Die Netflix-Adaption der »Sand­man«-Comics ist zu zahm geraten

Zahme Träume

Die Netflix-Adaption der berühmten »Sandman«-Comics von Neil Gaiman zeigt besonders deutlich, wie konventionell die Produktionen der Streaming-Anbieter mittlerweile geworden sind.

Wovon träumte das 20. Jahrhundert, als es sich seinem Ende näherte? Man könnte durchaus sagen, dass es in der Comicserie »The Sandman« von Neil Gaiman, die ab 1988 bei DC erschien und die zu den einflussreichsten Publikationen des Genres gezählt wird, um diese Frage ging. Daneben drehte sich Gaimans Serie allerdings auch um Serienmörder-Kongresse, die komplizierten Hierarchien der Hölle, Barbie und Ken, Kain und Abel und noch ein paar andere Typen.

War die Geschichte um den mythischen und permanent schlechtgelaunten Herrscher der Traumwelt zu Beginn noch ordentlich im DC-Kosmos verortet, mit Gotham links und Arkham Asylum rechts, betrat sie mit den späteren Ausgaben mehr und mehr eine eigene Welt, die formell nicht mehr so richtig nach den Comicregeln der damaligen Zeit funktionieren wollte. Eine Fernsehadap­tion wurde lange erwartet, lange bezweifelt, lange herbeigesehnt. Jetzt erscheint sie beim kriselnden Streaming-Anbieter Netflix – und enttäuscht.

Von dem wilden Chaos aus Zitaten in den Comics bleibt auf dem Bildschirm – vielleicht notwendigerweise – nicht viel übrig.

Zur Erinnerung: Die »Sandman«-Comics handeln von den »Endless« – sieben unsterblichen Geschwistern, die so etwas wie Urkräfte der menschlichen Existenz verkörpern: Neben der Hauptfigur Dream gibt es da noch Death, Destiny, Delirium, Desire, Despair und Destruction, wobei Letzterer seine Aufgabe irgendwann vernachlässigte. Diese eigentlich abstrakten Figuren, in der Mythologie der Comics noch irgendwo über Göttern angesiedelt, bestehen in den insgesamt 75 Heften dann doch erstaunlich alltägliche Abenteuer. So erleben die Unsterblichen Herzschmerz, machen geschwisterliche Konkurrenzkämpfchen durch, schließen aus Langeweile Wetten miteinander ab, stellen sich die Sinnfrage – und nebenbei geht gefühlt in jedem zweiten Comic beina­he die Welt unter, weil sich irgendwo ein Traumvortex bildet, ein durchgeknallter Magier auf die falschen Ideen kommt oder Loki noch eine alte Rechnung mit Thor offen hat. Ums Ganze geht es jedenfalls andauernd. Und dem zu folgen, machte einen Riesenspaß.

Die Comics hätten sich auf diese Wei­se in einer seltsam menschlichen Götterwelt verlieren können, wären da nicht die Hauptfigur Dream und seine Fähigkeit gewesen, in den Träumen der Erdbewohner mal eben auf einen Sprung vorbeizuschauen. So hielt immer wieder der ganz irdische Irrsinn der späten achtziger und frühen neunziger Jahre als Realitätssplitter in eine Erzählung Einzug, die mit jeder Nummer abgedrehter und – der Logik seiner Hauptfigur folgend – surrealer wurde.

Das ist für die Beurteilung der Comics nicht unerheblich: Obwohl schon die Bezeichnung der zentralen Figuren als »endless« die Geschichte in die Zeitlosigkeit zu versetzen schien, hatte »Sandman« tatsächlich einen sehr genau bestimmbaren Zeitkern. In die ganz großen kosmischen Intrigen waren eben immer die kleinen Schicksale verwoben, in denen die Weltuntergangsangst der späten Achtziger mit dem Hedonismus der frühen Neunziger zusammenfand; eine Zeit, in der politisch alles entschieden schien, kulturell aber noch nicht. Diese Unbestimmtheit, diese Verwirrung fing Gaiman in den beiläufigen Träumen der Nebenfiguren ein, in denen zeichnerisch sämtliche Register gezogen wurden: Vergessene Filmstars, Junkies oder verzweifelte Yuppies träumten von Endzeitstädten namens Armaghetto, manche phantasieren in Form von Kinderkrakeleien von der Selbstermächtigung als Superhelden, in Fernsehsendungen erzählen Dinosaurierhandpuppen vom Tod.

Damit hat man dann gleich den ersten Punkt, an dem die Netflix-Serienadaption der Comics, von Gaiman selbst gemeinsam mit David S. Goyer und Allan Heinberg entwickelt, enttäuscht: in der Aktualisierung des Zeitbezugs beziehungsweise ihrem Ausbleiben. Die Serie beginnt dort, wo es auch die Comics tun: 1916 wird Hauptfigur Dream (Tom Sturridge) in einem okkulten Ritual irgendwo in der englischen Provinz eingekerkert und verbringt die nächsten Jahrzehnte in Gefangenschaft. Nach seiner Flucht muss er nicht nur sein verwahrlostes Traumkönigreich wieder schick machen, sondern auch seine Insignien wiederfinden. Dazu steigt er in die Hölle hinab, trifft eine beziehungsunfähige Exorzistin (Jenna Coleman) und verfolgt den psychopathischen John Dee (David Thewlis), der unbedingt in einer Welt leben möchte, in der alle die Wahrheit sagen.

Die Netflix-Serie allerdings lässt Dream nicht Ende der Achtziger, sondern im Jahr 2021 aus seiner Gefangenschaft entkommen. Statt nun aber die Erzählungen tatsächlich in die Gegenwart zu überführen, belässt es die Produktion dabei, hier und da den Figuren Smartphones in die Hände zu drücken und die Besetzung in Hinblick auf Diversität zu aktualisieren. Ansonsten bleibt die Handlung nahezu unangetastet, was ihr etwas eigenartig Ort- und Zeitloses verleiht. Es bedarf schon eines bedeutenden Maßes an historischer Ignoranz, um die Hoffnungen, Träume und vor allem Ängste von Figuren des vorvorletzten Jahrzehnts einfach so in eine Gegenwart zu transferieren, die abgesehen von der Jahreszahl und manchen elektronischen Geräten fast keine Hinweise auf die geistigen Strömungen der Gegenwart aufweist.

Überhaupt spielen die »kleinen« Geschichten, die in den Comics immer wieder den Hauptplot unterbrachen, verstörten und ergänzten, in der Netflix-Adaption bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Stattdessen ist die »Sandman«-Fernsehversion viel mehr Superheldengeschichte, als es die Comics jemals sein wollten, bleibt lieber groß und interessiert sich für die Welt nur als Kulisse. Das funktioniert zwar beim Zuschauen erstaunlich gut, der Netflix-«Sandman« erkauft sich dieses Gelingen aber dadurch, dass eigentlich alles wegfällt, was die Comics einmal interessant und besonders gemacht hatte.

Denn die spielten zum Zeitpunkt ihres Erscheinens die narrativen Möglichkeiten einmal komplett durch. Gaiman ließ seine Hauptfigur wild in der Zeit herumspringen, setzte sie dann mit einem Mal für eine Ausgabe komplett in den Hintergrund, während Nebencharaktere das Ruder übernahmen und der ewig grüblerische Sandman nur am Rande auftauchte. Gleichzeitig überfrachtete er nahezu jedes Panel mit Verweisen auf bekannte und weniger bekannte Mythen, Hochliteratur und Pulp, Okkultismus und Folklore. Und wo andere, ähnlich verweislastige Produkte der Kulturindustrie gerne im Tanz der Referenzen auf ein großes Nichts im Zentrum verweisen wollten, zeigte »Sandman« mit seiner an Zi­taten und geborgten Figuren überladenen Ästhetik, wie schön eigentlich das Spiel mit der popkulturellen, mythischen, literarischen, im weitesten Sinne künstlerischen Tradition um seiner selbst willen sein kann. Von diesem wilden Chaos aus Zitaten bleibt auf dem Bildschirm – vielleicht notwendigerweise – nicht viel übrig.

Was aber bleibt übrig? Eine Serie, die sich schon zu Beginn die allergrößte Mühe gibt, ein zukünftiges Franchise-Modell zu etablieren. Eine Serie, die sich in ihrer Präsentation trotz weitestgehender Treue zum »Hauptplot« der Originalcomics beim Schnitt, der musikalischen Untermalung und den dramatischen Pausen unangenehm deutlich den üblichen Techniken angleicht, die sich in den vergangenen Jahren im Streaming-Bereich etabliert haben. Obwohl die Produktion ein oder zwei der gestalterischen Höhenflüge aus dem Print übernimmt, bleiben doch die Netflix-Träume allesamt zahm, und nach zwei oder drei Folgen kann man auch schon fast vorhersagen, wann langsam und dramatisch über die Schulter geguckt wird, wann das Flüstern einsetzt, wann ein dezentes Lächeln irgendein Wissen ankündigen darf. Sogar die Hölle ist hier ein langweiliger Ort.

Die Konventionalität der Darstellung steht in krassem Kontrast zum irrsinnigen Spaß, der der gezeichnete »Sandman« auf Papier einmal war. Dieser Kontrast verdeutlicht, wie sehr das Medium Serie in den vergangenen Jahren an Innovationskraft verloren hat, wie fad seine Formen geworden sind. Im Comic wirkten die Träume von gestern erstaunlich gut gealtert, in der Serie wirken die angeblichen Träume von heute, als wären sie von vorvorgestern.

»The Sandman« kann bei Netflix ­gestreamt werden.