Die Aussagekraft der jüngsten polizeilichen Statistik ist begrenzt

Schock, Panik, Verbrechen

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat die Kriminalstatistik für 2022 vorgestellt. Die Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren.

Die »neuen Schock-Zahlen aus der Kriminalstatistik« wurden vorgestellt. So titelte zumindest Bild über die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2022. Diese hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zusammen mit dem Bundeskriminalamt (BKA) am 30. März präsentiert. Der Focus sprach von »alarmierenden Zahlen«.
In einer Pressemitteilung gab die Ministerin bekannt, die Anzahl der polizeilich registrierten Straftaten sei im Vergleich zum Vorjahr um 11,5 Prozent gestiegen. Im Vergleich zu 2019 betrage der Anstieg allerdings nur 3,5 Prozent. Langfristig geht die Kriminalität der PKS zufolge sogar zurück. 2012 wurden noch 5.997.040 Delikte erfasst – 2022 waren es nur noch 5.628.584.

Vor allem auf zwei Entwicklungen wurde bei der Vorstellung der neuen PKS hingewiesen: zum einen die auffällige Zunahme der Fallzahlen bei der Verbreitung, dem Erwerb, dem Besitz und der Herstellung jugendpornographischer (32,1 Prozent) und kinderpornographischer (7,4 Prozent) Schriften. Zum anderen seien mehr Straf­taten von Kindern (35,5 Prozent) und Jugendlichen (22,1 Prozent) begangen worden.

Die Zahlen der PKS sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren. Sie geben nicht an, wie viele Straftaten tatsächlich begangen oder auch nur von Gerichten abgeurteilt worden sind, sondern wie viele Straf­taten von der Polizei registriert und ausermittelt wurden. Sie sagen also vor ­allem etwas über die Tätigkeit der Polizei und nur mittelbar über die Häufigkeit krimineller Taten aus.

Der Anstieg bei der Kinder- und Jugendkriminalität erklärt sich teilweise mit dem Wegfall der pandemiebedingten Beschränkungen.

Diverse Faktoren beeinflussen die Statistik, die mit einer Zu- oder Abnahme krimineller Taten nur bedingt zu tun haben. Wie häufig und wegen welcher Delikte gehen bei der Polizei Anzeigen ein? Welche gesellschaftlichen Gruppen werden besonders häufig angezeigt? Wie viel Aufmerksamkeit wird bestimmten Delikten gewidmet? Welche Kapazitäten hat die Polizei, um Straftaten zu verfolgen, und wie priorisiert sie die Strafverfolgung bei knappen Ressourcen? Aber auch: Welche Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen haben Auswirkungen auf die Statistik, indem sie bestimmte Verhaltensweisen krimi­nalisieren oder entkriminalisieren?

So ist etwa der Anstieg bei Verbreitung, Erwerb und Besitz von kinderpornographischen Schriften weniger stark, als die PKS vermuten lässt. Zumindest teilweise lässt er sich durch eine veränderte Gesetzeslage erklären. Im Juli 2021 wurde der Paragraph 184b des Strafgesetzbuchs verschärft, der die Verbreitung, den Erwerb und den Besitz sogenannter kinderpornographischer Inhalte ahndet.

Eltern, die ihre Kinder im Urlaub beim Baden fotografieren; Jugendliche, die einander einvernehmlich per Whatsapp Nacktfotos schicken, oder auch die bloße Mitgliedschaft in einer Chatgruppe, in der solche Inhalte geteilt werden – all das ist seitdem strafbar. Werden diese Inhalte über US-amerikanische Dienste wie Facebook oder Instagram geteilt, geben diese die Informationen an das US-amerikanische National Center for Missing and Exploited Children weiter. Von dort erhält das BKA automatisch erstellte Hinweise auf deutsche Nutzer und muss die Fälle ahnden – auch wenn kein pädokrimineller Hintergrund vorliegt.

Den Anstieg der Zahlen bei der Kinder- und Jugendkriminalität wiederum erklärte der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, teilweise mit dem Wegfall der pandemiebedingten Beschränkungen. Solange diese bestanden, habe es wenige Tatgelegenheiten gegeben. Nachholeffekte seien mit Ende der Beschränkungen demnach erwartbar gewesen.

Einen Tag nach Veröffentlichung der neuen Zahlen kommentierte der AfD-Politiker Stephan Brandner mit einem sharepic auf Twitter: »Alarmierende Kriminalitätsstatistik: Immer jünger! Immer migrantischer! Immer mehr Messer!«

Eine weitere mögliche Erklärung für die auch im Vergleich zu 2019 erhöhten Fallzahlen könnten die psychischen Folgen der Covid-19-Pandemie sein.
Rechtsextreme nutzen derweil die Kriminalitätsstatistik für sich. So stellte die AfD bereits am 29. März einen sogenannten Einzelfallticker ins Netz. Die dazugehörige Pressemitteilung behauptete, man decke verschwiegene Gewaltkriminalität durch »Migranten« auf.

Tatsächlich enthält die interaktive Karte ein Sammelsurium aus Zeitungsberichten, polizeilichen Fahndungsaufrufen und Vorfällen, bei denen sowohl Täter als auch Geschädigte unbekannt sind. Einen Tag nach Veröffentlichung der neuen Kriminalstatistik kommentierte Stephan Brandner, ein Bundestagsabgeordneter der AfD, mit einem sharepic auf Twitter: »Alarmierende Kriminalitätsstatistik: Immer jünger! Immer migrantischer! Immer mehr Messer!«

Hier wird ein Zusammenhang hergestellt, der sich in den Daten nicht findet: junge migrantische Männer, die angeblich mit Messern auf autochthone Deutsche losgehen. Zahlen zum Einsatz von Messern werden allerdings erst seit 2021 in der Kriminalstatistik gesondert aufgeführt. Zuverlässige Angaben über ihre Häufigkeit in früheren Jahren sind deshalb nicht möglich.

Auch Daten über den Migrationshintergrund erhebt die PKS nicht und stellt somit auch keinen Zusammenhang zwischen diesem und dem Einsatz von Messern her. Sie führt lediglich nichtdeutsche Tatverdächtige gesondert auf, was jedoch auch Tourist:innen und andere Personengruppen umfasst. Zudem werden statistisch gesehen junge Männer häufiger straffällig als andere Gruppen; und die meisten Asylanträge werden von jungen Männern gestellt. Eine hohe Zahl an Straftaten in dieser Gruppe wäre statistisch gesehen also wenig verwunderlich.

Mit der neuen PKS Panik zu verbreiten, ist also in jeder Hinsicht unan­gemessen. Die Aussagekraft der Kriminalstatistik ist vor allem eines: begrenzt.