge mit der Rechten«. Doch auch Gómez Reyes gibt zu: »Wir können nicht alles, was wir wollen, umsetzen. Dafür sorgen die Bürokratie und Gesetze, die eine Gemeinde nicht ändern kann.«

Antifa oder Avanza
Mitte Mai liefen in Marinaleda auf einem Gelände, das neben dem »Haus des Volkes«, der angesagten Tapas-Bar und dem Treffpunkt der Linken und Alternativen liegt, Vorbereitungen für ein für den 21. Mai geplantes »Antifa-Festival« auf Hochtouren. Rentner tauschten sich an der Bar aus, ein paar Familien mit spielenden Kindern ­genossen den Sonntagnachmittag bei hausgemachten lokalen Speisen wie der gegrillten, lokal produzierten Chorizo (Paprikawürstchen) und mit Stockfisch gefüllten, knallroten Piquillo-Paprikas, Tintenfischringen sowie eiskaltem Bier aus 0,75-Literflaschen. Aus einem alten Seat, der nebenan parkte, dröhnte Musik, unter anderem Songs der Rap-Metal-Band Narco mit einer ihrer antifaschistischen Hymnen – und das sehr zum Gefallen aller Anwesenden. Für die Konzerte am 21. Mai von auch international bekannten Bands wie Ska-P oder Boikot sowie der aus Marinaleda stammenden Band Molestando a los vecinos (Die Nachbarn ärgern) reisten dann auch viele junge Menschen von außerhalb an.

Viele Linke und Libertäre dürften sich in Marinaleda willkommen fühlen. Aber wie lebt es sich als politisch Konservativer hier oder wenn man nicht auf Linie mit Adelante und dessen Form von gelebtem Antikapitalismus ist? Immerhin vergibt die Gemeinde neben Wohnraum über Gemeindewohnungen vor allem auch Arbeit über die Kooperative und im sozialen Bereich wie der Altenpflege, Kinderbetreuung, in der Bibliothek, dem Kulturzentrum oder den – trotz der Trockenheit im Frühsommer – exzellent gepflegten Gärten. Einzig die Gemeindepolizei gibt es in Marinaleda nicht mehr, die hat der Bürgermeister als unnötigen Kostenfaktor längst abgeschafft.

Kritiker von Sánchez Gordillos Weg prangern immer wieder angeblich »totalitäre Tendenzen« in Marinaleda an. Bewohnern, die ihn nicht wählen, soll er laut der rechten Tageszeitung ABC aus Sevilla »mit dem Gang in die Finsternis« – so eine spanische Redensart, die mehr oder weniger »zur Hölle jagen« bedeutet – gedroht haben. In einem seiner letzten Fernsehauftritte vor dem Schlaganfall beim Fernsehsender Cuatro in der Sendung »Todo es mentira« (Alles ist Lüge) sagte Sánchez Gordillo, wer anders denke, sei ein Verräter, wer indes zu ihm stehe, der werde belohnt. Der Berufsrevolutionär hat nie ein Blatt vor den Mund genommen und in der Wortwahl selten auf Feingefühl geachtet. Insbesondere, wenn es um seine Gegner ging.

Bereits im Kommunalwahlkampf 2019 zeigte sich die damalige Spitzenkandidatin des konservativen Bündnisses Avanza Marinaleda-Matarredonda, Cristina Martín Saavedra, besorgt über »den Unmut der Dorfbewohner und darüber, dass Ma­rinaleda immer weiter ins Abseits« rücke. Es brauche einen Wandel, um als Ort voranzukommen, sagte sie damals, sie sehe ihre Fraktion als »Bürgerbewegung«, die Veränderung wünsche.

Avanza ist es jedenfalls geglückt, das Dorf in zwei Lager zu spalten. Ob die »Wende« kommt, wird sich bei der nächsten Kommunalwahl 2023 zeigen. Auf Landesebene in Andalusien hat die Wende nach rechts bereits stattgefunden. Schon bei den vorgezogenen Regionalwahlen im Dezember 2018 konnte der PP nach über 40 Jahren den PSOE an der Regierung ablösen.

Nach den jüngsten Wahlen zum andalusischen Parlament vom Sonntag ist die Region noch weiter nach rechts gerückt. Auf den ersten Platz kam der PP mit 43,1 Prozent der Stimmen und 58 von insgesamt 109 Mandaten, ein Zuwachs von 32 Sitzen im Vergleich zu 2018 – das erste Mal hat der PP in Andalusien die absolute Mehrheit errungen. Der PSOE folgt mit 24,1 Prozent der Stimmen und 30 Sitzen weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz, für die Partei ist es das bisher schlechteste Ergebnis in Andalusien, sogar die Provinz Sevilla ging nun an den PP. Vox konnte leicht zulegen und kam mit 13,5 Prozent (14 Mandate) auf den dritten Platz. Das neu gegründete grün-linke Bündnis Por Andalucía, dem unter anderem Podemos und die andalusische Vereinigte Linke angehören, schaffte es auf den vierten Platz mit 7,7 Stimmen (fünf Sitze). Das linke Bündnis Adelante Andalucía unter Teresa Rodríguez (ehemals Podemos), das sich Por Andalucía nicht anschließen wollte, kam hingegen nur auf den fünften Platz mit gerade einmal 4,6 Prozent der Stimmen (zwei Sitze) – ein Verlust von zehn Mandaten.

An der Ortsausfahrt, just in der mit Marinaleda zusammengewachsenen Nachbargemeinde Matarredonda, wo die »Straße der Freiheit« zu der von »Papst Johannes XXIII.« wird, kontrolliert eine Polizeistreife der Guardia Civil stichprobenweise aus Marinaleda kommende Autos. Willkommen zurück in der Welt außerhalb Marinaledas.