Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine rüstet Polen auf

Gegner überall

Die polnische Regierung sieht sich in ihren Befürchtungen über die russische Außenpolitik bestätigt, rüstet auf und sieht Polen als Front­staat der Nato. Gleichzeitig hofft sie auf einen Rechtsruck in der EU.

Außenpolitik ist immer auch Innenpolitik. Diese Binsenweisheit gilt im Falle Polens unter der Führung der nationalistisch-autoritären Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) ganz besonders. Das Streben nach nationaler Souveränität, die Selbstbehauptung gegenüber äußeren Mächten und die internationale An­erkennung Polens sind programmatische und propagandistische Grundpfeiler von PiS. Ein Wahlkampf unter diesen Vorzeichen brachte die Partei 2015 zum zweiten Mal an die Macht (nachdem sie bereits von 2005 bis 2007 eine Regierungskoalition angeführt hatte), und unter diesen Vorzeichen betreibt sie Außenpolitik in erster Linie für das Publikum in Polen. Der Ukraine-Krieg hat zwar in den internationalen Beziehungen manches verändert. In Polen blieb aber Idee eines fortgesetzten Kampfes um die Sicherung der eigenen Unabhängigkeit das außenpolitische Leitmotiv.

Die einschneidendste Veränderung betrifft die Haltung zur Ukraine selbst. Vor der Invasion waren die Beziehungen zum östlichen Nachbarland von geschichtspolitischen Auseinandersetzungen überschattet. Die polnische Regierung kritisierte die staatliche He­roisierung von ukrainischen Nationalisten, die im Zweiten Weltkrieg nicht nur Juden, sondern auch Zehntausende ethnischer Polen in Wolhynien und Ostgalizien ermordet hatten. 2018 stellte Polen es unter Strafe, Verbrechen von »ukrainischen Nationalisten« an polnischen Bürgern zu leugnen.

Einstweilen bleibt Ungarn der wichtigste Partner im Streit mit der EU.

Der russische Überfall ließ diesen Streit jedoch weitgehend in den Hintergrund treten. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński begleitete im März den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki (PiS) und dessen Amtskollegen aus Tschechien und Slowenien, die als erste ausländische Regierungsoberhäupter nach Beginn der ­Invasion nach Kiew reisten. Die polnische Regierung bezeichnet die Ukraine als Brudernation und unterstützt sie in großem Maße mit zivilen und militä­rischen Gütern. Mehr als 1,3 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine halten sich überdies in Polen auf. Der im polnischen Selbstverständnis tief verwurzelte Antagonismus zu Russland motiviert diese klare Positionierung an der Seite der Ukraine, mit der man sich im Freiheitskampf gegen die Großmacht im Osten verbunden fühlt.

Gegenüber den westeuropäischen Ländern präsentiert sich Polen nun mehr denn je in der Rolle des Warnenden, der die von Russland ausgehende Gefahr aus historischer Erfahrung schon immer richtig eingeschätzt habe. Besonders Deutschland, die zweite Großmacht, die historisch immer wieder die polnische Nation bedrohte, wird harsch kritisiert. Seit der russischen Invasion hat sich die seit Jahren gängige antideutsche Rhetorik aus dem PiS-Lager noch einmal deutlich verschärft. Die Vorwürfe richten sich ­gegen ein Zögern bei der Sanktionspolitik und unzureichende Waffenlieferungen. Regelmäßig kontrastieren die staatlichen Medien die deutsche Haltung mit der polnischen.

Im Zentrum der Kritik steht die deutsche Energiepolitik. Schon seit Jahren wird in Polen lagerübergreifend vor der Pipeline Nord Stream 2 gewarnt. Von der rechten Propaganda wird das Projekt nicht selten direkt in die Tradi­tion des Molotow-Ribbentrop-Pakts ­gestellt. Jenseits von solchen fragwürdigen Analogien haben sich die polnischen Befürchtungen bezüglich der Abhängigkeit von russischem Gas bestätigt. Polen war eines der ersten EU-Länder, an die Russland schon im April alle Erdgaslieferungen einstellte, allerdings hatte es sich unter anderem mit dem Bau eines Flüssiggasterminals und einer Erdgaspipeline nach Norwegen, die im ­Oktober in Betrieb gehen soll, auf diese Möglichkeit vorbereitet.

Angesichts der Bedrohung aus dem Osten und eines als ignorant bis gefährlich unzuverlässig beschriebenen deutschen Nachbarn sieht sich die PiS-Regierung in ihrem Streben nach natio­naler Eigenständigkeit und Wehrhaftigkeit bestärkt. Polen rüstet auf: Der Verteidigungshaushalt wurde für das Jahr 2023 von zuletzt 58 Mil­liarden auf fast 100 Milliarden Złoty (umgerechnet circa 21 Milliarden Euro) erhöht. Zur Militarisierung gehören nicht nur umfangreiche Investitionen in neue Waffensysteme, sondern auch eine erhebliche Vergrößerung der Truppe auf bis zu 300 000 Soldaten. Bei Beobachtern aus Deutschland, denen die Rüstungsoffensive der Bundes­regierung nicht weit genug geht, ruft der geplante polnische Militärhaushalt in Höhe von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts Bewunderung, Neid und die Befürchtung eines deutschen He­gemonieverlusts hervor.

Polen unter PiS versteht sich als neuer Frontstaat des Westens: zum einen auf die EU bezogen, wenn es um die Abwehr von Flüchtenden durch Stacheldraht und Stahlmauern an der 400 Kilometer langen Grenze zu Belarus geht, was als Verteidigung gegen belarussische und russische Destabilisierungsversuche verstanden wird; zum anderen im Rahmen der Nato und gegen Russland gerichtet. Das Verhältnis der rechtsautoritären Regierung zu den USA hat sich mit dem Ende der Präsidentschaft Donald Trumps deutlich abgekühlt. In Warschau freut man sich nun aber über die Erhöhung der Nato-Truppenkontingente in Osteuropa und den damit einhergehenden Ausbau der US-Truppenpräsenz im Land. Waffen werden bereits seit Jahren bevorzugt in den USA bestellt, ein an­derer großer Zulieferer der polnischen Aufrüstung ist Südkorea.

Zudem strebt Polen eine Führungsrolle in Ostmitteleuropa an – als Bollwerk gegen Russland, als machtpolitisches Gegengewicht zur deutsch-französischen Dominanz innerhalb der EU, aber auch im kulturkämpferischen Sinne als Bastion gegen die vermeintliche Dekadenz des liberalen Westens.

Der engste Verbündete in der Region bleibt Ungarn. Die unverhohlen russlandfreundliche Position des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor ­Orbán schien zwar zuletzt die Beziehungen zu belasten. Allerdings gingen ­regierungsnahe polnische Medien mit Ungarn niemals derart hart ins Gericht wie mit Deutschland. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, der noch im Juli von einem zerrütteten Verhältnis zu Ungarn sprach, verkündete schon Anfang September in einem Interview, dass man zur Zusammenarbeit zurückkehren wolle, und zwar auf jenen Gebieten, auf denen »uns Werte und Interessen verbinden«.

In den anhaltenden Auseinandersetzungen mit der EU über die Verletzung von Rechtsstaatlichkeitsnormen wird Polen auf Ungarn weiterhin angewiesen sein. Dass die EU ihre Pandemiehilfsgelder derzeit nicht mehr an Polen auszahlt, interpretiert PiS als direkten Angriff auf die polnische Regierung. Nachdem sich die Aussicht auf ein von ­Marine Le Pen geführtes Frankreich zerschlagen hatte, hofft man im PiS-Umfeld jetzt auf einen Rechtsruck bei den anstehenden Parlamentswahlen in ­Italien. Einstweilen bleibt aber Ungarn der wichtigste Partner im Streit mit der EU. Innenpolitische Ziele und der imaginierte Kampf um Polens Souveränität werden somit andere außenpolitische Fragen immer übertrumpfen.