Freitag, 15.09.2023 / 18:22 Uhr

Priester, Puszcza und Piroggen: Topographie des Erinnerns

Von
Peter Korig
Gedenktafel in der Warschauer Altstadt

Geht man durch die Straßen der Warschauer Altstadt, fallen die Plaketten und Gedenktafeln auf, die an vielen Häusern angebracht sind und an historische Ereignisse an diesem Ort und ehemalige Bewohner:innen erinnern

Bild:
Peter Korig

Für die Zeit ihrer Reise nach Polen hatte die Redaktion der Jungle World ihr Quartier in der Warschauer Altstadt aufgeschlagen. Geht man durch deren Straßen, fallen die Plaketten und Gedenktafeln auf, die an vielen Häusern angebracht sind und an historische Ereignisse an diesem Ort und ehemalige Bewohner:innen erinnern.

Schnell fällt auf, dass die meisten dieser Tafeln relativ neu sind und sich der Zeit der deutschen Besatzung Warschaus widmen, vor allem den Kämpfen und Opfern des Warschauer Aufstands, der am 1. August 1944 begonnenen Erhebung gegen die Deutschen, die nach zwei Monaten erbitterter Kämpfe niedergeschlagen worden war und in deren Folge Warschau großflächig zerstört wurde.

Erinnert wird so an die Wohnorte von Kämpfer:innen der Heimatarmee (Armija Krajowa), der polnischen Untergrundarmee, die der Londoner Exilregierung unterstand, an deren konspirative Wohnungen und Druckereien, Gefechtsstände und Barrikaden, Orte von Kämpfen und Massakern der Deutschen, die sich an der Warschauer Bevölkerung rächten. In einigen Teilen der Stadt findet sich alle paar Meter eine entsprechende Tafel.

Die in den vergangenen 15 Jahren geschaffene unübersehbare Präsenz der Erinnerung an den Warschauer Aufstand ist Ausdruck der Geschichtspolitik der Regierungspartei PiS. Für diese bildet der Warschauer Aufstand den Gründungsmythos des heutigen Polens.

Gemeinsam mit dem 1989 errichteten zentralen Denkmal für die Kämpfer:innen des Aufstands entsteht so eine Topographie des Erinnerns, die den Aufstand der Heimatarmee zum allgegenwärtigen Gegenstand des Stadtbilds macht. Ergänzt wird diese durch Plakate, Ausstellungen, Konzerte und regelmäßige Gedenkveranstaltungen. Letztere sind oft auffällig popkulturell gestaltet und richten sich an ein junges Publikum, das vor allem durch die Identifikation mit den jugendlichen Kämpfer:innen des Aufstands angesprochen werden soll.

Die in den vergangenen 15 Jahren geschaffene unübersehbare Präsenz der Erinnerung an den Warschauer Aufstand ist Ausdruck der Geschichtspolitik der Regierungspartei PiS. Für diese bildet der Warschauer Aufstand den Gründungsmythos des heutigen Polens. Der heroische Kampf der Heimatarmee gegen die Deutschen, begonnen mit dem Ziel, die vor den Toren Warschaus stehende Rote Armee als „Herr im eigenen Haus“ zu begrüßen, dient als historische Grundlage für die Begründung eines Geschichtsbilds, das Polen als eigenständige, sich gegenüber den feindlichen Nachbarn im Osten und Westen behauptende Nation zeichnet.

Die PiS setzt sich dabei als alleinigen Sachverwalter des Interesses an einem starken und unabhängigen Polen, für das die Aufständischen gekämpft hätten und gestorben seien und das durch äußere und innere Feinde noch und wieder bedroht sei. Auf diese Weise wird das historische Erinnern zur Legitimationsideologie geglättet, die die erheblichen politischen Widersprüche im Zusammenhang mit dem Aufstand negiert. Genannt sei beispielsweise die Diskussion über das Verhältnis der Heimatarmee zur jüdischen Bevölkerung Warschaus, deren verzweifelter Kampf im Warschauer Ghettoaufstand 1943 weitestgehend ohne Unterstützung des polnischen Untergrundstaats stattfand. Auch die militärische Sinnhaftigkeit des Aufstands der Heimatarmee 1944 ist angesichts der großen Zahl von 150.000 bis 200.000 zivilen Opfern nicht unumstritten. Und dennoch lassen die Warschauer Gedenkzeichen – auch im Bewusstsein ihres propagandistischen Gehalts – erahnen, was deutsche Besatzungsherrschaft in Warschau hieß und sind deswegen durchaus eines Blickes wert.

*

Kampagnenbild

Jetzt noch schnell das Polonaise-Abo bestellen: https://jungle.world/polonaise