Russisch Roulette am ukrainischen Atomreaktor Saporischschja

Russisch Roulette am AKW

Ukrainische Experten treten dafür ein, das Atomkraftwerk Saporisch­schja sofort abzuschalten. Dieses ist von russischen Truppen besetzt und liegt direkt an der Front.

Nach einer Serie militärischer Zwischenfälle am Atomkraftwerk Sa­po­risch­schja konnte eine Delegation der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) ­Anfang September die Anlage besuchen. Die Nuklearexperten der in Wien ansässigen Behörde wollten sich an Ort und Stelle ein Bild von der Lage und möglichen Gefahren machen und die ukrainische Belegschaft des von Russland besetzten Kraftwerks bei ihrer Arbeit unterstützen. In der Diskussion ist eine dauerhafte Präsenz der IAEA im Werk. Gleichwohl gab es bis kurz vor Ankunft der UN-Diplomaten Kampfhandlungen im Umkreis der Reaktoren. Vorher waren zwei von insgesamt sechs Reaktoren in Betrieb, danach zunächst nur noch einer.

Das größte Atomkraftwerk Europas, das im internationalen Sprachgebrauch als ZNPP (Zaporizhzhia Nuclear Power Plant) bezeichnet wird, wurde bereits am 4. März von russischen Truppen besetzt. Dabei kam es zu einem Gefecht mit ukrainischen Verteidigern, bei dem ein Verwaltungstrakt in Brand gesetzt wurde. Danach richtete sich die russische Armee auf dem Gelände ein. Fotos und Videos zeigten Militärfahrzeuge mit der weißen Z-Markierung zwischen den Reaktoren und beim ­Einfahren in einen Maschinenraum. Die Ukraine warf den Besetzern vor, das ZNPP als Deckung zu benutzen, um von dort aus das gegenüberliegende Ufer des Dnipro (Dnjepr), das von der Ukraine kontrolliert wird, zu beschießen. Russland antwortete, seine Soldaten dienten nur dem Schutz der Anlage.

Das russische Ziel besteht darin, das AKW in den eigenen Besitz zu überführen, vom ukrainischen Elektrizitätsnetz zu trennen und für die Strom­ver­sorgung der Krim und der besetzten Gebiete einzusetzen.

Am 22. Juli gab der Militärgeheimdienst der ukrainischen Streitkräfte bekannt, eine russische Stellung auf dem Gelände des ZNPP mit einer »Kamikaze-Drohne« angegriffen zu haben – das bisher einzige Eingeständnis der Ukraine, für eine solche Aktion verantwortlich zu sein. Seitdem reißen die militärischen Scharmützel am ZNPP nicht ab. »Fast jeden Tag gibt es einen neuen Zwischenfall im oder in der Nähe des Saporischschja-Kernkraftwerks«, sagte der IAEA-Direktor Rafael Grossi am Donnerstag vorvergangener Woche.

Offiziellen Angaben zufolge ist bislang keine radioaktive Strahlung freigesetzt worden. Doch jeder einzelne dieser Vorfälle führt der Öffentlichkeit vor Augen, wie groß die Gefahr einer Nu­­klearkatastrophe ist. Zwar sollten die Reaktoren des ZNPP gegen einfachen Ar­tilleriebeschuss gehärtet sein, ebenso die 174 Betonbehälter des Trocken­lagers für abgebrannte Brennelemente. Allerdings würden sie einen wiederholten Raketenbeschuss oder eine Bombardierung kaum überstehen. Zudem kann eine Kernschmelze auch durch die Zerstörung der Infrastruktur herbei­geführt werden.

Die Überlandleitungen der Anlage sind schon mehrmals beschädigt worden. Bei einer kompletten Trennung von allen externen Stromquellen würde ein sogenannter station blackout eintreten und das ZNPP wäre auf eine Notstromversorgung durch Dieselgeneratoren angewiesen. Eine noch größere Gefahr geht von jenen abgebrannten Brennelementen aus, die noch nicht für eine Trockenlagerung geeignet sind und in schlecht geschützten Wasserbecken abklingen. Mindestens einmal wurde das Dach eines solchen Gebäudes schon getroffen.

Wer auch immer die Angreifer in den Augusttagen gewesen sein mögen, sie haben es bisher vermieden, einen entscheidenden Schlag gegen das Kraftwerk zu führen, aber jedes Mal demonstriert, dass sie seine verwundbaren Stellen kennen. Bisher können die Attacken also als Drohungen gelten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat dieses Vorgehen als nukleare Erpressung und Nuklearterrorismus bezeichnet, die er Russland vorwarf. Die Verbündeten der Ukraine haben sich dieser Sicht angeschlossen, obwohl beispielsweise die deutsche Bundesregierung verlautbarte, »keine gesicherten Erkenntnisse zur Urheberschaft der Angriffe auf das Gelände des Kernkraftwerks« zu besitzen. Die Frage ist daher, wer wen erpresst und wozu.

Das Ziel Russlands besteht darin, das Atomkraftwerk voll und ganz in den eigenen Besitz zu überführen, die Anlage vom ukrainischen Elektrizitätsnetz zu trennen und sie für die Stromversorgung der Krim und der besetzten Gebiete einzusetzen. Der Plan ist technisch nicht einfach umzusetzen und auch politisch riskant. UN-Generalsekretär António Guterres erklärte unmissverständlich, der vom ZNPP produzierte Strom gehöre der Ukraine. Das dürfte eine überwältigende Mehrheit in den Vereinten Nationen ähnlich sehen. Die russische Regierung braucht also Vorwände, um ihrem Vorhaben den Anschein von Legitimität zu verleihen. Vermeintliche ukrai­nische Sabotageakte kämen dafür nicht ungelegen.

Auf der anderen Seite will die Ukraine verhindern, dass die russische Besetzung mit einer Übernahme des ZNPP vollendete Tatsachen schafft. Die ukrainische ­Regierung fordert mit Unterstützung ihrer Verbündeten eine entmilitarisierte Zone rund um das Kraftwerk. Nur der Abzug der russischen Truppen könne seinen sicheren Betrieb gewährleisten. Russland ist dazu nicht bereit und kümmert sich nicht darum, dass diese Forderung völlig berechtigt ist und nicht zuletzt den Einwohnern auf beiden Seiten der Front sehr gelegen kommt. Daher versucht die Ukraine vor allem, internationalen Druck aufzubauen, um eine Demilitarisierung zu erreichen. Die Sabotageakte werden nach ukrainischer Darstellung von russischer Seite inszeniert, um die Ukraine beschuldigen zu können, mit dem Leben und der Gesundheit der Menschen zu spielen.

In dieser unübersichtlichen, gefährlichen Situation haben einige ukrainische Fachleute den Mut gefunden, sich deutlich zu äußern. Nikolaj Steinberg, Nuklearingenieur aus Kiew, der nach der Atomkatastrophe 1986 in Tschernobyl Dekontaminierungsarbeiten leitete und ein vielbeachtetes Buch darüber schrieb, nannte den anhaltenden Betrieb des ZNPP ein »Verbrechen«. Das Kraftwerk müsse heruntergefahren werden, um die Brennelemente abzukühlen und Zeit zu gewinnen, falls es zu einem station blackout kommt.

Steinberg hatte schon kurz nach Kriegsausbruch die IAEA scharf kritisiert. In einem offenen Brief an Grossi beklagte er, dass sich die Wiener Agentur weigere, den russischen Angriff beim Namen zu nennen. Während ein Schutz von Atomkraftwerken vor den Schäden, wie moderne Waffen sie verursachen können, »prinzipiell unmöglich« sei, fahre Grossi damit fort, der ganzen Welt zu verkünden, dass die ukrainischen Anlagen sicher betrieben würden. Grossis Einschätzung hat sich inzwischen geändert, war aber der Tenor der damaligen Mitteilungen der IAEA, die wiedergaben, was die ukrainische Atomaufsicht gemeldet hatte. Stattdessen erwartete Steinberg von der IAEA, »sofort und ständig über alle möglichen Kanäle zu fordern, den Krieg zu beenden. Die Welt steht am Rande einer Nuklearkatastrophe.« Steinberg ist alles andere als ein Putin-Versteher: »Der Aggressor hat alle denkbaren Grenzen überschritten.«

Innerhalb der ukrainischen Nu­kle­ar­aufsicht (SNRIU) befürwortete mindestens ein Vorstandsmitglied, alle sechs Blöcke des ZNPP herunterzufahren. Ein ehemaliger Chefberater des staatlichen ukrainischen Energieunternehmens Energoatom vertrat dieselbe Meinung. Petro Kotin jedoch, der umstrittene Vorstandsvorsitzende von Energoatom, wies den Vorschlag zurück, weil er Russland in die Hände spiele.

Das Bulletin of the Atomic Scientists verschafft der Forderung nach Abschaltung des ZNPP in wissenschaftlichen Kreisen Gehör. Dort erklärte Oleh Savits­kyj von der ukrainischen NGO Eco­action, warum er »eindeu­tig« dafür eintrete, die Anlage herunter­zufahren. Ihr seit einem halben Jahr überlastetes Personal sei nicht mehr in der Lage, seine Aufgaben nach den geltenden Normen zu erfüllen. Und es gebe auch niemanden mehr, der die erschöpften Mitarbeiter ersetzen könnte. Das ZNPP sei derzeit nicht unverzichtbar für die Stromproduktion, denn die Nachfrage habe seit der Zerstörung großer Indus­triebetriebe in Mariupol deutlich abgenommen. Bis zum Winter habe man noch Zeit, um ein Übereinkommen zu erzielen, das einen Betrieb des ZNPP unter der Kontrolle der Vereinten Nationen ermöglichen könnte. Ecoaction setze sich für eine Sanierung des ukrainischen Energiesystems ein. »Aber es gab große Korruptionsprobleme, die die Entwicklung erneuerbarer Energien und alternativer Wege blockierten. Energoatom war immer in Korruption ­verstrickt.«

Im Blog der US-amerikanischen Wissenschaftlervereinigung Union of ­Concerned Scientists, The Equation, gab Ed Lyman, eine Autorität für Nuklear­sicherheit, einen Überblick über mögliche Sofortmaßnahmen, um die Gefahren, die vom ZNPP ausgehen, etwas zu entschärfen. Auch er stellt fest, dass sich bei abgeschalteten Reaktoren die verfügbare Zeit verlängere, um Notmaßnahmen zur Kühlung des Brennstoffs zu ergreifen. An anderer Stelle wird Lyman noch deutlicher: »Das Gesamtrisiko würde abnehmen«, ein proaktives Abschalten sei sinnvoll, in den USA halte man Atomkraftwerke an, wenn Hurrikane auf sie zustürmen.

Bislang haben sich die deutschen Grünen mit ihren Ministerinnen und Ministern zu diesem Vorschlag noch nicht positioniert.