Warten auf das neue Kasachstan
»Anfangs war alles fröhlich, wir haben uns alle gefreut. Menschen füllten friedlich die Straßen und alles war gut. Das hielt aber nicht lange an«, erinnert sich Gulsada Serschan, wenn sie an den 4. Januar zurückdenkt. Das war der Tag, an dem die Proteste gegen Treibstoffpreissteigerungen, die zum Neujahr in den Ölfördergebieten Westkasachstans begonnen hatten, die Großstadt Almaty erreichten. Serschan hat ein ruhiges Gemüt, ist seit Jahren politisch engagiert und eine der Gründerinnen der queerfeministischen Initiative Feminita. Die Mitgründerin heißt Schanar Sekerbajewa, eine quirlige Person, die in ihrer Freizeit eine Amateurkarriere im Powerlifting verfolgt.
Für die beiden waren die anfänglichen Proteste auch ein persönliches Erfolgserlebnis. Die Protestparole »Schall, kett!«, die in jener Nacht durch die Straßen hallte, war nämlich ihre Kreation. Der Slogan lässt sich in etwa mit »Alter, hau ab!« übersetzen, die beiden Feministinnen hatten ihn während einer Demonstration 2014 eingeführt. Damals regierte noch der alternde Präsident Nursultan Nasarbajew das Land und direkte Kritik an dessen patriarchaler Herrschaft wurde nicht toleriert. »Seinen Namen durfte man nicht aussprechen, also benutzten wir stattdessen das Wort ›Alter‹, und alle, die Kasachisch können, verstanden sofort, um wen es geht. Der Spruch fand Anklang, es wurden Memes damit gemacht und Lieder damit gedichtet«, sagt Serschan und lacht.
»Die Diktatur ist ineffektiv und kann nicht einmal einen geordneten Machttransfer ohne gewaltsame Krise bewältigen.« Olschas Koschamet, linker Aktivist
2019 trat Nasarbajew endlich zurück und überließ dem jetzigen Präsidenten Qassym-Schomart Toqajew sein Amt. Dass »der Alte« und seine Familie hinter den Kulissen jedoch weiterhin die Zügel in der Hand hielten, war ein offenes Geheimnis. Eine der Hauptforderungen der Proteste im Januar war, dass er die Macht endlich wirklich abgeben sollte. »Ganz Kasachstan rief, dass der Alte abhauen solle. Lustigerweise sah ich sogar manch einen alten Mann, der unseren feministischen Slogan rief«, erzählt Serschan und schmunzelt.
Was auf die anfangs friedlichen Proteste folgte, war allerdings eine Woche der Gewalt. Präsident Toqajew rief den Ausnahmezustand aus, blockierte das Internet und berief Truppen des von Russland geführten Militärbündnisses Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ins Land.
Die Gesprächspartnerinnen und -partner der Jungle World in Almaty erzählen übereinstimmend, dass die spontanen Proteste rasch von Kräften innerhalb der Führungsschicht gekapert worden seien. Das bestätigten auch Berichte der New York Times vom Januar, die sich auf unabhängige Beobachter berief. Ihnen zufolge sollen Familienmitglieder des ehemaligen Präsidenten die gewaltsamen Ausschreitungen angestiftet haben, um dessen Nachfolger zu schwächen und die Vorherrschaft des eigenen Clans wiederherzustellen.
Nach ersten Zusammenstößen hätten sich die Ordnungskräfte Augenzeugen zufolge zeitweise komplett aus Almaty zurückgezogen, worauf dem Anschein nach organisiert handelnde Banden eine Reihe kommerzieller und strategischer Objekte, darunter den Flugplatz und die Stadtverwaltung, geplündert und verwüstet hätten. Als die Ordnungskräfte schließlich zurückkehrten, taten sie dies mit voller Kraft, ohne beim Töten zwischen Plündernden, Protestierenden oder Passanten zu unterscheiden. Offiziell heißt es, dass um die 200 Menschen zu Tode gekommen seien. Eine gründliche Untersuchung ist der Öffentlichkeit bisher jedoch nicht vorgelegt worden, und Kritikerinnen und Kritiker befürchten, dass die wahre Opferzahl höher sein könnte.
»Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich den Klang von durch die Luft fliegenden Kugeln gehört habe«, erzählt Sekerbajewa und macht das zischende Geräusch nach. Sie wohnt in der Nähe des Stadtzentrums von Almaty und sammelte während der Unruhen dort innerhalb kurzer Zeit einen ganzen Beutel voller verschossener Granaten und Patronen verschiedener Größe ein. »Mir war es wichtig, die Beweise zu bewahren, damit danach niemand sagen kann, das sei nie geschehen«, erklärt sie.
Blutiger Januar
Der »blutige Januar«, wie die Unruhen genannt werden, war nicht die erste gewaltsame Niederschlagung zivilen Protests, seit Kasachstan 1991 von der Sowjetunion unabhängig geworden war. Zehn Jahre zuvor, im Dezember 2011, hatten Ordnungskräfte in der westkasachischen Stadt Schangaösen streikende Ölarbeiter erschossen. Ebendort begann auch die jüngste Protestwelle.
»Schangaösen war die ganze Zeit eine offene Wunde gewesen«, sagt Serschan. »Die Verantwortlichen wurden nie bestraft, sondern befördert. Als sich im Januar Proteste von Schangaösen aus auf den Rest des Landes ausbreiteten, war es auch so, dass Menschen irgendwie Solidarität mit der Stadt zeigen wollten. Dieser Schock hätte aufgearbeitet werden müssen. Stattdessen bekamen wir ein neues Schangaösen, im ganzen Land.«
Viele Menschen in Almaty sind nun traumatisiert, auch solche, die selbst keine direkte Gewalt erlitten haben. Eine von ihnen ist Olesja, eine Designerin, die über die Jahre in verschiedenen feministischen und linken Gruppen engagiert gewesen ist und ihren Nachnamen lieber nicht nennen will. »Macht man sich bewusst, dass auf den Straßen unserer Stadt Menschen einfach erschossen wurden, ist der Gedanke so furchtbar, dass man sich gar nicht mehr sicher fühlen kann«, sagt sie. In den Tagen vor Silvester hatte Olesja sich eigentlich auf die für Anfang des Jahres geplante Eröffnung eines veganen Cafés gefreut, ein Projekt, in dem sie sich mit einigen Freundinnen und Freunden engagierte. Stattdessen saß sie tagelang zu Hause fest und hörte es im Zentrum knallen.
Die Unterkunft, die sie damals kurzfristig gemietet hatte, liegt in einem wohlhabenden Bezirk, von dem aus man an klaren Tagen die ganze Stadt überblicken kann. Viele ihrer dortigen Nachbarinnen und Nachbarn gehören zur unteren Führungsschicht des Landes und trauten sich aus Angst davor, heimgesucht zu werden, tagelang nicht, abends das Licht anzuschalten. »Es lag eine Mischung aus Nebel und Rauch über der Stadt, es war eine ganz unheimliche Atmosphäre, wie in ›Silent Hill‹ irgendwie«, erzählt sie in Anspielung auf eine populäre Survival-Horror-Videospielreihe. Bevor der Aufstand völlig aus dem Ruder lief, war Olesja zusammen mit einigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern im Zentrum, um mit den überwiegend jungen Männern aus den Randbezirken zu sprechen, die dort den Platz der Republik besetzt hatten. »Das waren normale Leute. Ein Typ erzählte, er sei arbeitslos und seine Familie verschuldet und er wisse nicht weiter. Das war ein spontaner Arbeiteraufstand ohne Führung.«
Linke Machtlosigkeit
Für Olesja und ihre Gefährtinnen und Gefährten brachten die Januartage auch bittere Einsichten in die Machtlosigkeit der Linken. »Uns wurde bewusst, dass wir trotz aller Gespräche, die wir in unseren linken Kreisen über die Jahre geführt hatten, und aller Organisationsversuche nicht wussten, wie wir handeln sollten, als plötzlich diese revolutionäre Situation entstand. Es gab keine linke Kraft, die hervortreten konnte«, sagt sie.
Das ist eine Enttäuschung, die wohl auch Olschas Koschamet teilt. Bevor er vor einigen Jahren eine seiner Meinung nach öde Vollzeitstelle als Werbetexter annahm, war er in einer kleinen sozialistischen Aktivistengruppe engagiert. Koschamet denkt schnell, redet noch schneller und erzählt, dass eine für ihn angenehmer Nebenwirkung der Ausgangs- und Internetsperre gewesen sei, dass er endlich mal wieder dazu gekommen sei, Bücher zu lesen.
»Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich den Klang von durch die Luft fliegenden Kugeln gehört habe.« Schanar Sekerbajewa, queerfeministische Initiative Feminita
Er glaubt, die Schwäche der Linken beruhe unter anderem auf der Zweisprachigkeit des Landes. Die meisten politisch Engagierten, egal ob sie, wie er, ethnisch kasachisch oder russisch, wie Olesja, seien, hätten einen städtischen Hintergrund und sprächen deshalb vor allem Russisch. Die Arbeiterklasse auf den westkasachischen Ölfeldern und in den Randbezirken der Großstädte sei dagegen eher im Kasachischen zu Hause. »Solange wir mit Menschen in Orten wie Schangaösen nicht Kasachisch reden können, existieren wir für die im Grunde gar nicht«, meint Koschamet.
Ein bisschen Hoffnung macht ihm aber die Tatsache, dass nicht nur die marginalisierte Linke dysfunktional sei, sondern auch die herrschende Klasse. »Meine Hauptschlussfolgerung ist, dass der in Kasachstan herrschende postsowjetische Kapitalismus nicht funktioniert, nicht mal seinen eigenen Maßstäben nach. In der Beschaffenheit der herrschenden Klasse sind Konflikte und Putschversuche programmiert«, sagt er. Die Tatsache, dass der Clan Nasarbajews geglaubt habe, sich von der Protestwelle zurück in seine Vormachtstellung tragen lassen zu können, während die Bevölkerung in Wirklichkeit den ehemaligen Präsidenten endgültig entmachtet sehen wollte, zeugt Koschamet zufolge davon, wie wenig Ahnung die Führungsschicht von der Stimmung im Land habe: »Die Diktatur ist ineffektiv und kann nicht einmal einen geordneten Machttransfer ohne gewaltsame Krise bewältigen.«
Seiner Ansicht nach gelte das auch für den aus der Krise gestärkt hervorgegangenen Präsidenten Toqajew, allen seinen Versprechen von Veränderung zum Trotz. Am 5. Juni ließ seine Regierung per Referendum Verfassungsänderungen absegnen, die formell seine Macht begrenzen und die Demokratie stärken sollen. Politische Analysten und Kritikerinnen sehen darin jedoch nur ein Manöver, um Toqajews Macht zu konsolidieren. Auch Koschamet ist nicht vom demokratischen Gehalt der Änderungen überzeugt: »Das ist ein Haufen Rhetorik. Im Grunde macht er wie Nasarbajew weiter, ist aber etwas schlauer und erlaubt gewisse symbolische Veränderungen.«
Immer wieder Russland
Diese Ansicht teilt auch Dmitrij Masorenko, Journalist bei der unabhängigen Nachrichtenseite Vlast. Als wegen der Unruhen das Internet im Land lahmgelegt war, fungierte er als eine Art Schaltstelle und arbeitete ununterbrochen daran, mittels Telefonaten und SMS Informationen zu sammeln und zu bestätigen. Auch er ist skeptisch, was die Versprechen des Präsidenten angeht: »Die Rhetorik hat sich etwas geändert, aber sonst nicht so viel.« In seinem Arbeitsalltag hätten sich zwar gewisse positive Veränderungen bemerkbar gemacht. »Wir bekommen in letzter Zeit häufiger offizielle Stellungnahmen, wenn wir uns mit Fragen an Behörden wenden. Gleichzeitig haben auch staatliche Medien begonnen, über manche Proteste zu berichten, was ihnen vorher nicht erlaubt gewesen wäre«, sagt er.
Die Kontinuität zur vorherigen Regierungspolitik sei aber in vieler Hinsicht deutlich, besonders wenn es um die ökonomische und soziale Ungerechtigkeit gehe, die der Grund für die Proteste im Januar war. »Wenn die Elite diese sozialen Fragen angeht, ist das in der Regel von neoliberalen Untertönen geprägt. Der Wohlstand des Volkes wird dabei immer am besten durch Meritokratie, Unternehmertum, geringere staatliche Einmischung und niedrigere Steuern sichergestellt«, meint Masorenko.
Ein Gebiet, auf dem sich die Interessen des Regimes und der Bevölkerung inzwischen jedoch teilweise überlappen, sei das Verhältnis zu Russland. Der Einsatz russischer Truppen in Kasachstan im Januar sei Masorenko zufolge eigentlich ein eher innenpolitisches als geopolitisches Ereignis gewesen. »Russland ist dabei als Mittler in einem Konflikt innerhalb der Elite aufgetreten, fast wie eine private Sicherheitsfirma. Erwartungsgemäß sollten sich daraus aber geopolitische Konsequenzen ergeben, da Toqajew nun in Putins Schuld stand«, sagt Masorenko.
Überraschenderweise hat Präsident Toqajew infolge des immer offener imperialistischen Agierens Russlands in den vergangenen Monaten allerdings einen relativ selbständigen Kurs verfolgt. Kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine erlaubten die kasachischen Behörden beispielsweise eine große Demonstration gegen den Krieg in Almaty, und Toqajew betonte Anfang April, dass die territoriale Integrität der Ukraine respektiert werden sollte.
Wie viel demokratische Substanz in dem »Neuen Kasachstan« steckt, das Toqajew in einer Rede an die Nation am 16. März versprochen hat, wird sich zeigen müssen. Progressive Aktivistinnen und Linke in Almaty sind jedenfalls ambivalent bis skeptisch. Die Designerin Olesja sagte, sie sei zumindest erleichtert, dass die Unruhen im Januar nicht zum Beginn einer andauernden Repressionswelle wurden, wie viele befürchtet hatten, sondern dass sich die Führung, im Gegensatz etwa zu der in Russland, zumindest um den Anschein von Fortschritt bemühe.
Das Vertrauen ins Regime ist allerdings äußerst begrenzt. Die Queerfeministin Sekerbajewa hält radikalere Schritte für nötig, besonders was die Sicherheitsorgane angeht, die ihrer Meinung nach in die Kaperung der friedlichen Proteste durch gewalttätige Provokateure verwickelt waren. »Solange Polizei und Geheimpolizei nicht aufgelöst und in einem transparenten Prozess mit öffentlicher Einsicht neu aufgebaut werden, können wir all dem nicht vertrauen«, sagt sie.