Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt im Roman »Wilderer« von der Brutalität des Landlebens

Wo Milch und Blut fließen

Ein Hof steht auf der Kippe und ein Mann schreckt vor keiner ­Brutalität zurück. Reinhard Kaiser-Mühleckers beklemmender Roman »Wilderer« zerpflückt Illusionen über das Glück auf dem Lande und den Glauben an eine Ordnung des Guten.

Seit einiger Zeit entdecken Autoren und Autorinnen wie Judith Hermann (»Daheim«, 2021), Lola Randl (»Die Krone der Schöpfung«, 2020) oder Martin Becker (»Kleinstadtfarben«, 2021) die Provinz und etablieren damit ein Gegenmodell zum urbanen Lebensstil. Das Schrullige und Authentische, das Stille und Skurrile wird in dörflichen Szenerien gesehen. Aber auch die Probleme des Provinzlebens sind Thema, etwa in Dirk Kurbjuweits Roman »Der Ausflug« (2022) und Juli Zehs Romanen »Unterleuten (2016) und »Über Menschen« (2021), die die latente Gewalt ländlicher Gesellschaften beschreiben. Wo die soziale Infrastruktur aus Schulen, Jugendclubs und Arztpraxen bröckelt und die Jungen wegziehen, füllen extremistische Positionen die Leere. »Die« Migration, »die« EU und »die« Globalisierung dienen unzufriedenen Provinzlern als Feindbild. Eine Idylle lässt sich dar­aus beim besten Willen nicht kon­struieren.

Reinhard Kaiser-Mühleckers neuer Roman »Wilderer« fügt sich in die Reihe desillusionierender Soziographien der Provinz und konzen­triert sich dabei vor allem auf das in der Gegenwartsliteratur sonst wenig beachtete Thema Landwirtschaft und Tierhaltung. Der junge Landwirt Jakob steht mit dem Rücken zur Wand. Der Agrarbetrieb, den er von den ­Eltern übernommen hat, muss dringend modernisiert werden. Aber die Rahmen­bedingungen machen es ihm schwer.

»Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Reinhard Kaiser-Mühlecker

»Der Milchpreis«, so der Erzähler, »war seit Jahren – seit der Abschaffung der Quote – im Sinkflug gewesen, dazu kamen in einem fort neue Auflagen, die angeblich immer das Tierwohl im Sinn hatten, in Wahrheit aber zu nichts anderem führten, als auch noch die letzten kleinen Höfe zu vernichten (…), weil die Großen immer noch mehr Flächen brauchten.« Hier kämpft, so scheint es, ­einer von den Guten, ein Landwirt, der trotz all der Verlustgeschäfte seinen 5 000 Hühnern immer noch Freilauf zubilligt. »Man bekam den Mehraufwand nicht bezahlt, aber Jakob wollte, dass die Tiere es gut hatten in ihrer kurzen Zeit, so gut wie möglich. Er mochte Tiere.«

Als die Künstlerin Katja für ein Praktikum auf den Hof kommt, findet der Jungbauer ganz unverhofft sein Liebesglück. Jakob gründet mit ihr eine Familie und stellt den Betrieb auf biologische Tierhaltung um. Wird jetzt alles gut? Eine Weile scheint es so, als sei der einzelgängerische Typ, der sich nach einem harten Arbeitstag lustlos auf Tinder herumtrieb, zu einem zufriedenen Familienvater und erfolgreichen Landwirt geworden. Sein Betrieb erhält sogar eine Auszeichnung.

Aber nicht zufällig beginnt der Roman mit dem lakonischen Satz: »Es dämmerte«, der kommendes Ungemach anzukündigen scheint. Tatsächlich kann Jakob sein Glück nicht festhalten, immer wieder bricht sich ein grausamer Zorn Bahn. »Er war so festgefahren in seinen Gewohnheiten, man könnte auch sagen: innerlich erstarrt, dass ein Zorn auf alles ihn erfüllt.«

Die Ehe zerbricht, Katja verlässt mit dem gemeinsamen Sohn den Hof und Jakob fällt in seinen alten Trott zurück. Enttäuschung befällt ihn, mehr noch Hass. Er tötet seinen Hund auf bestialische Weise. Nach und nach erfährt man von Taten, die er in der Vergangenheit begangen hat. Es geht um die Stimulation zu einem Suizid und um Anstiftungen zur Körperverletzung. Eigentlich hätte man nur die Andeutungen im Text ernst nehmen müssen, um Jakobs wahrer Persönlichkeit auf die Spur zu kommen – beispielsweise wenn er verächtlich von dem »Haufen« Menschen und der »Schlampe« bei Tinder spricht oder mehrfach seinen Wunsch nach einem Krieg kundtut.

Kaiser-Mühlecker hat seinen Text psychologisch fein durchkomponiert, sukzessive entsteht das beklemmende Bild eines menschlichen Scheusals, dessen emotionale Abgestumpftheit sich in all seinen Beziehungen offenbart. Auch die Sorge des Bauern um das Wohl seiner Tiere entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als heuchlerisch. Zum Beispiel wenn Jakob sich darüber auslässt, dass er ein verletztes hochträchtiges Schwein nicht zur Notschlachtung geben darf, sondern es einschläfern lassen muss. Tiere sind für ihn letztlich nur verwertbare Objekte.

Das Porträt eines abgeklärten, emotional toten Menschen greift übergeordnete Zusammenhänge auf und beschreibt ein bäuerliches Milieu, das in Jahrzehnten eines harten, entbehrungsreichen Lebens verroht. Behutsam verfugt der Autor dabei die Themen Liebe, Natur und Arbeit miteinander. Jakob wildert in vielen Bereichen des Daseins, ohne je die Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. In einer Schlüsselszene verschlingt sein Hund gierig ein Rehkitz. Es bleibt ohne Konsequenz, genauso wie die schädigenden Vergehen des Protagonisten. Eine Gesellschaftskritik formuliert der Autor nicht. Kaiser-Mühlecker überlässt es dem Publikum, seine Schlüsse aus der Erzählung selbst zu ziehen.

Der Genauigkeit der Beschreibungen ist anzumerken, dass der Autor das ländliche Milieu sehr gut kennt. 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren, wuchs Kaiser-Mühlecker auf dem elterlichen Hof in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien und übernahm nach seinem Abschluss den landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an«, sagt der Autor, »die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Spätestens sein 2019 erschienener Roman »Enteignung«, der die Rückkehr eines weit herumgekommenen Journalisten in sein von Spekulation bedrohtes ober­österreichisches Heimatdorf beschreibt, machte den Autor einem größeren Publikum bekannt.

Kaiser-Mühlecker verzichtet auf politische Botschaften. Und doch verrät der Roman vieles über den spätmodernen Menschen. Zwar ­befindet sich Jakob in keiner digitalen Echokammer, doch auch er ­verbringt seine Tage in eine Art von Bubble. Er kommt nicht über seine angestammte Heimat hinaus, lediglich das vor sich hin dudelnde Radio vermittelt eine Ahnung von der Außenwelt. Man könnte aus dieser Selbstisolierung gewiss auch den Schwund der Empathie ableiten. Denn wäre nicht gerade in der Abkapselung in unseren auch von ­Algorithmen mitgezimmerten Interessens- und Meinungskammern eine Ursache für die Unfähigkeit zu finden, sich auf das Andere und Fremde emotional und kognitiv einzulassen?

»Wilderer« spricht jenseits des Psychogramms eines Einzelnen zahlreiche wichtige Fragen der Gegenwart an. Überdies macht der Roman deutlich, was insbesondere die Sprache leisten kann. Der Text verzichtet radikal auf Ornamentik und schildert fast schon gefühlsarm den Alltag seines Protagonisten, was dessen Unterkühlung umso spürbarer macht. Der in Teilen geradezu monotone Beschreibungston spiegelt die Statik einer brutalisierten Land­existenz.

Zugleich entfaltet der Autor immer wieder pointierte Bilder. »War er aufgebracht, aufgewühlt, zornig, traurig?«, fragt der Erzähler in Bezug auf Jakob. »Nein. Er spürte nichts (…), dass ihm Tränen über die Wangen herunterliefen, spürte er nicht, und vielleicht war das der Grund, weshalb er im Bach, im Wasser blieb: damit er sie nicht spürte. Nur mit Mühe schaffte er es, aus dem Bach zu steigen.« Der Lesende wird nur ungern den Fluss dieser Geschichte verlassen. Denn sie gewährt von der ersten bis zur letzten Seite einen schaurig-beklemmenden Einblick in ein abgeschottetes Milieu.

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer. S. Fischer, 352 Seiten, 24 Euro