Saber Jaihoon, Menschenrechtler, über die Unterdrückung in Afghanistan

»Die Taliban töten und die Welt schaut weg«

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 mussten viele Afghaninnen und Afghanen untertauchen. Zu ihnen gehört der 34jährige Schulmanager und Menschenrechtler Saber Jaihoon, sein Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert. Er spricht über die Verdrängung der Frauen aus dem öffentlichen Leben, die Verfolgung von Minderheiten und Versuche, Widerstand zu leisten.
Interview Von

Wie hat sich Ihr Leben seit der Machtübernahme der Taliban geändert?

Meine Frau und ich befinden uns in einer sehr schlimmen Situation. Als die Taliban im August 2021 gewaltsam die Macht übernommen haben, sind wir aus unserem Haus geflohen. Wir leben in einem Versteck. Es ist schwer auszuhalten, so zu leben und das Haus nicht ohne Vorsichtsmaßnahmen verlassen zu können. Wir haben zu wenig zu essen, es ist extrem kalt und wir können nicht richtig heizen; unsere finanziellen Ressourcen sind auf­gebraucht. So geht es vielen im Land. Leider verschlechtert sich unsere pri­vate Lage und auch die politische Lage von Tag zu Tag.
Was haben Sie vor dem August 2021 gemacht?

»Wir brauchen die westliche Auf­merksam­keit und Hilfe, um diese Terrorgruppe zu beseitigen. Sonst bringt die Zukunft uns nur weitere Massaker.«

Bevor die Taliban an die Macht kamen, habe ich erst studiert und dann im Bildungsministerium in meiner Provinz gearbeitet. Ich habe Seminare gegeben und versucht, mich weiterzubilden. Ich habe einen Bachelor-Abschluss in Rechts- und Politikwissenschaft und wollte weiter studieren, aber es gab keinen passenden Master- und PhD-Studiengang in Afghanistan. Die meiste Energie habe ich allerdings darauf verwendet, mich politisch zu engagieren. Ich wollte etwas für die Menschenrechte und gegen die Armut tun, und gegen die Korruption, die Ursache der Armut ist.

Was konnten Sie dagegen tun?

Es gab Korruption auf allen Ebenen. Nicht nur Präsident Ashraf Ghani ­(amtierte von 2014 bis zu seiner Flucht vor den Taliban im August 2021, Anm. d. Red.) steckte sich Millionen in die Tasche, auch die lokalen Regierungen bedienten sich. Eigentlich kam sehr viel Geld für den Aufbau von Schulen in unsere Region. Aber die Schulen wurden nicht gebaut, die Gelder versickerten in korrupten Kanälen. Ich habe mit anderen Akteuren aus der Zivilgesellschaft daran gearbeitet, diese Gelder aufzuspüren. Wir haben protestiert und in den lokalen Medien über die Korruption berichtet. Die örtliche Regierung hat sehr empfindlich auf den Druck reagiert, wir konnten einige beteiligte Organisationen und Geschäftsleute zwingen, Schulen und auch soziale Wohnprojekte tatsächlich bauen zu lassen.

Wann bekamen Sie Probleme mit den Taliban?

Ich habe mich in meiner Arbeit immer für Demokratie und Frauenrechte eingesetzt und war deshalb den Taliban ein Dorn im Auge. Seit 2018 wurden sie immer stärker. Sie setzten Menschen unter Druck, drohten mit Gewalt und erpressten so Geld. Ich habe das öffentlich gemacht und protestiert. Zwischen 2019 und 2021 begannen sie, demokratische Kräfte systematisch auszuspionieren, auch in den Städten. Sie begannen, mir zu drohen, und fragten mich: Warum verbreiten Sie westliche Ideen? Warum sprechen Sie über Frauenrechte? Mir wurde vorgeworfen, ich würde mich mit Ungläubigen und Christen verbünden, das sollte mich einschüchtern. Ich habe mich aber nicht einschüchtern lassen.

Wie reagierten die Taliban?

Die Drohungen wurden schlimmer. Ich erhielt Nachrichten, dass ich gefangengenommen und getötet werden würde. Anfang 2020 wurde ich auf der Straße zwischen Kabul und Mazar-i-Sharif von den Taliban entführt; sie kontrollierten die Straße. Von der Regierung Ghani war in solchen Fällen keine Hilfe zu erwarten. Die Taliban hielten mich einen Monat gefangen und folterten mich. Schließlich ließen sie mich gegen eine Summe von 200 000 Afghani frei (circa 2 000 Euro, Anm. d. Red.).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 war klar, dass ich untertauchen musste. Da die Taliban mich nicht finden konnten, verhafteten sie meinen Vater. Er war ein Grundschullehrer und teilte meine Meinung über die Taliban. Sie töteten ihn im Gefängnis. Das war sehr schlimm für mich. Es ist schrecklich, aber leider die Realität: Wer sich gegen die Taliban wendet, zahlt einen extrem hohen Preis.

Wie ist die Lage für die Frauen Ihrer Familie?

Für alle Frauen wird die Lage seit dem August 2021 immer schlechter. Inzwischen dürfen Mädchen nur noch sechs Jahre zur Schule gehen, Frauen dürfen nicht mehr studieren, sie können kaum noch arbeiten. Geschäfte, die Frauen gehörten, wurden geschlossen. Die Taliban sind sehr fanatisch, Frauen wird praktisch jede Teilnahme am öffentlichen Leben verboten. In meiner Region hat die lokale Abteilung des Ministeriums für »die Förderung von Tugenden und Verhinderung von Lastern«, wie das ehemalige Frauenministerium jetzt heißt, Frauen das Betreten von Parks, Sporthallen und öffentlichen Bädern untersagt. Frauen können aber auch nicht mehr zum Arzt gehen, weil sie nicht mit Männern sprechen dürfen. Das ist für alle Frauen eine Kata­strophe. Meine Frau hat bis zur Machtübernahme der Taliban studiert. Nun hat sie keine Perspektive mehr. Frauen, die sich wie sie für Frauenrechte und Freiheiten eingesetzt haben, sind in Gefahr, getötet zu werden.

Gibt es noch Proteste gegen die ­Taliban?

Derzeit finden in verschiedenen Provinzen Afghanistans noch immer Proteste statt, aber die Demonstrierenden werden auseinandergetrieben und viele werden verhaftet. Die meisten werden in den Taliban-Gefängnissen gefoltert, Frauen werden vergewaltigt. Ich habe mich immer für Frauenrechte eingesetzt, die meisten meiner Generation denken wie ich. Aber das alte und festgefahrene Denken der Taliban wird sich nie ändern, sie werden den Frauen ihre Rechte vorenthalten, solange sie es können. Die Zukunft der Frauen unter der Taliban-Regierung ist düster.

Eine Umfrage der Entwicklungsorganisation Asia Foundation aus dem Jahr 2019 zeigte, dass nur 13 Prozent der Bevölkerung die Taliban unterstützten. Warum können sie sich dennoch an der Macht halten?

Die Taliban haben nur sehr wenig Unterstützung, ich würde sogar sagen, es sind weniger als 13 Prozent. Aber sie werden aus dem Iran, aus Pakistan und Katar finanziell und militärisch unterstützt. Die Taliban herrschen mit Waffengewalt, wie die Mullahs im Iran. Mullahs und Taliban sind Brüder, beide Regimes sind frauenfeindlich, beide verhindern jegliche politische Freiheit und unterdrücken ihre Bevölkerung. Als die mutigen Frauen im Iran auf die Straßen gingen, hat mich das sehr ­gefreut. Ich hatte sofort das Bedürfnis, meine Unterstützung auszudrücken, und habe ein Video im Internet gepostet: Wir in Afghanistan sind solidarisch mit der Frauenbewegung und der Freiheitsbewegung im Iran.

Wie ist die Lage für Minderheiten in Afghanistan?

Die Taliban sind eine paschtunische Terrorgruppe. Sie nehmen auf andere ethnische Gruppen keinerlei Rücksicht. Gerade haben sie in Kabul begonnen, Häuser zu durchsuchen und Mobiltelefone zu überprüfen. Insbesondere für Angehörige der ethnischen Minderheiten, vor allem für Tadschiken, Hazara und Usbeken, wird es gefährlich. Die terroristischen Taliban suchen nach Vorwänden, die Leute einfach umzubringen.

Auf wen haben es die Taliban besonders abgesehen?

Es kann jeden treffen. Die Taliban entführen erfolgreiche Geschäftsleute, Fachärzte, Ingenieure, einflussreiche Leute und nehmen sie quasi als Geiseln. Sie verlangen viel Geld von den Familien. Wenn diese nicht zahlen können, werden die Entführten getötet. Die Taliban geben noch nicht einmal ihre Leichen heraus. Haben Sie von dem Arzt für Innere Medizin gehört, der jüngst getötet wurde? Nein, natürlich nicht. Die Taliban töten und die Welt schaut weg. Er war ein Freund von mir. Er wurde entführt, seine Familie bekam seinen Leichnam zurück. Wer begeht all diese Verbrechen? Die Taliban, eine Terrorgruppe, die vorgibt, eine Regierung zu sein.

Was erwarten Sie von der EU und von den westlichen Gesellschaften?

Wir in Afghanistan sind dankbar für die Hilfe der Europäischen Union und der westlichen Länder. Ich bitte sie, ­Afghanistan jetzt nicht allein zu lassen. Wir brauchen die westliche Aufmerksamkeit und Hilfe, um diese Terrorgruppe zu beseitigen, als Unterstützung im Kampf um die Rechte der Frauen, für die Bildung der Mädchen. Sonst bringt die Zukunft uns nur weitere Massaker.

Es gibt derzeit eine Debatte darüber, ob westliche Regierungen Afghanistan unterstützen sollten oder nicht. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) will, dass die Entwicklungshilfe eingestellt wird, bis die Taliban den Frauen Grundrechte gewähren. UN-Hilfsorganisationen fordern jedoch, Afghanistan weiter humanitär zu unterstützen, weil die Menschen sonst an Hunger und Kälte sterben.

Meiner Meinung nach wird westliche Hilfe die Menschen nicht erreichen, ­solange die Taliban an der Macht sind. Vor Ort bekommen wir mit, dass ein Großteil der Spenden nicht bei den Bedürftigen ankommt, sondern in den Taliban-Familien versickert. Wenn westliche Regierungen die Taliban schwächen wollen, sollten sie nicht Millionen Dollar pro Woche zahlen, die im End­effekt doch bei den Taliban landen. Meiner Meinung nach hat die Armut zwei Dimensionen: Es gibt interne, also strukturelle Faktoren und externe Faktoren. Zu den externen Faktoren zähle ich die Taliban. Sie sind hauptverantwortlich für den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch im Land. Kapital wurde aus Afghanistan abgezogen, sie erlauben den Frauen nicht zu arbeiten, internationale Organisationen haben ihre Tätigkeit eingestellt. Um die Armut zu bekämpfen, müssen zuerst die Taliban beseitigt werden. Dabei müssen die westlichen Regierungen uns helfen.