Der japanische Film »Glücksrad« erzählt auf elegante Weise von Lebensentscheidungen

Die Ästhetik des Zufalls

In seinem eleganten Episodenfilm »Das Glücksrad« erzählt der japanische Regisseur Ryūsuke Hamaguchi von den Wechselfällen des Lebens, verpassten Chancen und dem großen Zweifel, ob das Schicksal es gut mit einem meint.

In einer durchgrünten Nachbarschaft der Megametropole Tokio geht ein Mode-Shooting erfolgreich zu Ende, die Mitglieder des kleinen Teams ­beglückwünschen einander zu ihrer Arbeit. Auf dem Heimweg teilen sich das Model Meiko (Kotone Furukawa) und die Visagistin Tsugumi (Hyunri) ein Taxi. Sie sind beste Freundinnen, weshalb Tsugumi unterwegs vom Treffen mit einem Mann berichtet, in den sie sich verliebt hat. Wie Meiko schnell heraushört, handelt es sich dabei um ihren Exfreund, den sie zwei Jahre zuvor verlassen hat. Ist es ein Zufall oder sollte sie darin einen Wink des Schicksals mit dem Zaunpfahl sehen? Nachdem das Taxi Tsugumi zu Hause abgesetzt hat, will sich Meiko über ihre Gefühle für den ehemaligen Geliebten klarwerden und sucht ihn in seinem Büro für ­Innenarchitektur auf.

Wie Hamaguchi die Untiefen in seinem an der Oberfläche so ruhig anmutenden Film vermisst, erweist sich in seiner Genauigkeit und der Empathie für die Figuren als atemberaubend.

»Vieles ist im Leben Zufall, doch die meisten wollen Schicksal«, sang einst Jochen Distelmeyer mit seiner Band Blumfeld. Und tatsächlich verfolgt die Frage, ob das Leben nicht ganz anders hätte verlaufen können, wäre man nur an irgendeiner Stelle, an der es zunächst gar keine Rolle zu spielen schien, anders abgebogen, die meisten Menschen dann und wann. Wer sich in einer emotionalen Sackgasse oder gar einer existentiellen Notlage wiederfindet, fragt sich beinahe zwangsläufig, welche Entscheidungen dafür verantwortlich gewesen sind, dass er genau dort angekommen ist. Aber inwieweit kann individuelles Handeln oder Unterlassen überhaupt Los und Geschick beeinflussen, wenn doch alle in übermächtige Vergesellschaftungsmechanismen eingebunden sind? Diese Fragen untersucht der Spielfilm »Das Glücksrad« des japanischen Autors und Regisseurs Ryūsuke Hamaguchi auf elegante Weise.

Als wiederkehrendes Thema von Literatur und Film muss die Beschäftigung mit Fragen nach Determinismus und Freiheit, Glück und Notwendigkeit nicht in didaktisch anmutenden Versuchsreihen durchgespielt werden. Auf mehr oder ­weniger originelle Weise behandeln Krzysztof Kieślowskis »Der Zufall möglicherweise« (1981), Tom Tykwers »Lola rennt« (1998) – der Kieślowskis Idee kopierte – sowie der Erfolgsfilm des Genres, Harold Ramis’ »Und ­täglich grüßt das Murmeltier« (1993) mit Bill Murray, das Thema. Der Reihe nach spielen sie verschiedene Varianten ein und derselben Geschichte durch und vergleichen die Wirkungen, die einzelne Entscheidungen auf den Verlauf der Handlung nehmen. Weniger vordergründig ­haben Regisseure wie Julio Medem vor allem in »Die Liebenden des Polarkreises« (1998) oder Wong Kar-Wai in »Chungking Express« (1994) von der Macht des Zufalls erzählt.

»Das Glücksrad« folgt dieser zweiten Linie. Drei dialoglastige Episoden mit jeweils prägnanten Frauenfiguren verbindet Hamaguchi zu einer Kurzgeschichtensammlung, die ein Kaleidoskop heutiger urbaner Lebens- und Liebeswelten bietet. Dabei überlässt die Inszenierung der unvorhersehbaren Ereignisse und Unwahrscheinlichkeiten nichts dem Zufall. Vielmehr ist der gesamte Film symmetrisch durchkomponiert. Jede der drei Episoden besteht aus drei Hauptszenen, die in sanft bewegte Aufnahmen von Verkehrsinfrastrukturen und Interieurs sowie urbanen Landschaften zwischen großräumigem Umbau und üppiger Stadtnatur eingebettet sind. Untermalt werden die Übergänge mit ­Ausschnitten aus Robert Schumanns Klavierstück »Von fremden Ländern und Menschen«. Wie diese kurze, dem Opus »Kinderszenen« entstammende Komposition bilden die Filmepisoden Miniaturen, die nur an der Oberfläche einfach erscheinen.

Die erste Episode mit der Kapitelüberschrift »Magie (oder etwas weniger Zuverlässiges)« erzählt von den Freundinnen Meiko und Tsugumi. Darin wird der Zufall zum Ausgangspunkt einer Geschichte über die Schwierigkeiten von Millennials, sich in Liebesdingen festzulegen, mögliche Fehlentscheidungen und ihre emotionalen Folgen. Schnell entsteht aus Meikos emotionaler Vergangenheitserforschung eine ­komplizierte Dreieckskonstellation.

Das Ringen um Kontrolle über Werk und Leben sowie das Scheitern daran sind Gegenstand der Episode »Die Tür bleibt offen«. In einem intriganten Spiel versucht die ebenso hübsche wie unbeliebte Studentin Nao (Katsuki Mori), den von ihr verehrten Schriftsteller und Hochschulprofessor Segawa (Kiyohiko Shibukawa) zu verführen. Die Fäden im Hintergrund zieht der Freund der Studentin, der den Hochschullehrer kompromittieren will, um sich an ihm dafür zu rächen, dass dieser ihm den Abschluss versagt hat. In der entscheidenden Situation kommen sich Nao und der Professor dann auf unerwartete Weise näher. Trotz aller Einigkeit führt letztlich eine an die falsche Adresse versandte E-Mail zu einem umso größeren Eklat.

E-Mails spielen auch in der Schluss­episode »Noch einmal« eine Rolle, die sanft ins Science-Fiction-Fach ragt. Nach einem verheerenden Computervirus ist die Menschheit von der elektronischen Post zum Briefeschreiben zurückgekehrt. Diese Prämisse ist jedoch weniger für die Handlung als für die Atmosphäre der Episode von Bedeutung. Im Zentrum steht die auf einer Verwechslung beruhende Begegnung zweier Frauen in ihren Vierzigern (Fusako Urabe und Aoba Kawai), die einander aus der Schulzeit zu kennen glauben. Als sie bemerken, dass dies ein Irrtum ist und sie einander noch nie begegnet sind, beschließen sie, einfach dennoch so zu tun, als seien sie die Personen, für die sie einander gehalten hatten. Spielerisch konfrontieren sie einander und sich selbst mit allem, was sie bisher nicht auszusprechen gewagt hatten. Das führt die Frauen direkt zu der so banalen wie grundlegenden Frage: »Bin ich glücklich?«

In konzentrierten Szenen schafft Hamaguchi zwischen seinen förmlich strahlenden Darstellerinnen Dialogsituationen, die den Zuschauer durch ihre Fokussierung auf die Gesichter beim Sprechen und Zuhören und die Kameraperspektiven gleichsam mit den Charakteren am Tisch oder im Auto sitzen lassen. Die Gespräche werden wie in Echtzeit von Anfang bis Ende wiedergegeben. Dadurch entsteht ein Sog, der die oftmals unvorhersehbaren emotionalen Umschwünge und das Kippen der Machtverhältnisse zwischen den Figuren höchste Wirkung entfalten lässt.

So unterschiedlich die einzelnen Charaktere in ihren Stärken und Schwächen sind: Alle eint eine grundlegende Unsicherheit über die eigene (Un-)Zufriedenheit mit dem jeweiligen Status quo. Wie Hamaguchi die Untiefen in seinem an der Oberfläche so ruhig anmutenden Film vermisst, erweist sich in seiner Genauigkeit und der Empathie für die Figuren als atemberaubend.

Für den Film »Drive My Car«, den der umtriebige Regisseur ebenfalls 2021 drehte und der bereits Anfang dieses Jahres in die deutschen Kinos kam, hat Hamaguchi den Oscar für den besten internationalen Film bekommen. Derzeit ist der unbedingt empfehlenswerte Film auf dem Streamingdienst Mubi zu sehen.

Den drei Episoden von »Das Glücksrad« will Hamaguchi vier weitere folgen lassen. Bleibt zu hoffen, dass auch diese Meditationen über die Seelenzustände romantisch gestimmter Menschen unter digitalen Bedingungen nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Das Glücksrad (Japan 2021). Buch und Regie: Ryūsuke Hamaguchi, Darsteller: Kotone Furukawa, Hyunri, Kiyohiko Shibukawa. Bereits angelaufen.