Gespräch mit der Philosophin Amy E. Wendling über Karl Marx

»Zeit und Herrschaft haben einen inneren Zusammenhang«

Amy E. Wendling über Technologie und Entfremdung bei Marx, die Spezifik kapitalistischer Technologien und die Lehren aus der Klimakrise.

Ein zentraler Teil Ihres Buches ist die Darstellung der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen, vor deren Hintergrund Marx seine Werke schrieb. Was lernt man durch diese Her­angehensweise?

Marx betrachtete seine Kritik der politischen Ökonomie selbst als unabgeschlossen. Ich glaube, dass man sehen muss, dass sich der ältere Marx vor allem für Chemie, Landwirtschaft und dergleichen interessierte und man sich dem wunderbaren Fundus an Exzerpten naturwissenschaftlicher Bücher zuwenden muss, damit man versteht, worum es ihm bei der Kritik der politischen Ökonomie ging. Nämlich an vorderster Stelle um den Metabolismus zwischen und das Verhältnis von Menschen und Natur. Der Marxologe ­Kohei Saito geht so weit zu sagen, dass für den späten Marx die primäre, essentielle Aufgabe des Sozialismus die nachhaltige und bewusste Regelung des Metabolismus von Menschen und Natur ist. Ich denke, dass Saito recht hat und wir gerade angesichts der ökologischen Krisen Marx’ Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften verstehen müssen.

Worum es Marx bei dieser Auseinandersetzung ging, zeigt sich besonders an seinem widersprüchlichen Verhältnis zu Technologie, das Sie ausgiebig analysieren. Welche Rolle spielte Technologie für Marx?

Schauen wir etwa auf die Agrarchemie: Marx hat, gegen Ökonomen wie Thomas Malthus gerichtet, die von unverrückbaren Naturgrenzen der Produktivität ausgingen, bewundernd auf die technischen Entwicklungen geblickt, mit denen man ein endliches Produkt vervielfältigen kann – und das prinzipiell, ohne die Quellen des Reichtums zu erschöpfen. Das ist der prometheische, utopische Marx. Oder schauen wir uns digitale Technologien an: Sie helfen, Raum-Zeit-Unterschiede zu überbrücken, wir wissen aber auch, dass sie ein mächtiges Vehikel von Propaganda und Manipulation sind. Ob Dünger, Bildschirme oder beinahe jede andere Technologie: Sie haben eine Ambivalenz, können progressiv und regressiv wirken. Es ist ein Fortschritt, viele Menschen ernähren zu können, aber mit dem übermäßigen Einsatz von Dünger erschöpfen wir die Erde. Die ganze Geschichte der Technologie ist tief von dieser Ambivalenz geprägt. Mit dem Jacquard-Webstuhl beispielsweise wurde die Arbeitskraft von Kindern ausgebeutet, dieser war aber zugleich eine der ersten Maschinen, die mit einer binären Kodierung arbeiteten, was die Basis heutiger Computer darstellt.

»Als ich das Buch geschrieben habe, dachte ich, dass es wichtig wäre, sich von diesem romantischen Arbeitsbegriff zu entfernen, wie ihn Kant und Hegel vertraten, der davon ausgeht, dass man durch die Arbeit eine imaginäre menschliche Substanz in der Welt vergegenständlicht.«

Marx sah, dass Wissenschaft und Technologie den general intellect ausweiten oder beschneiden können. Wenn er diese Beschneidung analysiert und etwa Maschinen in »Das Kapital« als fürchterliche Ungeheuer darstellt, kann er romantischer wirken, als er eigentlich war. Wenn er zum Beispiel über die unermesslichen Potentiale von Dünger spricht, wirkt er dagegen viel utopistischer, als er es eigentlich war. Was er aber sehr klar sieht, ist, dass eine bestimmte Technologie in progressive und regressive Zwecke gepresst werden kann und man daher weder technologischer Utopist noch Dystopiker sein sollte.

Hatte Marx auch einen Blick für die kapitalistische Entwicklung von Technologien oder nur für das, was er deren »kapitalistische Anwendung« nannte?

Auf einer tieferen Ebene sah Marx auch, dass die Technologien, die wir im Kapitalismus entwickeln, nicht die sind, die wir unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen entwickeln würden. Denken wir etwa daran, wie langsam wir von fossilen Brennstoffen wegkommen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Engels schon 1845 in seiner Studie »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« mit Blick in den Himmel über Manchester anmerkt, dass sich im Rauch der Schornsteine kaum atmen lässt. In einer anderen politischen Form hätten wir uns von fossilen Brennstoffen womöglich längst emanzipiert.

Insgesamt ist zwar die ganze Idee der Technologie mit dem Kapitalismus und einer Manie der Klassifi­zierung verschränkt. Aber Marx antwortet auf die Frage, ob es immer nur extraktive, zerstörerische Technologien geben kann, nicht einfach mit »ja«, so wie beispielsweise Heidegger. Stattdessen ging er tiefer und versuchte, die spezifische Form zu reflektieren, die Wissenschaft und Technologie unter kapitalistischen Verhältnissen annehmen. Es ging Marx nicht darum, Technologie ab­strakt zu verwerfen, sondern um eine Selbstreflexion der Wissenschaften und die Frage, welche Technologien wir progressiv nutzen können – und das ist gerade angesichts der Klimakrise eine entscheidende Frage.

Wenn es so etwas wie spezifisch kapitalistische Technologien gibt, lassen sich diese dann überhaupt für vernünftige Zwecke verwenden?

Mein Lieblingsbeispiel einer spezifisch kapitalistischen Technologie, die uns wohl kaum in den Kommunismus begleiten dürfte, stammt von Andrew Feenberg, der bei Herbert Marcuse studiert hatte: Kinder haben kleine Körper, und weil man die Arbeitskraft vierjähriger Kinder ausbeuten wollte, baute man Maschinen, die an ihre Körpergröße angepasst waren. Feenberg unterscheidet nun zwischen verschiedenen Ebenen der Technologien und Wissenschaften: Bedeutet das, dass jeder Hebel dieser Maschine spezifisch kapitalistisch ist, wir also die Technologie »Hebel« aufgeben müssen, weil diese für ausbeuterische Zwecke genutzt wurde? Nein. Man kann Chemie nutzen, um Impfstoffe zu entwickeln oder – wir haben hier in Nebraska die Todesstrafe – um tödliche Injektionen zu entwickeln, was aber kein Problem der Chemie insgesamt ist.

Ich kann dich in ein Gefängnis einmauern, aber das Problem wird nicht der einzelne Ziegel sein. Die Ebene der Technologie ist also entscheidend. Es gibt spezifisch kapitalistische Technologien wie Gefängniskomplexe, fossile Brennstoffe und auf Kinderarbeit ausgerichtete Maschinen. Das heißt aber nicht, dass all die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Bauteile, die zum Beispiel in die Nutzung fossiler Brennstoffe geflossen sind, im Kommunismus jeden Nutzen verlieren würden.

Digitale Technologien werden gerne als anders als alles zuvor Da­gewesene dargestellt. Lässt sich Marx’ Analyse von Technologien auf diese übertragen?

Ich denke, man kann die Analyse übertragen, muss aber aufpassen, wie man sie überträgt. Meiner Einschätzung nach üben digitale Tech­nologien ihre Herrschaftsfunktionen besonders über die Zeitwahrnehmung aus. Zeit und Herrschaft haben einen inneren Zusammenhang: In weniger kapitalistischen, landwirtschaftlichen Gesellschaften variiert Arbeit etwa mit den Jahreszeiten und läuft nicht gemäß der homogenen Zeit der Uhr ab. Mit Lohnarbeit und Maschinentakt kommt dagegen automatisch auch abstrakte Zeit ins Spiel. Und auch digitale Technologien, wie wir sie heute nutzen, bauen auf einem modernen Zeitverständnis auf, das Marx in Ansätzen bereits im Kapitel über den Arbeitstag in »Das Kapital« analysiert hat: Wie bringen wir Leute beispielsweise dazu, morgens um neun Uhr in der Fabrik aufzutauchen? Und woher wissen sie, dass es neun Uhr ist?

Digitale Technologie rückt Zeitpunkte in unsere Aufmerksamkeit, sie erinnert mich an anstehende Aufgaben, wann es Zeit ist, eine Aufgabe abzuschließen, und wann die nächste ansteht. Das steht in Tradition einer Externalisierung von Erinnerung in Technologien: Von der Schul- oder Fabrikglocke bis zu Terminerinnerung auf dem Handy. Das so internalisierte quantitative Zeitbewusstseins scheint heutzutage zwar natürlich im Menschen angelegt zu sein, doch noch vor 100 Jahren war es in den USA beispielsweise nicht selbstverständlich, die Uhren zwischen zwei Orten zu synchronisieren, damit Zugkollisionen auf der eingleisigen Strecke zwischen diesen Orten vermieden werden können. Die abstrakte, quantitative Zeitwahrnehmung scheint natürlich, ist aber tatsächlich – abgesehen von ihrer Nützlichkeit – eine historisch gesehen sehr limitierte Facette der menschlichen Erfahrung, und diese wird von digitalen Technologien forciert.

Damit schlagen Sie die Brücke zum Thema der Entfremdung. Viele haben argumentiert, dass der ältere Marx sich nicht mehr mit Entfremdung beschäftigte. Sie argumentieren dagegen, dass der Begriff auch für Marx’ Spätwerk wichtig ist.

Ich denke nicht nur, dass es unmöglich ist, die Kritik der politischen Ökonomie ohne Marx’ frühere Ausführungen zu Entfremdung zu verstehen. Insgesamt ist der Begriff der Entfremdung viel älter und breiter als Marx. Es ist einer der regulierenden Begriffe der westlichen Ideengeschichte. Schon in der Bibel taucht Entfremdung als Entäußerung auf, wenn Gott in Jesus inkarniert, also zu etwas wird, das er nicht ist. Insgesamt bezeichnet Entfremdung etwas, das nicht es selbst ist, in eine andere Gestalt übergeht; bezeichnet eine eigentlich endliche Struktur, die als unendlich erscheint.

Übertragen auf den Kapitalismus erklärt Entfremdung, wie menschliche Arbeit in Form des Kapitals oder einer Technologie gegen sich selbst agiert, zu einer fremden Macht wird, sich aber dennoch selbst produziert – weshalb das Kapital auch abhängig bleibt, nicht schlechthin unabhängig wird, weil es Produkt von menschlicher Arbeit ist. Es erscheint un­abhängiger, als es ist. Und auch die grundlegende Entfremdung von Menschen und Natur im Kapitalismus ist für den späten Marx weiterhin entscheidend. Er redet nicht explizit darüber, aber diese Entfremdung ist der Rahmen für sein ganzes Verständnis vom Verhältnis von Menschen und Natur.

Egal wie viel Arbeitszeitreduzierung man erkämpft, es muss auch um die Zerstörung der natürlichen Rahmenbedingungen gehen, und um diese zu bestimmen, ist der Entfremdungsbegriff sehr hilfreich. Das Gleiche gilt für die Frage, warum Menschen gegen ihre eigenen Interessen handeln, was für die Frage des »falschen Bewusstseins« wichtig ist. Ich denke wirklich, dass Entfremdung ein fundamentaler Begriff ist, ohne den kaum zu verstehen ist, was los ist.

Der Entfremdungsbegriff wurde wegen des Bezugs auf ein menschliches Wesen immer wieder als essentialistisch kritisiert. Wie sehen Sie das?

Entfremdung kann ein essentialistischer Begriff sein, der von einer reinen, ursprünglichen Essenz des Menschen ausgeht, von der man sich dann entfremdet. Mit Hegel geht Marx beim Begriff des menschlichen Wesens aber von einer sozialen »zweiten Natur« aus. Er geht also nicht von einer biologistischen oder ethnischen Konzeption des Menschen aus, sondern sein Punkt ist: Die Sozialisierung, die Menschen erfahren, ist in einem bestimmten Sinne fehlerhaft, beschädigt. Das, wovon man sich laut Marx entfremdet, ist selbst sozial und nicht natürlich.

Sie zeigen, dass es im Spätwerk von Marx zwei widersprüchliche Begriffe von Arbeit gibt: einen humanistisch-idealistischen und einen wissenschaftlich-energetischen. Warum hat der späte Marx einen Arbeitsbegriff übernommen, der Arbeit tendenziell auf technische Größen und Prozesse reduziert, und warum konnte er sich dennoch nicht vom humanistischen Arbeitsbegriff trennen?

Als ich das Buch geschrieben habe, dachte ich, dass es wichtig wäre, sich von diesem romantischen Arbeitsbegriff zu entfernen, wie ihn Kant und Hegel vertraten, der davon ausgeht, dass man durch die Arbeit eine imaginäre menschliche Substanz in der Welt vergegenständlicht. Ich wollte ein Verständnis von Arbeit betonen, das ich metabolisch nenne: Ich übe definierbare Tätigkeiten aus, verbrauche dabei Energie beziehungsweise Kalorien, gebe Stoffen eine andere Form.

Es geht hier nicht um die Vergegenständlichung eines geistigen Wesens und auch nicht um Subjektivität oder Kreativität, sondern im Sinne der time and motion studies um Zeiteinheiten, Energieverausgabung und Prozesse der Stoffumwandlung. Ich denke, was Marx gemacht hat, ist, beide Begriffe zusammenzuhalten: Während ich hier spreche und Kalo­rien verbrauche, ist eben auch meine Vorstellungskraft beteiligt. Auch Sorgearbeit, die oft fälschlich als unqualifiziert dargestellt wird, können wir als Zeitspanne oder als Anzahl verbrannter Kalorien bestimmen, aber es sind auch qualitative und subjektive Momente involviert.

Das Geniale an Marx ist, dass er diese unterschiedlichen Arten, über menschliche Arbeit zu sprechen, zusammenhält. Das gelingt zwar nicht ganz widerspruchsfrei, doch je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zur Überzeugung, dass das keine Schwäche, sondern sogar eine Stärke ist, weil je nachdem, um was es politisch geht, unterschiedliche Facetten der Begriffe zum Tragen kommen. Wenn es um die Begrenzung des Arbeitstags geht, ist es sehr nützlich, sich auf einen metabolischen Begriff von Arbeit zu beziehen, bei dem es um Energieverausgabung und deren physische Grenzen geht. Geht es um politische Arbeit, Kreativität oder die Verwirklichung nicht entfremdeter Arbeit, ist dagegen ein humanistischer Arbeitsbegriff hilfreich.

Marx hat erkannt, dass zwar der Kapitalismus selbst uns diesen technischen, metabolischen Arbeitsbegriff sowie die Ausblendung von Faktoren wie Kreativität aufzwingt. Aber ohne den Begriff abstrakter Zeit gibt es auch keine Beschränkung des ­Arbeitstags. Manchmal muss man Begriffe verwenden, die selbst vom Kapitalismus geformt wurden, zum Beispiel die abstrakte Zeit oder das metabolische Verständnis von ­Arbeit. Es gibt also eine Spannung zwischen der kapitalistischen Prägung von Begriffen und deren politischer Nutzung.

Mit dem, was Sie »Marx’ energetizistische Wende« nennen, hängt nicht nur ein neuer Begriff von Arbeit zusammen. Sie zeigen auch, dass der späte Marx Revolutionen nicht mehr als freien und bewussten Akt konzipierte, sondern den Zusammenbruch des Kapitals als eine Notwendigkeit ansah. Nun wissen wir längst, dass Krisen nicht automatisch zum Ende des Kapitalismus, geschweige denn zur Emanzipation führen, sondern auch den Faschismus bringen können. Heißt das, dass Marx uns in Bezug auf politische Praxis nichts mehr zu sagen hat?

Marx ist ganz in der philosophischen Tradition Kants als Kritiker am stärksten. Doch Marx ist nicht nur Erbe einer philosophischen, sondern auch einer politischen Tradition, besonders der revolutionären französischen. Ich denke nicht, dass seine Kritik auf Hoffnungslosigkeit oder Fatalismus hinausläuft. Es ist in seinem Werk zwar weniger offensichtlich, aber er gibt uns auch Hinweise auf positive Momente, an denen man in der Praxis ansetzen kann: die Wissenschaften, neue technische Möglichkeiten, die Entwicklung des general intellect. Er ist ein hervor­ragender Kritiker, deutet aber auch Wege aus dem Kapitalismus an und war gerade in seinem späteren Leben immer auch in politische Praxis involviert.

Ich denke, man muss dieses politische Erbe bei Marx betonen. Als ­Habermas noch über Marx schrieb, argumentierte er, dass es Teil des Problems sein kann, etwas als Krise darzustellen. Denn der Kapitalismus ist ausgezeichnet darin, Krisen in Faschismus oder andere politische ­Reaktionen zu metabolisieren. Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass wir uns etwa in einer ökologischen Krise befinden. Aber man sollte zur Formierung eines politischen Bewusstseins und zur Überwindung von Krisen nicht ausschließlich über diese Krisen reden, sondern es braucht Perspektiven auf einen Ausweg.

 

Amy E. Wendling

Bild: privat

Amy E. Wendling ist Professorin für Philosophie am College of Arts and Science der Creighton University in Omaha, Nebraska (USA). Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die politische Philosophie, die Sozialphilosophie und die Geschichte der westlichen Philosophie, insbesondere des 19. Jahrhunderts.

Amy E. Wendling: Karl Marx über Technologie und Entfremdung. Dietz Berlin, Berlin 2022, 271 Seiten, 29,90 Euro