Dienstag, 02.04.2019 / 12:55 Uhr

"Den Tag noch erleben": Zum Rücktritt des algerischen Präsidenten

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud ist eine ganz besondere Stimme aus der arabischen Welt. Erst kürzlich veröffentlichte er einen Essay, in dem er die arabische Welt scharf daür kritisierte, immer nur den Westen für die eigene Misere verantwortlich zu machen.

Am Tag, an dem der algerische Präsident seinen Rücktritt ankündigt, veröffentlicht die Welt ein Interview mit ihm, in dem er über die Protestbewegung in Algerien, seine Hoffnung und Ängste für die Zukunft spricht:

Daoud: In Jahrzehnten der Diktatur ist die Opposition in Algerien praktisch vernichtet worden. Sie braucht Zeit, um sich neu zu organisieren, eigene Netzwerke aufzubauen, Mitglieder zu rekrutieren und wirklich repräsentativ sein zu können. Sie ist wie eine Gefangene der Zeit und der zu späten Entscheidungen. Aber haben die Algerier wirklich eine Wahl? Sollte man sehr kurze, von der Verfassung vorgesehene Verzögerungen respektieren oder dem Unbekannten Tür und Tor öffnen und dabei riskieren, dass der nationale Konsens platzt? Die Algerier müssen weiterhin Druck auf die Armee ausüben, indem sie einen Regimewechsel fordern und dabei schrittweise, aber stetig auf eine Demokratie zugehen, die man nicht an einem einzigen Tag erschaffen kann. (...) Noch vor wenigen Wochen hätte ich nie gedacht, dass ich diesen Moment eines Tages erleben würde. Das weckt eine Menge Hoffnung. Jetzt ist es endlich das algerische Volk selbst, das über die Dinge entscheidet und kein schwarzes Kabinett in Algier. Die Straße wurde zurückerobert. Ob ich Angst habe? Natürlich. Niemand kann die Zukunft vorhersehen. Wir haben das Szenario Libyens und Syriens vermeiden können und müssen jetzt auch das ägyptische Szenario verhindern, um dann zum tunesischen Szenario zu gelangen. Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Revolutionen, die eines Tages schiefgehen, deshalb nicht auch prinzipiell schlecht sein müssen.

WELT: Gibt es das Risiko, dass die Islamisten siegen?

Das Risiko dafür besteht. Der Islamismus ist eine Familie, die über bedeutende Mittel und Netzwerke verfügt. Und eine Menge Erfahrung: Sie hat leider die Angewohnheit, Revolutionen zu stehlen. Doch es gibt auch ermutigende Faktoren. Die Islamisten erscheinen mir nicht mehr so stark und so gut strukturiert, wie noch in den 90er-Jahren. Der Islamismus ist in ein Dutzend verschiedene Einzelgruppen unterteilt, er ist zerbröckelt und mehr oder weniger zum Konservatismus der Gesellschaft reduziert worden. Hier spielt vor allem das Trauma des Bürgerkriegs eine große Rolle im Unterbewusstsein der Menschen, es wirkt wie ein Sicherheitsschloss. Ich will damit nicht sagen, dass die Islamisten verloren hätten. Aber es liegt an uns, ihnen zu widerstehen. Der Sieg der Islamisten ist kein unvermeidbares Schicksal. Es ist eine politische Macht, die man bekämpfen muss.