Bei Protesten im Senegal wurden mindestens 16 Menschen getötet

Autoritärer Präsident, dubioser Herausforderer

Nach einem Gerichtsurteil gegen den Oppositionspolitiker Ousmane Sonko kam es im Senegal zu Unruhen. Die Proteste richten sich auch gegen die wirtschaftliche Misere und eine dritte Amtszeit des Präsidenten Macky Sall.

Paris. Der Senegal gilt als Hort relativer Stabilität im westlichen Afrika. Zwar ist das küstenferne Hinterland weithin bitterarm und unterentwickelt. Doch in den Regionen am Atlantik heben die relativ stark ausgebaute Tourismusindustrie und die Überweisungen von Arbeitsmigranten an ihre Familien den durchschnittlichen Lebensstandard; diese Überweisungen machten kurz vor Beginn der Covid-19-Krise 2020, die für einen vorübergehenden Rückgang sorgte, immerhin 10,5 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts aus. Die relative Prosperität, verglichen mit umliegenden Ländern, ist jedoch sehr ungleich verteilt.

Seit dem 31. Mai erschüttern Unruhen das Land. Anlass war ein Prozess gegen einen Oppositionspolitiker, die Ursachen aber liegen auch in der Frustration relevanter Bevölkerungsgruppen über ihre schlechte soziale und ökonomische Lage. Den meisten Quellen zufolge starben 16 Menschen bei der Niederschlagung der teils militanten Proteste während der drei Tage der härtesten Konfrontation mit der Staatsgewalt Anfang Juni. Hingegen sprach Amnesty international am 8. Juni von mutmaßlich 23 Toten – unter ihnen drei Kinder – und forderte eine »unabhängige Untersuchung«. Das französische Forschungsinstitut Institut de relations internationales et stratégiques ging am 13. Juni von 21 Getöteten aus.

Zumindest mitverantwortlich für diese erschreckenden Zahlen scheinen nichtuniformierte Bewaffnete zu sein, die sich auf Pickup -Fahrzeugen befanden und bei den Protestversammlungen auftauchten ebenso wie die Polizei. Am 4. Juni präsentierte diese zunächst selbst entsprechende Videoaufnahmen. Bei einer Pressekonferenz sagte Polizeikommissar Mohamadou Gueye, auf diesen Aufnahmen seien keine friedlichen Demonstranten zu sehen. Auf einen Mann in einem roten Trikot zeigend, den man auf der Ladefläche eines Pickup beobachten konnte, fügte er hinzu: »In dieser Aufnahme sieht man einen Mann mit einer Kriegswaffe. Er weiß, was er tut, er beherrscht den Umgang mit seiner Waffe. Man sieht, dass er nicht da ist, um zu demonstrieren.«

Unverkennbar sind autoritäre Tendenzen unter der Herrschaft von Präsident Macky Sall.

Um friedliche Demonstranten handelte es sich bei den Männern in den Videos tatsächlich nicht. Gueye ordnete die Bewaffneten den Protestierenden zu, doch auf den Aufnahmen konnte man erkennen, wie sich die Pickups zusammen mit den Polizeifahrzeugen und in offenkundiger Koordinierung mit den staatlichen Ordnungskräften fortbewegten; weiteres Bildmaterial bestätigte die Kooperation. Die Propagandavorführung der Polizei bewirkte letztlich das Gegenteil, am Abend des 13. Juni sah sich die Regierung gezwungen, eine Untersuchung der Vorfälle anzukündigen.

Wer die tödlichen Einsätze von Bewaffneten in Zivilkleidung zu verantworten hat, ist noch unklar. Unverkennbar sind jedoch autoritäre Tendenzen unter der Herrschaft von Präsident Macky Sall. Das Internet im Senegal wurde während der Konfrontation Anfang Juni blockiert, ähnlich wie beispielsweise in Ägypten im Januar und Februar 2011. Dies machte die Nichtregierungsorganisation Netblocks am 1. Juni publik.

Drei senegalesische Intellektuelle, Mohamed Mbougar Sarr, Felwine Sarr und Boubacar Boris Diop, prangerten am 5. Juni gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP ein »autoritäres Abdriften von Präsident Sall« an. Dabei ging es auch um dessen Vorhaben, im kommenden Jahr für eine dritte Amtszeit von fünfjähriger Dauer zu kandidieren. Dies wird zwar durch die 2016 verabschiedete Verfassung des Landes verboten, sie beschränkt die Zahl aufeinanderfolgender Amtszeiten auf zwei, wie seit 2008 in Frankreich und seither in einer Reihe französischsprachiger afrikanischer Länder. Doch ähnlich wie bereits befreundete Präsidenten in Nachbarländern, etwa Alassane Ouattara in der Côte d’Ivoire und Alpha Condé in Guinea 2020 – den allerdings 2021 die Armee stürzte –, möchte Sall seinen eigenen Berechnungsmodus durchsetzen. Diesem zufolge gilt seine erste, noch siebenjährige Amtszeit von 2012 bis 2019 nicht, da die Verfassung erst in ihrem Verlauf geändert wurde.

Das Vorhaben Salls, noch einmal zu kandidieren, verkündeten seine Anhänger in den vergangenen Wochen auch explizit. »Wir sehen nicht, wer sonst antreten könnte« zur für den 25. Februar 2024 geplanten Präsidentschaftswahl, sagte Moussa Sow, der Vorsitzende der Jugendorganisation der Präsidentenpartei Alliance pour la république (APR). Gerechtfertigt wird Salls Anspruch vom französischen Juristen Guillaume Drago von der traditionell rechtslastigen Universität Paris-Panthéon-Assas. In einem am 24. März verfassten, Ende Mai von Le Figaro und Jeune Afrique öffentlich gemachten Gutachten kommt er zu dem Ergebnis: »Der derzeitige Staatspräsident, Herr Macky Sall, kann zur 2024 vorgesehenen Präsidentschaftswahl antreten.«

Dies sehen viele Menschen im Senegal anders. Viele senegalesische Jugendliche und auch ein Teil der wirtschaftlich abgehängten Bevölkerung setzen ihre Hoffnung in Ousmane Sonko, den Bürgermeister der im Süden des Landes gelegenen Stadt Ziguinchor und Vorsitzenden der Oppositionspartei Pastef (Senegalesische Patrioten für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit), der bei der Präsidentschaftswahl 2019 mit knapp 16 Prozent der Stimmen den dritten Platz belegte.

Der 48jährige Ousmane Sonko war vor zehn Jahren Steuerbeamter und deckte in dieser Funktion einige Korruptionsskandale auf. Er prangert in seinen Reden die Durchdringung des Landes durch das internationale Kapital und eine damit einhergehende Plünderung von Ressourcen an. Antikapitalist ist er freilich nicht, und eine einheimische Bourgeoisie, sofern nicht allzu korrupt, möchte er fördern.

Viele Jugendliche und auch ein Teil der wirtschaftlich abgehängten Bevölkerung setzen ihre Hoffnung in Ousmane Sonko. Er war vor zehn Jahren Steuerbeamter und deckte Korruptionsskandale auf.

Seit 2021 lief ein Strafverfahren wegen eines Vergewaltigungsvorwurfs gegen ihn. Erhoben wurde er von der Masseurin Adji Sarr, einer jungen Frau, die als Halbwaise in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen war. Ihre Anzeige wurde allerdings von einem Staranwalt aus Dakar formuliert. Erwiesen ist, dass Sonko in dem Salon »Sweet Beauté«, in dem Sarr beschäftigt war, ein und aus ging, angeblich, um sich wegen seiner Rückenschmerzen massieren zu lassen. Sarr gab in ihrer Strafanzeige zu Protokoll, Sonko habe sie dort zweimal vergewaltigt. Zeuginnen sagen allerdings aus, sie habe eine Kollegin weggeschickt, um mit Sonko allein zu sein; sie selbst gab an, massiert zu haben, ohne Unterwäsche zu tragen. Eine Zeugin äußerte, sie habe am Telefon gesagt: »Macht schnell, ich habe seine DNA.« Bezogen wird dies auf das Sperma des Oppositionspolitikers.

Sarr lebt wegen zahlreicher Morddrohungen unter Polizeischutz, Sonko hat sich mehrfach frauenverachtend geäußert, unter anderem sagte er: »Wenn ich vergewaltigen wollte, würde ich eine andere Frau nehmen als so eine Vogelscheuche mit Schlaganfall.« Er wohnte dem Prozess nicht bei, sondern versuchte, sich mit Anhängern im Rathaus von Ziguinchor zu verschanzen. Ihm drohte eine bis zu zehnjährige Haftstrafe. Das Gericht sprach ihn am 1. Juni von der Anklage der Vergewaltigung frei, jedoch wegen »Verführung von Minderjährigen« schuldig und verurteilte ihn deswegen zu zwei Jahren Haft. Von einer sofortigen Inhaftierung sahen die Behörden jedoch ab.

Das Urteil war der auslösende Funke für die Revolten. Viele Menschen in Senegal sahen in dem Prozess nur einen Versuch, einen Kandidaten auszuschalten, der es mit Macky Sall aufnehmen könnte. Senegalesische Frauenrechtsorganisationen befürchten einen Rückschlag im Kampf gegen sexuelle Gewalt. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Vorwürfe gegen Sonko ist allerdings der Verdacht einer politischen Instrumentalisierung nicht von der Hand zu weisen. Erst 2020 wurde Vergewaltigung gesetzlich von einem Vergehen zu einer schweren Straftat hochgestuft, weiterhin ist die strafrechtliche Verfolgung keineswegs die Regel; die Glaubwürdigkeit von Frauen vor Gericht hat der Prozess, und wie er in der Öffentlichkeit aufgenommen wurde, zusätzlich erschüttert.

Ein echter Hoffnungsträger ist Sonko also gewiss nicht, wohl aber in den Augen vieler Senegalesen mittlerweile eine Verkörperung der Opposition gegen Amtsinhaber Sall. Um die Lage zu beruhigen, dürfte die gegen Sonko verhängte Strafe zu hoch sein – um ihn auf längere Sicht auszuschalten, ist sie zu niedrig. Ousmane Sonko verliert damit allerdings die Möglichkeit, bei den kommenden Präsidentschaftswahlen 2024 zu kandidieren. Dennoch dürfte das Kräftemessen weitergehen. Die Koalition Yewwi askan wi (Das Volk befreien), ein vor den Kommunal- und Parlamentswahlen im vergangenen Jahr gebildeter, von Sonko geführter Zusammenschluss von Oppositionsparteien, rief am Samstag zu weiteren Demonstrationen auf.