Das Berliner Landesverfassungsgericht tendiert dazu, Neuwahlen anzuordnen

Berliner Chaostag

Das Berliner Landesverfassungsgericht tendierte in einer ersten Anhörung dazu, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen am 26. September vergangenen Jahres für ungültig zu erklären. Eine endgültige Entscheidung wird im Dezember erwartet.

Falsche oder fehlende Stimmzettel, ex­trem lange Warteschlangen, zeitweise Schließungen von Wahllokalen wegen Überlastung: Die Landeswahlleitung zeigte sich von den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und den ­Bezirksverordnetenversammlungen überfordert. Insgesamt 35 Einsprüche gingen beim Verfassungsgerichtshof Berlin gegen die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen am 26. September vergangenen Jahres ein. Sie fanden zusammen mit der Wahl zum Deutschen Bundestag und der Abstimmung über den Volksentscheid der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« statt, die von den Problemen gleichfalls betroffen waren.

Über vier Einsprüche – die der Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport, der Landeswahlleitung sowie der Parteien AfD und »Die Partei« – hat der Verfassungsgerichtshof am Mittwoch voriger Woche nun in einer ersten Anhörung verhandelt. Die Bewertung des Gerichts beruht auf der Prüfung der Protokolle der Wahllokale, die es im März 2022 angefordert hatte, sowie auf den schriftlich vorgebrachten Argumenten der kommissarischen Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann und der übrigen Einspruch Erhebenden. Die Gerichtspräsidentin Ludgera Selting teilte mit, der Verfassungsgerichtshof neige dazu, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen vollständig für ungültig zu erklären.

Der Landeswahlleiterin von Berlin zufolge haben Wahlberechtigte in 255 Wahllokalen nach 18 Uhr abgestimmt, in 22 davon sogar noch nach 19.30 Uhr.

Diese Einschätzung begründete der Gerichtshof damit, dass die Möglichkeit der Wahlberechtigten, eine »vollständige und gültige Stimme unter zumutbaren Bedingungen in Präsenz« abzugeben, nicht gegeben war. Am Wahltag hätten »teilweise chaotische« Zustände geherrscht. Neben unzumutbar langen Wartezeiten vor den Wahllokalen sei es zur zeitweisen Schließung von Wahllokalen und zur Austeilung von zu wenigen oder falschen Stimmzetteln gekommen.

Wie die Landeswahlleiterin in einer Stellungnahme an den Verfassungsgerichtshof berichtete, haben Wahlberechtigte in 255 Wahllokalen erst nach 18.00 Uhr abgestimmt, in 22 davon sogar noch nach 19.30 Uhr – also nach dem Bekanntwerden erster Wahlpro­gnosen und Hochrechnungen in den Medien. In 170 dokumentierten Fällen sollen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer Wahlberechtigte abgewiesen haben.

Zu Wahlpannen sei es allerdings nicht nur am Wahltag selbst gekommen. Einer Pressemitteilung des Verfassungsgerichtshofs zufolge habe bereits die Vorbereitung der Wahl »den rechtlichen Anforderungen voraussichtlich nicht genügt«. Die Vorgänge am Wahltag seien zudem nur unzureichend dokumentiert worden – das Gericht nimmt daher an, dass es sich bei den von Wahlfehlern betroffenen Stimmen, die als Grundlage für die Einschätzung des Gerichtshofs dienen, nur um »die Spitze des Eisbergs« handelt.

Doch bereits die dokumentierten Wahlfehler seien nach dem derzeitigen Stand »mandatsrelevant« – also so gravierend, dass sie die Verteilung der Sitze beeinflusst haben könnten. Insgesamt geht der Gerichtshof nach seiner ersten Anhörung davon aus, dass wohl nur eine vollständige Wiederholung der Wahl ein »verfassungskonformes Wahlergebnis« herbeiführen könne.

Eine solche Entscheidung würde über die Einwände der Landeswahlleitung und des Innensenats hinausgehen. Erstere forderte in ihrem Einspruch lediglich die Wiederholung der Wahlen in zwei Wahlkreisen. In mehr als 2 000 von insgesamt 2 257 Wahllokalen sei die Wahl problemlos abgelaufen, hatte die damalige Landeswahlleiterin Petra Michaelis im Oktober vergangenen Jahres versichert.

Torsten Akmann (SPD), Staatssekretär der Senatsverwaltung für Inneres, äußerte nach der Anhörung des Berliner Verfassungsgerichts die Sorge, dass im Falle von Neuwahlen bestehende Mandate entwertet werden könnten. Er sagte, der »überwiegende Teil der Wählerinnen und Wähler« habe seine Stimmen abgeben können; zudem versicherte er, dass es Pannen wie die bei der Wahl im September vergangenen Jahres in Zukunft nicht wieder geben werde.

Falls der Berliner Verfassungsgerichtshof die Wahlen tatsächlich für ungültig erklären sollte, müssten sie innerhalb von 90 Tagen nach der Verkündung eines solchen Beschlusses wiederholt werden. Die Vorbereitungen dafür laufen bereits: »Zunächst geht es jetzt darum, schnellstmöglich Papier für die Wahlunterlagen zu bestellen und eine Druckerei zu beauftragen«, sagte Rockmann vergangene Woche.
Während das Gericht voraussichtlich erst im Dezember endgültig über die Neuwahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen entscheiden wird, prüft derzeit der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags, ob in Berlin auch noch die Bundestagswahl wiederholt werden muss. Einer bislang unveröffentlichten Beschlussvorlage des Ausschusses zufolge könnte in einem Teil der Wahlbezirke auch diese Wahl wiederholt werden.