Eine Lektion in Sachen Gender-Theorie und Swing-Tanz

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Follow You, Follow Me

»So macht man das also! DJ muss man sein, dann kommen die Frauen alle zu einem«, sagt Mel schnippisch. »Das werde ich auch mal versuchen.« Ich stehe hinter dem DJ-Pult in der Villa Neukölln. Der Laden ist voll. Mel ist am Abend mit dem Zug aus Düsseldorf angekommen und wird ein paar Tage bei uns wohnen.

Sie ist Swingtänzerin, aber sie führt nur, was die Ausnahme in der überwiegend am traditionellen Rollenschema orientierten Swingtanzszene ist. Zwar beherrschen immer mehr Tänzerinnen beide Parts, können also führen und folgen, aber die Tänzer sind meist ausschließlich aufs Führen festgelegt – die Männer und Mel!

Der Abend geht wie im Rausch an mir vorbei. Konzentriert reihe ich meine persönlichen Hit-Singles aneinander, immer wieder abwechselnd mit Neuerwerbungen und riskanteren Stilbrüchen, wie dem Bossa-Beat-Gitarren-Dixie »The Children’s Marching Song« der Village Stompers.

Sie nippt an ihrem Drink, mustert die Tanzfläche und beobachtet, wie die Frauen tanzen: »Am Liebsten sind mir Frauen, die etwas kleiner sind als ich. Aber das ist nur so ein Ideal. Eigentlich ist mir das egal. Oft sind ja größere oder fülligere Frauen auch total schnell und tragen sich selbst.« So wie alle Leader muss auch Mel sich bemühen, Frauen aufzufordern, sogar etwas mehr als die männlichen. Es gibt Tänzerinnen, die vermuten, Mel könne nicht genauso athletisch führen wie ein Mann.

»Das erledigt sich aber immer nach dem ersten Tanz«, meint Mel. Und schon ist sie wieder auf der Tanzfläche, macht ihre beschützenden Swingouts, die ich von ihr kenne. Ich erinnere mich, wie ich in Herräng, auf dem größten Swing Camp der Welt, mit ihr getanzt habe. Beziehungsweise sie mit mir. Und wie ich mich auf der großen, vollen Tanzfläche, auf der Hunderte mit großer Geschwindigkeit Swingouts drehten, als Follower bei ihr sicher fühlte.

Der Abend geht wie im Rausch an mir vorbei. Konzentriert reihe ich meine persönlichen Hit-Singles aneinander, immer wieder abwechselnd mit Neuerwerbungen und riskanteren Stilbrüchen, wie dem Bossa-Beat-Gitarren-Dixie »The Children’s Marching Song« der Village Stompers. Alles klappt gut und um ein Uhr ist der Tanzabend auch schon beendet. Ich fühle mich so gut, dass ich sogar vergesse, mein DJ-Honorar abzuholen.

Am nächsten Abend gehen Mel und ich wieder tanzen. Die Eröffnungs-Party des Swing-HipHop-Fusion-Workshops Xperience findet in den Räumen einer ehemaligen Steglitzer Primark-Filiale statt, die als Kulturzentrum zwischengenutzt wird. Als wir hereinkommen, ziehen Rollschuhfahrer:innen an uns vorbei. Die Räume sind riesig und vereinzelt wird bereits getanzt. Nach einer Weile begrüßt uns der Veranstalter, das Awareness-Team stellt sich vor.

Anschließend präsentieren die teachers eine halbstündige halsbrecherische Choreographie aus HipHop und Lindy-Hop-Elementen, unterlegt von einem speziell dafür gemixten Mash-up. Kein Elektroswing! Übergangslos wird nach dem Applaus für die Performance die Tanzfläche eröffnet. Die Musik gefällt mir. Elektronische Popmusik mit gutem Beat.

Ich hole mir mein Jackett und meinen Schal, weil ich während des Wartens in der kühlen Halle Zug abbekommen habe. Mel ist nicht zu sehen. Ich tanze solo, so wie alle anderen. Es sind überwiegend junge Leute, die an dem Workshop teilnehmen. Sie tanzen in Gruppen im Kreis. Irgendwas findet in dessen Zentrum statt. Immer wieder kreischen alle.

Ich tanze am Rand, spreche kurz mit ein paar Leuten, die ich vom Tanzen kenne, fühle mich aber außen vor. Ich fühle mein Alter. Nach einer Stunde und einem nicht endend wollenden Afrobeat-Stück habe ich genug und suche Mel. Weil es keinen Paartanz gab, hat sie überhaupt nicht getanzt und die Zeit anders genutzt. Im Internet hat sie sich ein Hemd passend zum Frack gekauft. Am nächsten Abend spaziert sie stilgerecht zur Zwanziger-Jahre-Party Bohéme Sauvage. Mit Zylinder!