Sonntag, 21.10.2018 / 22:55 Uhr

2011: Es war einmal in Ägypten ...

Von
Philipp Thiée

Zwei Bücher von Omar R. Hamilton und John McCain beschäftigen sich mit dem aufhaltbaren Aufstieg des Abdel Fattah Al Sisi  in Ägypten

In seinem Buch "Stadt der Rebellion", dessen englischer Titel "The City Always Wins" die Niederlage der ägyptischen Revolte nach 2011 treffender fasst, setzt sich Omar Robert Hamilton  mit dem Aufstieg von Abdel Fattah Al Sisi auseinander. Als Brite mit ägyptischer Abstammung ist er zum Höhepunkt der Revolte nach Ägypten gereist, um am Sturz der Diktators Mubaraks teil zu haben, wie er zu dem Buch erläutert

In seinem dieses Jahr auch auf deutsch erschienenen autobiographischen Romans versucht Hamilton die Ereignisse vom Sturz Husni Mubaraks über das Zwischenspiel der Herrschaft der Muslimbrüder bis zum Militärputsch Al Sisi`s und dem Scheitern der freiheitlichen Revolte nachzuvollziehen. Mit seinem Roman schafft er es wohl als erster ein Buch zu schreiben, das den Kern der kurze Phase der Revolte in Ägypten - aus dem bislang seltsam wenige Flüchtlinge nach Europa kommen - und der restlichen arabischen Welt treffend beschreibt. Auf wenigen Seiten breitet er in einem atemberaubenden Tempo die zentralen Spannungsfelder aus: Die ägyptische Familie, der religiöse Rollback, die Bedeutung der sozialen Medien, das was man in Europa Klassenfrage nennen würde, um nur die wichtigsten zu nennen.

Sein Buch macht deutlich, dass die angeblich islamische Welt keineswegs nur aus Kultur besteht, sondern aus Menschen die sich mit den Widersprüchen ihrer Umwelt auseinandersetzen. Hamilton beschreibt, wie die revoltierenden Menschen in Ägypten bei dem Versuch scheiterten, sich einen eigenen politischen Raum zu erkämpfen.

 

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Anders als John McCain, der sich in The Restless Wave erinnert, wie er versuchte an der Seite der Revolten des Nahen Ostens zu stehen und die Räume des Politischen gegen die Restauration Al Sissis zu verteidigen, sieht Hamilton in den Muslimbrüdern aber von Beginn an erklärte Gegner des Politischen. Dabei gelingt es Omar Hamilton, die in seinem Roman beschriebenen Figuren als Menschen erscheinen zu lassen. Keiner ist bloß Mittel zum Zweck politischer Bespiegelung.

Von der Leichenhalle vor das Gefängnis

Stadt der Rebellion beginnt in einer Leichenhalle und endet vor einem Gefängnis. Dazwischen wird das Leben einer Gruppe von junger Aktivisten aus der ägyptischen Mittelschicht beschrieben, die sich ursprünglich zusammengeschlossen hatten, um die Verbrechen der Diktatur Husni Mubaraks vor ihren Sturz transparent zu machen. Der Enthusiasmus über den Sturz des Diktators ist schon am Anfang des Buches vorbei und an dieses Ereignis wird nur noch in Rückblenden erinnert. Gehetzt durch Twitternachrichten und die sich überschlagenden Ereignisse fangen die Figuren an, durch die blutige Handlung des Romans zu stolpern. Es wird dem Erzähler immer bewusster, dass der kurze historische Moment, in dem die eigenen Handlungen etwas bewirkt haben, vorüber ist.

Erst belächeln sie den Aktivismus der Kinder, dann fragen sie, ob man sich denn schon über die Hochzeit Gedanken gemacht habe.

Die Zeit läuft wieder rückwärts. Die drei Teile des Buches sind erst mit Morgen - nach Mubarak - dann mit Heute - unter Mursi - und zuletzt mit Gestern - der Herrschaft Al Sisi - überschrieben. Zusehends sucht die Hauptperson in Psychopharmaka halt, da auch seine Romanze zu der, aus dem bürgerlichem Stadtviertel Zamalek stammenden Mariam ischeitert. Schon im November 2011 stehen die Muslimbrüder gemeinsam mit dem Militär, das sich schnell zurückgezogen hat, um als Hüterin des Volkswillen wiederaufzuerstehen, auf den Barrikaden.

Revolution geschenkt

Zusammen erklären sie den Demonstranten, die Revolution sei gewonnen. Der Sprecher des Militärrates bestätigt den Termin zur Machtübergabe. Den Revolutionären dämmert, dass sie einer Phalanx von Gegner gegenüberstehen, die alle eine ganz eigene Agenda haben, die mit Befreiung nichts zu tun hat. Eines aber haben sie gemeinsam: Sie ziehen eine ewige Ordnung der freien Entfaltung des Einzelnen vor. Dabei kann die Muslimbruderschaft ihr Glück kaum fassen, eine Revolution sozusagen vom Militär geschenkt zu bekommen.

Und schon beginnt der Streit um die Märtyrer: Wer am besten um die Toten der Revolution trauern kann und das schönste Photo neben einer Märtyermutter bekommt, hat gewonnen. Während es zu Beginn im Morgen noch die Forderung nach Transparenz ist, die über das Chaos des Internets den Takt der Straße angibt, nehmen zunehmend Verschwörungstheorien und rechthaberische Ordnungsliebe Überhand. Die Akteure werden von Statisten zu Verfolgten.

Heilige Kuh Palästina

Dabei scheint in den Gesprächen zwischen den Gehetzten durch, dass es ihnen ums Ganze in der ägyptischen Diktatur ging - ohne dass sie eine passende Sprache gefunden hätten, mit der sie ihre Welt hätten fassen können. In den kurzen Momenten der Ruhe stoßen sie aber auch in ihren Familien auf die Wurzel des Übels der Region. Ihre privilegierten Familien, die sich eine unpolitische Liberalität leisten können, sind geprägt von den klaren Vorstellungen der ägyptischen Gesellschaft über die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Erst belächeln sie den Aktivismus der Kinder, dann fragen sie, ob man sich denn schon über die Hochzeit Gedanken gemacht habe.

Für die Kinder ist die Heilige Kuh Palästina, das als domestizierte Projektionsfläche der Freiheitswünsche der arabischen Welt herhalten muss, nicht mehr als eine eingerahmte Landkarte im Flur der Eltern. Die ehemals radikalen Posen der angepassten Elterngeneration haben ihre Bedeutung für das aktuelle Aufbegehren verloren. Bei den Überlegungen, was man eigentlich fordern soll, schaffen es die Palästinenser, traditionell die Lieblingsunterdrückten jeder nahöstlichen Diktatur, nicht mehr auf die Liste der drängendsten Probleme.

Doch je mehr Blut auf den Straßen fließt und je mehr sexuelle Gewalt ausbricht, desto müder werden die Aufbegehrenden. Immer stärker wird den Protagonisten bewusst, dass sie aus einer Schicht stammen, die gerade einmal fünf Prozent der Bevölkerung ausmacht. Zuerst sind es die Fußballfans, die die Revolution auf dem Tahirplatz schützten, die den Blutzoll zahlen müssen. Die Wahlen werden mit dem Sieg der Muslimbruderschaft zu einem Sieg des Unpolitschen: Mursi sucht sofort die Gewalt und die Muslimbrüder zeigen, was sie von ihren Häschern in den Jahren, als sie selbst gefoltert wurden, gelernt haben.

Kein Bündnis mit Islamisten

Ähnlich wie es iranische Exilanten, z. B.  Ali Shirasi in ihren Büchern beschreiben, zeigen auch die ägyptischen Islamisten schnell, dass sie nicht die gewalttätigen Verhältnisse umstoßen, sondern sie nur für sich nutzen wollen. Anders als die iranischen Revolutionäre begehen die Ägypter dieser Erzählung allerdings nicht den Fehler, sich mit den Islamisten zu verbünden, was sie nicht vorm Scheitern schützt. Doch auch die Muslimbrüder verstehen ihre Zeit nicht. Dem Militär gelingt es eine revolutionäre Bewegung aus der Retorte zu stampfen und zu gleich die Revolution selbst als amerikanische Einmischung zu denunzieren.

Und wie lange wird es dauern bis sie den Verräter in ihrer Mitte entdecken?

Das Ganze endet mit einem Massaker an den Anhängern der Muslimbrüder durch das Militär. Über 900 Tote liegen im Juli 2013 auf den Straßen Kairos und markieren das Ende. Das Militär schlägt wahllos zu. Auch die Kinder der Muslimbrüder werden dahingeschlachtet. Hamiltons Alterego streift im Wissen durch die Straßen Kairos, dass er und die Seinen die nächsten sind, die die Gewalt treffen wird. Auf Plakaten posiert Al Sissi mit Löwen und ägyptischen Fahnen. Und genau wie John McCain, der versuchte, das sich androhende Blutbad als Unterhändler zu verhindern, muss sich auch Omar Hamilton zur gleichen Zeit die Frage stellen, wer dieser Al Sissi eigentlich ist:

"Ein Mann, geboren aus der Krise, der Angst und der Kurzsichtigkeit, ein Produkt der Mittelmäßigkeit auf höchster Ebene. Mussolini hatte immerhin ein nach vorn gerecktes Kinn, an dem man seine Wäsche hätte aufhängen können, aber Sisi, dieser mopsige Bürokrat mit seiner Stimme, die am besten in einer Bingo-Halle aufgehoben wäre - ist das alles was wir kriegen? Die Faschisten lächeln mich an. Hinter Sisi`s Totenmaske bin ich sicher. Stumm gehe ich zwischen ihnen hindurch zum Tahrir. Überall um mich herum strecken Männer die Daumen hoch - 900 Tote an einem Tag! - und zerkratzen mit ihren Victoryzeichen den Himmel - Kriegsrecht wieder eingeführt! - und ich gehe weiter und bin umgeben von Botox-Lippen".

Er fragt sich: "Und wie lange wird es dauern bis sie den Verräter in ihrer Mitte entdecken?" Es dauert nicht lange und der raum- und kulturfremde Mischling muss sich in die USA zurückziehen. Dort erklärt das aufgeklärte Publikum ihm in der U-Bahn, dass Demokratie und Freiheit für diese Araber wirklich nichts sind.

Gelungene Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie über ihren Autor hinausstrahlt. So ist es auch mit Stadt der Rebellion. Denn das back to normal ist 2018 bei der Betrachtung des den Nahen Ostens wieder eingezogen. Die Meinung, dass die alles entscheidende Frage sei, wessen Hauptstadt Jerusalem denn jetzt eigentlich wirklich alles sei, beschäftigt heute nicht nur den Nahost Experten Donald Trump sondern auch wieder Omar Hamilton . Dass die Eltern die Karte Palästinas in einen Rahmen verbannt hatten, erscheint nun, da man nichts anderes mehr zu tun vermag, wohl wieder als Verrat.

 

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Diesem Irrtum unterlag der ebenfalls gescheiterte John McCain nicht, als er während des so genannten Arabischen Frühlings nach Ägypten und Libyen reiste. In The Restless Wave gibt er über mehrere Kapitel Zeugnis ab, dass die Aufbegehrenden Ägyptens durchaus zurecht den USA skeptisch gegenüberstanden, da diese in der Tat aus strategischen Überlegungen Diktatoren unterstützten. Doch McCain stellt sich unverbrüchlich gegen Gewaltherrschaft, im Wissen, dass er sich in einem Paradoxon bürgerlichen Antifaschismus bewegt. Und so nimmt McCain Stellung nicht für die Muslimbrüder, sondern für einen politischen Staat und gegen den Faschismus. Er setzt sich konkret für die politischen Gefangenen Ägyptens ein und erreicht mehr, als die 2011 unter westlichen Linken massenhaft aus dem Boden geschossenen Solidaritätsgruppen.

Wie Hamilton erkennt auch McCain, dass das Massaker an 900 Angehörigen der Muslimbrüder, der Höhepunkt und Sieg der Konterrevolution und militaristischen Restauration war. An der Reaktion des ägyptischen Staates gegen McCain, als dessen Tod bekannt gegeben wurde, zeigt sich eine allzu bekannte Strategie: So wird in Ägypten heute die Parole ausgegeben, dass ein John McCain eigentlich schlimmer als der Muslimbruder Erdogan sei. Die ägyptischen Nachrufe auf John McCain sind ein Statement gegen Humanismus, so wie der von John McCain verfasste Nachruf auf einen amerikanischen Gewerkschafter und Kommunisten eine Stellungnahme gegen den Faschismus ist.

McCain und Hamilton versuchten 2011 beide den Kulturalismus im Nahen Osten zu überwinden und beide wollten Bedingungen schaffen, in denen Politik die Macht begrenzt. Beide versuchten dies vor dem Hintergrund ihrer eigenen Begrenztheit. Man sollte die Bücher von beiden lesen, wenn man verstehen will, welche Grenzen 2011 in der arabischen Welt für kurze Zeit überwunden wurden.

John McCain The Restess Wave Englische Ausgabe: Simon & Schuster 2018

Omar Rober Hamilton Stadt der Rebellion Deutsche Ausgabe: Wagenbach 2018