20.10.2022
Die Streiks in Frankreich weiten sich aus

Dienstverpflichtung gegen Streiks

Die französische Regierung geht hart gegen Streikende in Raffinerien vor. Ein gewerkschaftlicher Aktionstag am Dienstag brachte eine Aus­weitung der Streiks unter anderem auf das Bahnunternehmen SNCF mit sich.

Die Regierung verschärft den Ton. In den französischen Raffinerien und Tanklagern von Total Energies und Exxon Mobil wird seit Ende September gestreikt, in Teilen des Landes werden Kraft- und Treibstoff knapp, derzeit vor allem im Pariser Raum, wo über 40 Prozent der Tankstellen kein Benzin oder Diesel mehr verkaufen, und in der angrenzenden Region Centre-Val de Loire. Lange Autoschlangen vor den Tanksäulen blockieren teils ganze Straßen. In dieser Situation greift Premierministerin Élisabeth Borne zum Mit­tel der strafbewehrten Dienstverpflichtung (réquisition). Bei Zuwiderhandeln, auch durch die Ausübung des Streikrechts, drohen bis zu sechs Monate Haft. Vier erste Verpflichtungen für einzelne Beschäftigte, die die Tanklastwagen in einer Raffinerie in der Normandie wieder befüllen mussten, trafen am Donnerstag voriger Woche ein. Am Montag kündigte Borne in einem Fernsehinterview eine wachsende Zahl weiterer Dienstverpflichtungen an, während Wirtschaftsminister Bruno Le Maire laut darüber nachdachte, besetzte Raffinerien und Treibstoffdepots »zu räumen«.

Mehrere französische Atomkraft­werke waren vom Streik betroffen, drei allein am nordfranzösischen Standort Gravelines, wo zwei Reaktoren heruntergefahren werden mussten.

Historisch galten solche Dienstverpflichtungen als zulässig vor allem in lebenswichtigen Bereichen wie der Gesundheitsversorgung oder im Verteidigungsfall. Der oberste Verwaltungsgerichtshof, der Conseil d’État, wehrte allerdings in der Vergangenheit mehrere Klagen gegen solche Dienstverpflichtungen ab; ihm zufolge muss jeweils eine konkrete Güterabwägung zwischen der Bedeutung eines Betriebs für die Versorgung und dem Streikrecht getroffen werden.

In der Nacht zum Freitag vergangener Woche hatten sechsstündige Verhandlungen am Sitz des Mineralölkonzerns Total in der Pariser Vorstadt La Défense stattgefunden. Total ist das größte börsennotierte Unternehmen in Frankreich, das allein im ersten Halbjahr 2022 stattliche 18 Milliarden Euro an Gewinn erzielte, und wie Konkurrent Exxon Mobil Eigentümer mehrerer Raffinerien.

Die CGT verließ die Runde gegen 2.20 Uhr in der Nacht. Aber die beiden Gewerkschaftsverbände CFDT, der so­zialdemokratisch orientiert ist, und CFE-CGC, der die höheren und leitenden Angestellten vertritt, erklärten sich am Freitag zur Unterzeichnung einer Vereinbarung bereit. Beide zusammen bekamen bei den jüngsten Personalvertretungswahlen gut 50 Prozent der Stimmen im Gesamtunternehmen und erfüllen damit die rechtliche Voraussetzung dafür, dass das Abkommen rechtskräftig wird. Allerdings haben beide ihre Basis eher bei den Ingenieuren und Verwaltungsangestellten des Konzerns, nicht hingegen bei den in den Raffinerien direkt Beschäftigten und anderen Facharbeitergruppen, in denen die CGT stärker verankert ist.

Illegal wird deren Streik dadurch nicht, auch wenn eine Kollektivvereinbarung zum selben Thema wie dem der Forderungen, in diesem Fall Lohn- und Gehaltserhöhungen, besteht. Im Unterschied zu Deutschland existiert in Frankreich keine sogenannte Friedenspflicht. Im deutschen Arbeitsrecht wäre ein Arbeitskampf illegal, sobald ein Tarifvertrag im Unternehmen oder in der Branche zum selben Thema in Kraft tritt. Dies ist in Frankreich nicht der Fall. Arbeitskämpfe bleiben grundsätzlich zulässig, es ist lediglich eine Frage des Kräfteverhältnisses, ob Streikende sich nach dem Einlenken einer oder mehrerer Gewerkschaften noch durchsetzen können.

Das Abkommen zwischen Total und CFDT sowie CFE-CGC wird in den Me­dien so dargestellt, als sehe es eine Lohn- und Gehaltserhöhung für 2023 – vorgezogen ab November – in Höhe von sieben Prozent vor. Das läge knapp über der derzeitigen jährlichen Teuerungsrate. Tatsächlich täuscht dieser in den Medien erweckte Eindruck jedoch, denn das Angebot ist komplexer: Garantiert würden demnach den abhängig Beschäftigten nur fünf Prozent allgemeiner Lohn- oder Gehaltserhöhung – diese läge also unterhalb der Inflationsrate – zuzüglich zwei Prozent individueller Zulage, die je nach Leistungsbeurteilung gewährt oder auch verweigert werden kann. Bei den höheren und leitenden Angestellten betragen die beiden Werte allerdings 3,5 Prozent für die allgemeine und 3,5 Prozent für die individuelle Erhöhung.

Die CGT sprach daraufhin von einer »Farce« und kündigte die Fortsetzung des Streiks, aber auch seine Ausweitung auf andere Bereiche an. An Dienstag sollten nunmehr branchenübergreifend Arbeitskämpfe stattfinden, die insbesondere die Transportbetriebe und öffentlichen Dienste betreffen dürften. Bereits in den Tagen zuvor fanden verschiedene Lohnstreiks statt, im Laufe der vergangenen Woche unter anderem im Wartungsbetrieb von bislang fünf derzeit stillliegenden französischen Atomkraftwerken, am Pariser Odéon-Theater und am Standort Rennes des Automobilproduzenten Stellantis, der unter anderem die Marken Fiat, Renault und Opel besitzt.

Die Ausweitung der Streiks gilt auch als Antwort der CGT auf die strafbewehrten Dienstverpflichtungen, da diese die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften untergraben. Die CGT rief vorige und diese Woche Verwaltungsgerichte in Eilklagen gegen die derzeit ausgesprochenen Dienstverpflichtungen an. In den ersten beiden Fällen, in denen bereits Entscheidungen vorliegen, lehnten die zuständigen Verwaltungsgerichte die Anträge jedoch ab.

Die Befolgung des Streikaufrufs fiel im Laufe dieses Dienstags eher durchwachsen aus. Zwar fielen im Großraum Paris viele Vorortzüge und Busse aus. Die Métro-Züge verkehrten jedoch in den eher innerstädtischen Bereichen weitgehend normal. Seit dem ausgedehnten Herbststreik von 1995, in dessen Verlauf dreieinhalb Wochen lang keinerlei Züge und Busse verkehrten, haben die Verkehrsbetriebe organisatorisch dazugelernt. Zunächst auf zwei, seit September auf drei Pariser Métro-Linien verkehren inzwischen fahrerlose Züge, die wesentlich weniger für Arbeitskämpfe anfällig sind, da eine kleine Anzahl von Beschäftigten in technischen Büros für ihren Betrieb genügt.

Bei der Bahngesellschaft SNCF fiel auf vielen Regionallinien rund die Hälfte der Zugverbindungen aus, auf den wesentlich lukrativeren interna­tionalen Linien kam es jedoch kaum zu Ausfällen. Das Unternehmen hatte sich vorbereitet, um die Streikfolgen zu mindern, doch sollte der Streik im Laufe der Woche fortgeführt werden, könnte dies nach ein paar Tagen schwieriger werden. Von Anfang an rief die linksalternative Basisgewerkschaft Sud Rail dazu auf, in Vollversammlungen des Personals allabendlich über eine Einstellung oder Fortsetzung des Streiks abzustimmen, auch Teile der CGT sind dafür.

Mehrere Atomkraftwerke waren ebenfalls vom Streik betroffen, drei allein am nordfranzösischen Standort Gravelines, wo zwei Reaktoren heruntergefahren werden mussten und ein dritter, der zu Wartungszwecken stillliegt, wohl später als bislang geplant wieder ans Netz gehen wird. An den Schulen und anderen Lehranstalten waren insgesamt nur geringe Streikfolgen zu verzeichnen, mit Ausnahme der Berufsschulen, an denen sich die Lehrkräfte gegen eine geplante Reform stemmen, die unter anderem längere Ausbildungszeiten in Unternehmen statt in den Schulen vorsieht. In Paris fanden an manchen Schulgebäuden, etwa am Vormittag im 20. Bezirk, Blockaden oder Blockadeversuche von Schülerinnen und Schülern statt. Eine Oberschule wurde infolge dessen ­geschlossen, an neun war der Unterrichtsablauf gestört.

Allerdings hat die derzeitige Streikbewegung mit einer starken Stimmungsmache in den Medien gegen ihre Arbeitskämpfe – wenngleich nicht ­gegen das Anliegen von Lohnerhöhungen an sich – zu tun, die in der öffent­lichen Meinung möglicherweise verfängt. Eine erste demoskopische Erhebung des Instituts Elabe für den wirtschaftsliberalen Sender BFM TV soll – der Darstellung seiner Auftraggeber zufolge – ein Abbröckeln der Unter­stützung zeigen. Elabe zufolge äußerten sich demnach zu Wochenbeginn 48 Prozent der Befragten negativ zur laufenden Streikbewegung – acht Prozentpunkte mehr als fünf Tage zuvor –, 40 Prozent positiv, zwei Prozentpunkte weniger als zuvor. Unter den im aktiven Erwerbsleben stehenden Beschäftigten kehren sich die Verhältnisse allerdings um. Der Institutsleiter Bernard Sananès sagte in einer Sendung im Frühstücksfernsehen, die Verschiebungen ergäben sich vor allem daraus, dass bei »der Wählerschaft von Marine Le Pen und den Mittelklassen« sowie den auf das Auto angewiesenen Einpendlern in die Ballungsräume Sympathie in Antipathie umschlage.

Der Sender, dem Sananès seine Umfrage verkauft hatte und bei dem er sich äußerte, lässt ansonsten tagein tagaus frustrierte Autofahrer aus den Warteschlangen an den Tankstellen zu Wort kommen. Einige von ihnen faseln inzwischen von »Geiselnahme« durch die Streikenden – wenn die Wartenden sich nicht miteinander prügeln, was mittlerweile häufiger vorkommt.

Nicht direkt im Zusammenhang mit den derzeitigen Arbeitskämpfen stand am Samstag eine Demonstration von mehreren Zehntausend Menschen durch Paris, die dennoch auf die Streiks Bezug nahm. Das Innenministerium sprach von 30 000 Teilnehmenden, die Veranstalter von 140 000; 60 000 dürften realistisch sein. Unter dem Motto »Gegen das teure Leben und klimapolitische Untätigkeit« hatte zunächst die linkspopulistische Wahlplattform La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich) unter Jean-Luc Mélenchon aufgerufen; ihr schlossen sich weitere linke Organisationen, Umweltgruppen und auch Gewerkschaftsmitglieder an.

Die Gewerkschaften als solche mochten jedoch nicht als Aufrufer firmieren. Mélenchon kommt ursprünglich aus dem sozialdemokratischen Establishment und fungierte von 2000 bis 2002 als Berufsschulminister, heut­zutage ist er mit Verbalradikalität um politische Profilierung bemüht. Am Dienstagmittag sprach er auf einer Streikversammlung von Eisenbahnern am Bahnhof Paris-Gare de Lyon. Dort kündigte er ein »1968 auf Raten« an.