»Eine schwerwiegende Form von Gewalt«
Zu welchen Ergebnissen ist Ihre Dunkelzifferschätzung gekommen?
In Deutschland leben nach der aktuellen Dunkelzifferschätzung zu weiblicher Genitalverstümmelung bis zu 103 947 betroffene Mädchen und Frauen, bis zu 17 271 Mädchen sind hierzulande potentiell gefährdet.
Auf welche Daten stützen Sie sich bei Ihren Berechnungen?
Die Daten zu den hier lebenden Mädchen und Frauen beruhen auf Angaben des Statistischen Bundesamts. Für die Schätzung der Zahl der Betroffenen werden die in den Herkunftsländern erhobenen Prävalenzdaten auf die nach Deutschland eingewanderten Frauen und Mädchen übertragen. Frauen und Mädchen ohne Papiere oder mit deutscher Staatsangehörigkeit konnten in der Schätzung nicht berücksichtigt werden. Die Prävalenzdaten für 29 der 31 gelisteten Herkunftsländer stammen aus Unicef-Berechnungen. Weibliche Genitalverstümmelung wird aber darüber hinaus in vielen weiteren Regionen dieser Welt praktiziert, aus denen keine repräsentativen Daten vorhanden sind. Die tatsächlichen Zahlen könnten daher auch noch höher liegen.
Welche Möglichkeiten haben Betroffene in Deutschland, Unterstützung zu finden?
In Berlin gibt es zum Beispiel die »Berliner Koordinierungsstelle gegen FGM_C« (Abkürzung für female genital mutilation/cutting, Anm. d. Red.), die fachübergreifende Angebote für verschiedene Zielgruppen macht. TdF ist Teil davon und arbeitet mit erfahrenen Multiplikatorinnen aus Diaspora-Communitys zusammen, die wichtige Aufklärungs- und Präventionsarbeit leisten. Auf unserer Website gibt es außerdem eine Liste auf Deutsch und auf Englisch mit bundesweiten Ansprechpartnerinnen zu medizinischen, juristischen und sozialen Leistungen bezüglich weiblicher Genitalverstümmelung.
Welche Forderungen ergeben sich für Sie aus diesen Zahlen?
Wir fordern eine verbesserte und umfassendere Datenlage, deutschland- und weltweit. Es braucht darüber hinaus einen koordinierten und umfassend finanzierten nationalen und ganzheitlichen Aktionsplan, Fach- und Beratungsstellen in ganz Deutschland, bundesweite Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit an Schulen und in betroffenen Diaspora-Communitys. Gefährdete und Betroffene müssen wissen, wo sie Hilfe und Unterstützung erhalten, und alle Fachkräfte, die mit potentiell Betroffenen oder Gefährdeten in Kontakt kommen können, müssen dafür ausreichend geschult und sensibilisiert sein.
Wenn Frauen und Mädchen von weiblicher Genitalverstümmelung bedroht sind – das schließt bei anhaltender Gefährdungslage im Herkunftsland auch bereits betroffene Frauen und Mädchen ein –, muss das konsequent als geschlechtsspezifische Verfolgung im Rahmen von Asylverfahren anerkannt und die Kosten für psychische wie physische Behandlungen müssen unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Betreffenden übernommen werden. Wir müssen weibliche Genitalverstümmelung weltweit ächten und abschaffen. Auch heutzutage gibt es noch Länder, in denen weibliche Genitalverstümmelung nicht ausdrücklich verboten ist. Sie ist und bleibt jedoch eine Menschenrechtsverletzung und eine schwerwiegende Form von Gewalt an Mädchen und Frauen.