In Russland wurden mehrere Gesetze verabschiedet, die Behördenwillkür legalisieren

Selfie-Verbot im Schützengraben

In Russland wurden neue Gesetze erlassen, die Justizangestellten und Polizisten mehr Befugnisse verschaffen und Frontsoldaten in der Nutzung ihrer Mobiltelefone einschränken.

Bis Anfang September hat sich die russische Duma in die Sommerferien verabschiedet. In seiner vorletzten ­Arbeitswoche verabschiedete das ­Unterhaus des russischen Parlaments eine ganze Reihe bedenklicher Ge­setze. So sind Gerichtsvollzieher nach Absolvierung einer entsprechenden Schulung von nun an befugt, physische Gewalt anzuwenden; gegebenenfalls dürfen sie sogar scharf schießen, um Personen festzuhalten, die bei einer schweren Straftat ertappt wurden. Damit werden sie faktisch Polizeiangehörigen gleichgestellt. Bis jetzt trugen nur jene Justizmitarbeiter eine Waffe, die für die Sicherung der Ordnung im Gericht zuständig sind.

Russische Soldaten im Ukraine-Krieg wiederum erwartet vermutlich noch häufiger willkürliches Vorgehen ihrer Vorgesetzten. Von nun an können ­Disziplinarstrafen bis zu zehn Tagen Haft ohne gerichtliche Überprüfung verhängt und vollzogen werden. Zwar sind von den Vorschriften nicht gedeckte Strafpraktiken für allerlei Vergehen ohnehin bereits Usus, wie die Anwendung physischer Gewalt; auch kommt es vor, dass Soldaten zur Strafe wochenlang in Erdlöchern ausharren müssen. Doch von nun an können ­militärische Vorgesetzte ihre Untergebenen bei groben Verstößen ganz ­legal ohne Umwege in Gewahrsam nehmen.

2023 waren mindestens 89 Angehörige einer Einheit aus Samara bei einem ukrainischen Raketenangriff auf deren Stützpunkt in Makijiwka bei Donezk ums Leben gekommen. Nach der offiziellen russischen Version gelang es den ukrainischen Streitkräften, die Einheit zu ­lokalisieren, weil dort viele Mobiltelefone genutzt worden waren.

Als solch einen Verstoß stuften es die Abgeordneten vergangene Woche ein, Angaben über den Aufenthaltsort oder die Zuordnung von Personen zu Militäreinheiten zu verbreiten. Sowohl Beiträge im Internet mit solchen Informationen als auch deren Weitergabe an Medien ist untersagt. Es besteht längst ein Verbot der Nutzung von Mobiltelefonen an der Front, was insofern sinnvoll erscheint, als es für den Gegner ein Leichtes ist, diese zu orten. In der Nacht auf den 1. Januar 2023 waren mindestens 89 Angehörige einer Einheit aus Samara bei einem ukrainischen Raketenangriff auf deren Stützpunkt in Makijiwka bei Donezk ums Leben gekommen. Nach der offiziellen russischen Version gelang es den ukrainischen Streitkräften, die Einheit zu ­lokalisieren, weil dort viele Mobiltelefone genutzt worden waren.

Doch ist es üblich, dass Soldaten trotz des Verbots Smartphones verwenden, da die aus der Realität der Kriegführung in der Ukraine gar nicht mehr wegzudenken sind. Soldaten nutzen sie für die Kommunikation und Koordination, darüber hinaus werden ­Karten über Minenfelder erstellt und Kampfdrohnen gesteuert oder es wird die Richtung von Artilleriefeuer korrigiert. Oft stammen die verwendeten Geräte nicht einmal aus Armeebeständen, sondern wurden mittels Geldspenden aus der Bevölkerung angeschafft oder befinden sich schlicht in privatem Besitz der Truppenange­hörigen.

Ohne Smartphones, so der Tenor bekannter russischer Kriegsblogger wie Semjon Pegow, der unter dem Namen seines einflussreichen Telegram-Kanals »War Gonzo« bekannt ist, sei es schlicht unmöglich, in der Kampfzone effektiv zu agieren. Daher ist es kein Wunder, dass die Initiative der Duma bei den Bloggern auf Ablehnung stieß.

Geschöntes Kriegsgeschehen 

Den Abgeordneten dürften die Tücken ihres Verbots durchaus bewusst sein. Ihr Vorgehen zielt wohl eher darauf ab, individuelle Mitteilungen von der Front an die Öffentlichkeit zu unterbinden, denn das Internet ist voll davon. Armeeangehörige, vor allem aber im Rahmen der Teilmobilmachung im September 2022 rekrutierte Soldaten zeigen dort ihren Familien, wie sehr sich die realen Zustände von dem geschönten Kriegsgeschehen unterscheiden, das im Fernsehen gezeigt wird. Aus der Perspektive des Macht­apparats scheint es mehr Gefahren zu bergen, wenn die Kriegsmoral der ­Bevölkerung untergraben zu werden droht, als wenn die kämpfenden Truppen Verluste riskieren aufgrund von Einschränkungen der Kommunikation.

Auch im Bereich der Migration gibt es widersprüchliche neue Maßnahmen. In vielen Branchen wird händeringend nach Arbeitskräften gesucht, die Zahl ausländischer Arbeitnehmer aus ehemaligen Sowjetrepubliken sinkt indes zusehends. Die Gründe dafür sind vielschichtig, aber die russische Regierung trägt entscheidend dazu bei. Für Migranten ist es schwierig, ­ihren Aufenthalt legalisieren zu lassen; auch erlassen immer mehr Regionen Sonderauflagen, die Migranten in mehreren Bereichen eine Beschäftigung untersagt. Der jihadistische Terroranschlag am 22. März in Moskau, für den tadschikische Staatsangehörige verantwortlich sein sollen, hat diese Tendenz weiter verstärkt.

Ausweisungen nach Ermessen der Polizei 

Seit Jahresbeginn wurden dem russischen Innenministerium zufolge rund 65.000 Migranten aus Russland ausgewiesen, gegen 120.000 wurde ein Einreiseverbot verhängt, im gesamten vergangenen Jahr lag diese Zahl bei 170.000. Kürzlich entschied die Duma, dass für Ausweisungen nicht mehr zwingend ein Gerichtsbeschluss vorliegen muss, die Polizei kann sie nun aus eigenem Ermessen durchführen und wird von dieser Befugnis zweifellos Gebrauch machen.

Der Rassismus, der solche Maßnahmen antreibt, trat in einem Video offen zutage, das Wladislaw Judin, der Bürgermeister des Moskauer Vororts Dolgoprudnyj, vergangene Woche von einer Sitzung der dortigen Polizeiverwaltung veröffentlichte. Ein Polizeivertreter verwies auf Vor­gaben des lokalen Polizeidirektors, Wiktor Paukow, »das Moskauer Gebiet aufzuhellen, damit es nicht von Ausländern sozusagen geschwärzt wird«.

Vor über zehn Jahren hatte sich die Duma den Beinamen »wildgewordener Drucker« erarbeitet, weil Abgeordnete in Rekordgeschwindigkeit über wegweisende Gesetze und Verbote abstimmten. Damals existierte zumindest noch so etwas wie eine kritische Öffentlichkeit. Sollten sich irgendwann einmal die Machtverhältnisse in Russland verändern, wäre es eine enorme Herausforderung, diese unzähligen Regelwerke im Einzelnen zu revidieren.