In Russland werden Forderungen nach einem Rücktritt Wladimir Putins laut

Forderung nach Putins Rücktritt

In Moskau errang die alternative Wahlplattform Wydwischenije neun Mandate für Bezirksabgeordnete. Sie kritisiert die »Spezialoperation« in der Ukraine.

Rituale sind dazu da, aufrechterhalten zu werden. Auf Biegen und Brechen. Während weite Teile der Ukraine am Wochenende nach russischem Raketenbeschuss ohne Stromversorgung im Dunkeln ausharren mussten, wurde in Russland gewählt. Am zweiten Septemberwochenende finden traditionell Wahlen auf unterschiedlichen Ebenen statt – seit einer Reform zieht sich das sogar über ganze drei Tage lang hin. In einigen Regionalparlamenten wurden die alten Machtverhältnisse fortgeschrieben, Gouverneure im Amt bestätigt. Alles verlief völlig unspektakulär.

Nur in Moskau, wo parallel zu den Wahlen der 875jährige Gründungstag der Stadt begangen wurde, gab es eine reale politische Konkurrenzsituation – bei komplett ungleicher Kräfteverteilung. Die Wahlbeteiligung lag mit 34 Prozent sogar noch über der bei den jüngsten Bürgermeisterwahlen. Das darf getrost als ungewöhnlich bezeichnet werden, denn von 2,4 Millionen abgegebenen Stimmen wurden nur 700 000 im Wahllokal eingereicht; der große Rest erfolgte über das elektronische Wahlverfahren, bei denen klar ist, dass es keine Kontrollmöglichkeit von unabhängiger Seite gibt und dass die Stimmen im Wesentlichen staatsnahen Kandidaten zufallen.

»Während der ›Spezialoperation‹ versucht der Staat, das gesamte politische Feld zu säubern.« Konstantin Konkow von der Wahlplattform Wydwischenije

Zwar ging es in der Hauptstadt lediglich um 1 416 Mandate politisch relativ bedeutungsloser Bezirksabgeordneter. In der Machthierarchie haben sie wenig zu sagen, aber genau aus diesem Grund spielt sich ausgerechnet hier das einzige im legalen Rahmen verbliebene politische Geschehen ab, an dem Oppositionelle noch aktiv teilnehmen dürfen. Selbstverständlich nicht alle, schließlich befinden sich die prominenteren unter ihnen im Ausland oder aber, wie der Liberale Ilja Jaschin, im Gefängnis. Bei den vorangegangenen Wahlen von 2017 trug er den Sieg in seinem Stadtteil davon und saß schließlich bis zu seiner Verhaftung im Juli dem Bezirksrat vor. Sein Ratskollege, der 60 Jahre alte Aleksej Gorin, wurde im Juli wegen angeblicher Verbreitung von fake news über die russischen Streitkräfte zu sieben Jahren Strafkolonie verurteilt. Während einer Ratssitzung sprach er sich gegen die Durchführung einer Kinderfests in Kriegszeiten aus.

Wer sich als Regierungskritiker exponiert und noch dazu der Partei Einiges Russland auf Bezirksebene zusetzen will, geht also ein gewisses Risiko ein. Dennoch vereinigte die alternative Bündnisplattform Wydwischenije in Moskau über 100 Personen, die es drauf ankommen lassen wollten und kandidierten. Der Name ist Programm und ein Wortspiel zugleich: Zusammengeschrieben bedeutet es die Nominierung zur Wahl, getrennt »Ihr seid eine Bewegung«. Genau diese Formulierung trifft die Intention, nämlich Politik nicht von oben, sondern von unten zu machen.

In Moskau existiert eine lebendige Szene an unzähligen Bürgerinitiativen, die mit wechselndem Erfolg gegen Korruption bei Bauvorhaben und andere, das städtische Leben prägende Missstände vorgehen. Die Erfahrung der vergangenen fünf Jahre, als Oppositionelle in einigen Bezirken Mehrheiten erringen konnten, zeigte, dass der Abgeordnetenstatus bei der Vernetzung von Initiativen hilfreich sein kann. Zudem erleichtert er den Zugang zur lokalen Anwohnerschaft, um sie bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegen von städtischer Seite aufgedrängte Projekte zu unterstützen.

Aber Wydwischenije ist mehr als das. Nur wer explizit kritisch gegen den derzeitigen politischen Kurs der Regierung eingestellt ist, die sogenannte Spezialoperation in der Ukraine eingeschlossen, durfte sich der Plattform und ihrem gemeinsamen Wahlkampf anschließen.

In den vergangenen Wochen sorgten die Wahlkommission und die Behörden dafür, insbesondere bekanntere Kandidaten der Plattform auszuschalten. Teils wurden Unterschriften, die Parteilose im Bezirk sammeln müssen, um sie den Behörden vorzulegen, nicht anerkannt. Gegen andere wurden Strafverfahren eingeleitet, die eine Kandidatur der Betroffenen über einen längeren Zeitraum per Gesetz ausschließen. Zu ihnen gehört Aleksandr Samjatin, einer der Initiatoren der Plattform, der nach fünf Jahren als Bezirksabgeordneter erneut antreten wollte. Er hatte Jahre zuvor im Internet für das System des smart voting geworben, mit dem der Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj die Opposition insgesamt zu stärken trachtete – heutzutage macht man sich damit strafbar.

Das bei den Wahlen erzielte Resultat mag bescheiden anmuten, entmutigen lassen will sich dennoch niemand. Neun Mandate errangen Wydwischenije-Kandidaten, darunter auch der 22 Jahre alte Konstantin Konkow. »Darüber freue ich mich natürlich, wenngleich das auch einen bitteren Beigeschmack hat, weil ich es als einziger von sechs in meinem Bezirk geschafft habe«, sagte er der Jungle World. Er sei eher zufällig durchgerutscht, andererseits sei er nicht bekannt genug, als dass ihm im Zuge von Wahlmanipulationen allzu viele Stimmen abhanden gekommen wären, vermutet er.

Bei früheren Wahlen hatte Konkow anderen Kandidaten geholfen, dieses Mal stellte er ein eigenes Team zusammen, »um die Partei Einiges Russland in meinem Stadtteil zu besiegen«. Der Wahlkampf an sich sei ein Erfolg, weil er dazu beigetragen habe, die Bewohner des Viertels zusammenzubringen. Zu Konkows wichtigsten Anliegen in der kommenden Zeit zählen die Umsetzung der Mülltrennung, Kleidersammlungen für Geflüchtete aus der Ukraine und die Organisation von Hausgemeinschaften. Das klingt alles recht harmlos, doch Konkow beschreibt die Lage so: »Während der ›Spezialoperation‹ versucht der Staat, das gesamte politische Feld zu säubern und politische Vereinigungen grundsätzlich zu unterbinden«,. Genau deshalb sei es aber wichtig weiterzumachen.

Dass sich Bezirksabgeordnete nicht immer auf ihre lokalen Anliegen beschränken und auch vor offener Kritik am russischen Militäreinsatz in der Ukraine nicht zurückschrecken, zeigt ein Beispiel aus Sankt Petersburg. Abgeordnete des Stadtbezirks Smolny forderten Ende vergangener Woche den Rücktritt von Wladimir Putin. Wenige Tage später schlossen sich dem weitere Bezirksabgeordnete an, auch aus Moskau, und veröffentlichten einen eigenen Aufruf, kurz und lakonisch verfasst: »Wir, Bezirksabgeordnete Russlands, sind der Ansicht, dass das Vorgehen des Präsidenten Wladimir Putin der Zukunft Russlands und seiner Bürger schadet. Wir fordern den Rücktritt Wladimir Putins vom Präsidentenamt!«

Witalij Bowar, seit mehreren Jahren Abgeordneter in einem der zentralen Bezirke von Sankt Petersburg, ist einer der Unterzeichner der Erklärung. »Wir haben gesehen, dass die Erklärung viel Aufmerksamkeit erhalten hat und dass es in der Bevölkerung das Bedürfnis nach solchen offenen Statements gibt«, sagte er im Gespräch mit der Jungle World. Das bestätige ihn in seiner Entscheidung. Andererseits war ihm klar, dass auf die sechs Abgeordneten, von denen die Initiative ausging, staatlicher Druck ausgeübt werden könnte. »Das ist also auch eine Frage der Solidarität.« Bislang kamen die Initiatoren mit einem Bußgeldverfahren wegen Diskreditierung der russischen Armee davon.

Derweil diskreditieren sich die Streitkräfte jedoch selbst auf ganzer Linie – sogar in den Augen glühender Verfechter der Ausweitung der russischen Einflusssphäre. Seit die ukrainische Armee in einer großangelegten Gegenoffensive Gebiete, die längere Zeit unter russischer Besatzung standen, zurückerobert, rumort es im rechten und patriotischen Lager gewaltig. Das russische Verteidigungsministerium kaschierte in seinen Mitteilungen die offensichtlichen Misserfolge der vergangenen Woche so gut es ging. Von einem Rückzug könne keine Rede sein, nur von einer Umgruppierung der Truppen weg von Charkiw und ihrer Konzentration um Donezk. Dabei waren selbst offizielle Kriegsreporter unzweideutig mit gegenteiligen Interpretationen des Geschehens im Fernsehen aufgetreten.

Mit Kritik hielt sich auch der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow nicht zurück. Er kündigte an, bei der politischen Führung vorstellig zu werden, sollte die Strategie der sogenannten Spezialoperation nicht geändert werden. Weitaus überraschender war allerdings seine Anfang September erfolgte Ankündigung, er habe sich aufgrund seiner langjährigen Amtszeit – immerhin 15 Jahre – eine lange Auszeit verdient. Zwar nahm er diese Aussage wenige Tage später wieder zurück und kündigte an, nicht einmal seinen Jahresurlaub zu nehmen. Da im Fall des machthungrigen tschetschenischen Despoten an einen echten Rückzug nicht zu denken ist, darf darüber spekuliert werden, welches Signal er damit an die Moskauer Führung senden wollte.