Zu Besuch bei kritischen Zeitungsredaktionen in der Türkei

299 Jahre Haft

In der Türkei steht es schlecht um die Presse- und Meinungsfreiheit. Das Ausmaß der Verfolgung belegt eine neue Studie der Media Law Study Association (MLSA). Doch neben Angst und Selbstzensur prägen auch Trotz und Hoffnung den Journalismus.
Reportage Von

Sami Menteş dreht sich weg. Sein Blick, der zwischen hängenden Lidern und dunklen Augenringen gerade noch so hervordringt, fällt auf den İsmet-İnönü-Boulevard. Die vielbefahrene Straße am Istanbuler Taksim-Platz trägt den Namen des ersten Ministerpräsidenten der Türkei. Er war Mitglied der bürgerlich-kemalistischen Partei CHP. Dass die Redaktion des CHP-nahen Nachrichtenportals Gerçek Gündem, bei dem Menteş arbeitet, ­gerade an diese Adresse gezogen ist, sei aber Zufall, sagt er.

Einen Block weiter, in einem kleinen Bistro, diskutieren Menteş und sein Team nach Redaktionsschluss oft lebhaft über die Nachrichten des Tages. Anders an diesem Oktoberabend. Sie sind auf seine Strafe zu sprechen gekommen. »Drei Jahre Gefängnis«, sagt er. Stille. Wie aus Solidarität mit dem Kollegen, dessen journalistische Stimme bald verstummen könnte, spricht einige Sekunden lang niemand am Tisch ein Wort.

»Sami, sei nicht traurig! Wenn wir genauso gut arbeiten wie du, siehst du uns bald wieder«, scherzt eine Kollegin zynisch: »Also im Knast.«

Dann steht einer auf, neue Drinks holen. Ein anderer streicht Menteş sanft über die Schulter. Der Zusammenhalt ist stark, alle hier wissen: Sie selbst könnten als Nächstes dran sein. »Sami, sei nicht traurig! Wenn wir ­genauso gut arbeiten wie du, siehst du uns bald wieder«, scherzt eine Kollegin zynisch: »Also im Knast.« In diesem Moment ahnt noch niemand, welche Hiobsbotschaft das Team schon am nächsten Morgen ereilen wird.

Menteş presst ein Lächeln auf sein Gesicht. Es wirkt schmaler als auf den Fotos, die im Internet von dem 31jährigen Mann mit Tunnelohrring und frechem Blick kursieren. »Wird schon, ich kenne das ja«, sagt er. Schon einmal saß er fast ein Jahr lang hinter Gittern. Zum ersten Mal war Menteş im Jahr 2013 an seinem 22. Geburtstag verhaftet worden, was ihn damals zum weltweit jüngsten inhaftierten Journalisten machte.

Begleitet wurde die juristische Verfolgung damals von medialer Hetze gegen den Journalisten. Propagandablätter wie die islamistisch-rechtsextreme ­Tageszeitung Yeni Akit veröffentlichten Fotos von Menteş, rückten ihn in die Nähe von Bombenattentaten.

Diesen Juni wurde er dann wegen einer Recherche, die Jahre her ist, verurteilt. Damals ging es um einen Sui­zid. Vieles deutete jedoch auf einen politischen Mord hin. Also befragte der Journalist Anwält:innen, die sich damit auskannten. Diese unterstützen in anderen Fällen auch linke Oppositionelle. Daraufhin konstruierte die Staatsanwaltschaft den Vorwurf, Menteş sei Mitglied einer terroristischen Vereinigung. Was zu absurd klingt, um wahr zu sein, gehört im autoritären Regime unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum Alltag.

446 Prozesstermine gegen 1 398 Angeklagte

Mindestens 318 Medienschaffende standen in der Türkei allein von 1. September 2021 bis 20. Juli dieses Jahres vor Gericht. Das geht aus einem neuen Bericht der in Istanbul ansässigen Media and Law Studies Association (MLSA) hervor, der zu Beginn dieser Woche erschienen ist. Insgesamt 446 Anhörungen in 210 Verfahren gegen 1 398 Angeklagte in 23 verschiedenen Städten ­beobachtete die Nichtregierungsorganisation in den Bereichen Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Und wie viele Verfahren strengt das Regime wirklich an? »Das würden der Europarat und wir auch gerne wissen«, lacht Murat Kök, Autor des Berichts. »Doch wie so oft verweigern die Behörden der Öffentlichkeit diese Auskunft.« Bei einem Kaffee zwischen zwei Prozessterminen nimmt sich der Politikwissenschaftler Zeit für ein Gespräch.

»299 Jahre, zwei Monate und 24 Tage hinter Gittern. Das ist der Preis für die freie Rede«, addiert Kök die Haftstrafen, die im Berichtszeitraum gegen 67 Angeklagte verhängt wurden. »Das ist ein dramatischer Anstieg«, betont der ­Experte. 73 Haftjahre waren es im vorangegangenen Monitoring von 230 Verfahren gewesen. Auch die Freisprüche hätten neuerdings zugenommen. Oft fehlten Beweise. Doch aufgrund mangelnder Rechtsstaatlichkeit in der Türkei ist das für Kök kein Grund zur Freude: »Die meisten Verfahren sind so lächerlich, sie dürften gar nicht erst eröffnet werden.«

In der größten Zahl der Prozesse, nämlich in 38 Prozent, ging es um »Terrorismus«. 143 Medienschaffenden wurde MLSA zufolge »Propaganda für eine terroristische Vereinigung« vorgeworfen. »Unabhängig von ihrer eigenen Herkunft oder politischen Einstellungen trifft das am häufigsten Jour­nalist­:innen, die aus den kurdischen Gebieten berichten – sei es in der ­Türkei, sei es in Syrien«, so Kök. Diesen Sommer wurden ein Dutzend kur­discher Journalisten zunächst ohne Anklage verhaftet, Ende Oktober wei­tere elf.

»Sie zahlen von allen den höchsten Preis, um die Öffentlichkeit zu informieren«, bilanziert Kök und erklärt den Grund anhand eines Beispiels: »Ein:e Journalist:in, der oder die zeigt, wie türkische Militärpanzer mehrere Kinder töten, stört die Herrschenden eben.« Dann muss der Politikwissenschaftler los, rüber in den sogenannten Justiz­palast von Çağlayan. Das Gebäude vom Ausmaß eines Fußballstadions liegt fünf Kilometer nördlich des Taksim-Platzes. Außen monströs, innen kafkaesk steht es vor allem für eines: Herrschaft.

Wie die »Umarmung eines großen starken Bären« sei der neue Umgang des Regimes mit ausländischer Presse. »Wir werden ganz lieb umarmt – und dabei festgehalten,« sagt ein spanischer Reporter.

Das Repertoire der Repression

Seine Herrschaft erhält das Erdoğan-Regime mit vielerlei Tricks aufrecht. Zum Repertoire gegen die Presse gehört auch heftige Polizeigewalt, vor allem bei Versammlungen. Besonderes Aufsehen erregte der Pride-Marsch im Juni Istanbul, bei dem Dutzende Medienschaffende festgenommen wurden. Zugenommen haben auch nationa­listische Attacken – verbaler und physischer Natur.

Zu spüren bekam das im August beispielsweise die Bürgerjournalistin Ebru Uzun Oruç, als sie für ihren Youtube-Kanal Passanten befragte, was diese von Devlet Bahçeli hielten, dem Vorsitzenden der ultranationalistischen Partei MHP, die mit Erdoğans AKP regiert. Daraufhin griffen Bewaffnete Oruç und ihren Partner an, die beiden konnten gerade noch rechtzeitig fliehen.

Auch intern scheint es bei vielen Medien schlecht um die Pressefreiheit zu stehen. So sagt eine Mitarbeiterin eines großen türkischen Fernsehsenders aus Sorge vor negativen Konsequenzen für ihr Team das für diese Reportage vereinbarte Interview kurzfristig ab.

Hinzu kommt ökonomischer Druck, insbesondere auf kleinere, unabhängige und linke Medien wie die Tageszeitung Evrensel. Ihr wird seit Monaten die Förderung verweigert, die normalerweise eine staatliche Behörde an Medien vergibt. Inflation und steigende Papierpreise tun ihr Übriges.

Ein Angriff jagt den nächsten

Menteş hat im Interviewzimmer der Gerçek Gündem-Redaktion Platz genommen. Die vier Quadratmeter sind mit einem Tisch, vier Stühlen und ­einem Aschenbecher ungefähr so spärlich eingerichtet wie eine Gefängniszelle. Immerhin, der Blick kann weiter schweifen: auf den rotbeflaggten Taksim-Platz.

»Unserem Land stehen düstere Zeiten bevor«, sagt Menteş. Es dauert eine ­Weile, bis der Journalist sich dazu durchringen kann, über sich selbst zu sprechen. »Ich bin immer noch wütend … und nervös«, sagt er dann. Lange wurde das Telefon des Journalisten abgehört. »Obwohl das später als illegal eingestuft wurde und der verantwortliche ­Polizist sogar eine Strafe erhalten hat, nutzte das Gericht die Aufnahmen als Beweismittel«, berichtet Menteş.

Gegen das Urteil hat er Rechtsmittel eingelegt. Mit der letztinstanzlichen Entscheidung in dem bereits rund zehn Jahre andauernden Prozess rechnet er im Laufe der nächsten Monate. Für den Fall seiner Inhaftierung hofft der Journalist auf die Wahlen im Juni kommenden Jahres. Unter einer neuen Regierung, in einer anderen Türkei würde sein Fall vielleicht neu aufgerollt werden – und er wieder freigelassen.

Noch bevor Menteş zu Ende erzählt hat, platzt die nächste Nachricht herein. Nun hat es auch seine beiden Kollegen Faruk Eren und Furkan Karabay erwischt: »Zwei Jahre und drei Monate Haft.« Karabay hatte über die kriminellen Machenschaften eines Staatsanwalts recherchiert. Prompt wurde ihm und seinem Chef Faruk Eren vorgeworfen, »einen Amtsträger beleidigt« zu haben. Anklagen dieser Art sind der MLSA-Studie zufolge die zweithäufigsten, gleich nach »Terrorismus«-Verfahren. Sie machen 14 Prozent aus. Mehr als die Hälfte von ihnen richteten sich gegen Medienleute.

Das Besondere an diesem Fall: »Das Urteil wurde nur neun Tage nach der Eröffnung des Verfahrens verkündet«, erklärt Verteidigerin Tora Pekin. Normalerweise müssen Journalist:innen länger schmoren. »Die Richter haben sich beeilt«, vermutet Karabay, »weil es um einen ihrer Kollegen ging.« Soli­darität herrscht in der Türkei wohl nicht nur unter Medienschaffenden.

Das neue »Zensurgesetz«

In der gleichen Woche Mitte Oktober hat das Parlament das sogenannte Desinformationsgesetz durchgewinkt. Es ermöglicht für jegliche regierungs­kritischen Beiträge im Internet Haftstrafen bis zu drei Jahren. »Die Türkei wird allmählich in die Dunkelheit gezogen. Während Journalist:innen trotz aller Arten von Druck versuchen, so viel Licht wie möglich in dieses Dunkel zu bringen, kommen immer neue Gesetze«, kommentiert der linke Gewerkschaftsverband DİSK die Entwicklung. Einer der ersten, auf die das neue Gesetz angewandt wurde, war der CHP-Vor­sitzende Kemal Kılıçdaroğlu.

»Für uns Journalisten ist das nichts Neues«, kommentiert Menteş müde. Urteile wie die gegen ihn, Eren und Karabay seien schließlich schon vorher möglich gewesen. Auch andere Experten sprechen deshalb von einer »Lega­lisierung des Status quo«. »Ich werde jedenfalls nichts anders machen«, schwört der Redakteur.

Kein Journalist gibt gern zu, sich selbst zu zensieren. »Die Gefahr steigt mit dem neuen Gesetz allemal«, prophezeit Elif Ilgaz, Führungskraft bei der linken Tageszeitung Birgün. Ein Beispiel? Schon jetzt schreiben viele vorsichtshalber bloß von »Polizeieinsätzen« (polis müdahalesi), selbst wenn es sich eindeutig um »Angriffe der Polizei« (polis saldırıları) handele.

Ilgaz, Eren, Menteş und die anderen sind sich einig: »Das ›Zensurgesetz‹ muss zurückgenommen werden.« Für den Fall, dass jemand für einen Social-Media-Post angeklagt wird, ruft die für Medien zuständige Gewerkschaft DİSK Basın-İş dazu auf, diesen Beitrag unter dem Hashtag #SusmakYok (Kein Verstummen) massenhaft zu teilen. »Wir werden nicht verstummen«, titelte mutig auch die Tageszeitung Birgün.

Auf die Frage, welche Unterstützung sie sich von außen wünschen, geben alle dieselbe Antwort: Deutschland und die EU müssten endlich Druck auf die Türkei ausüben, diese antidemokratischen Methoden aufzugeben. Doch das passiere leider nicht. Stattdessen lasse sich der Westen, nur weil er keine Geflüchteten mehr aufnehmen wolle, seit Jahren von Erdoğan erpressen.

Damit ist für die Journalisten alles gesagt. Nach dem Zehnstundentag, wie er bei Gerçek Gündem an fünf Tagen pro Woche normal ist, schalten die Redakteure ihre riesigen Bildschirme aus. Zusammen machen sie sich auf den Weg zu einem Jazzkonzert. »Solange das noch möglich ist … «, sagt Menteş und winkt freundlich, bevor er mit seinen Kollegen in der Dunkelheit hinter dem Taksim-Platz verschwindet.

Die Bärenumarmung

Bessere Stimmung herrscht auf einer Terrasse im hippen Viertel Cihangir, rund fünf Minuten südlich des Taksim-Platzes. »Na, wie war’s auf dem Getreidefrachter aus der Ukraine?« – »Wurde deine Aufenthaltserlaubnis endlich erteilt?« – »Suchst du noch einen Fixer in Idlib?« Zwischen Feigenbäumen, Longdrinks und Elektrobeats schwirren die Stimmen von 40 Journalist:innen aus zehn Ländern. Darunter sind eine US-amerikanische Agenturjournalistin, eine italienische Fernsehproduzentin, ein kurdischer Kameramann. Sie alle arbeiten für ausländische Medien in der Türkei.

Festgenommen, verhaftet oder angeklagt wurden auch die meisten von ihnen schon einmal. »Insgesamt haben sie es aber etwas besser als diejenigen, die für hiesige Medien arbeiten«, sagt Arzu Geybulla. Die 39jährige, die aus Aserbaidschan stammt, gründete und leitet die Foreign Media Association (FMA). Alle zwei Monate veranstaltet der Verband diesen Stammtisch.

»Das Schlimmste, was ausländischen Medienschaffenden derzeit in der Türkei passiert, ist, deportiert zu werden«, sagt Arzu Geybulla von der FMA. Im vergangenen Jahr erlebte dies etwa der syrische Journalist Majed Shamal von der in Dubai ansässigen Mediengruppe Orient News. Evangelos Areteos wurde nach 23 Jahren journalistischer Tätigkeit in der Türkei – ohne irgendein Fehlverhalten – nach Griechenland ausgewiesen.

»Wir wollen, dass sich die internationale Presse in der Türkei zu 100 Prozent wohlfühlt«, ließ hingegen ein hochrangiger Beamter kürzlich verlauten. »Wohlfühlen« kann sich eine Journalistin aus dem Baltikum zurzeit nicht. Denn neulich stand die Polizei vor ihrer Tür. Sie war nicht zu Hause. War das eine der vielen Razzien, die die türkische Polizei derzeit bei Ausländer:innen durchführt? Oder war sie als Journalistin gemeint? Die Unsicherheit ist groß, nicht nur bei ihr.

Mit einer »Umarmung eines großen starken Bären« vergleicht ein spanischer Reporter den neuen Umgang des Regimes mit der ausländischen Presse. »Wir werden ganz lieb umarmt – und dabei festgehalten.« Die »Charme­offensive« passt zu Erdoğans außenpolitischer Strategie. Ob sie tatsächlich auch etwas Positives mit sich bringt? Gelangweilt zieht der Journalist eine Augenbraue hoch. Er könne nicht bestätigen, dass sich die Situation verbessert habe. So seien zum Beispiel Interviews mit hochrangigen Mitgliedern der kurdischen Bewegung, wie er sie um die Jahre 2013, 2014 herum noch führen konnte, heutzutage undenkbar.

»Erfreulich« findet der Korrespondent, der auch unter den niedrigen Honoraren in seinem Herkunftsland leidet, dass er und seine Kolleg:innen heute wieder leichter an die vorgeschriebene Pressekarte komme. Diese Arbeitserlaubnis diente lange als Waffe der Bürokratie gegen die freie Presse.

In den Jahren nach dem Putschversuch 2016 und der Verhaftungswelle, auch gegen Korrespondenten wie ­Deniz Yücel, hatten Behörden sie massenhaft verweigert. Derzeit passiert das eher einheimischen Journalist:innen. Besonders grotesk ist der Fall von Tuğrul Eryılmaz: Seit 60 Jahren arbeitet er für Medien wie Radikal oder T24 – dennoch wurde sein jüngster Antrag auf Verlängerung der Pressekarte ab­gelehnt.

Während eine linke Journalistin aus Deutschland berichtet, dass sie in der Türkei auch ohne Pressekarte zurechtkomme, findet der ARD-Hörfunkkor­respondent Uwe Lueb: »Aktuelle Berichterstattung kann man hier ohne die Pressekarte fast nicht machen.« Er wünscht sich zudem weniger »bürokratischen Aufwand« für die Aufenthalts­erlaubnis und »mehr Fragerecht bei Pressekonferenzen«.

»Man bekommt keine Auskünfte von Behörden, außer man kennt dort jemanden«, betont ein Fernsehjournalist. Zum Drehen braucht man zudem Genehmigungen. Neben all diesen täglichen Hindernissen für die Pressefreiheit blockiert das Regime immer wieder ganze Sender, zensiert Websites oder verhängt Nachrichtensperren – wie nach dem Anschlag auf der Einkaufsstraße İstiklal vom 13. November.

»Im nächsten Jahr wird sich unsere Lage verschlechtern«, prognostiziert eine US-amerikanische Agenturjournalistin. Auch ihr Name soll nicht genannt werden. »Weil ich noch etwas hierbleiben möchte«, sagt sie. Warum eigentlich, wenn alles so schlimm ist? Sie überlegt. Der spanische Reporter wirft ein: »Uns alle verbindet mit der Türkei eine tiefe Hassliebe.«